Protocol of the Session on June 9, 2006

Wir werden mit Sicherheit noch ausreichend Gelegenheit dazu haben, darüber zu streiten. Ich will mich deshalb heute auf die Frage beschränken, die derzeit - gelinde gesagt - die Gemüter erhitzt, das ist die Frage der Auskömmlichkeit der Regelsätze, und zwar generell.

Die Sozialreform des Jahres 2005 ist gründlich in die Hose gegangen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

So lässt sich, wie gemeinhin in der Debatte zu beobachten ist, aus sehr verschiedenen Begründungen und Zusammenhängen heraus argumentieren. Das Argument, das am lautesten und vor allen Dingen weithin allein vorgetragen wird, ist das Argument der Kosten, die tatsächlich oder vermeintlich aus dem Ruder gelaufen seien. Ich kann diesbezüglich keine Bewertung vornehmen. Dazu fehlen mir Daten und Fakten und vor allem im Moment auch Zeit; das ist hier auch nicht das Thema.

Um den Ärger zu kanalisieren, wird gegenwärtig permanent der Eindruck erweckt, Leistungsempfänger wüssten schlichtweg am Ende des Monats nicht wohin mit ihrer ganzen Kohle. Das gipfelt im Blödzeitungsniveau der eingängigen Sonntagsabendzeitung: „Arm durch Arbeit - Reich durch Hartz IV“. Überhaupt seien die fehlenden Anreize das Hauptproblem. Das, meine Damen und Herren, bedeutet genau genommen nichts anderes, als dass die meisten nur zu faul sind und ordentlich Druck kriegen müssten.

Die Missbrauchsquote wird von Talkshow zu Talkshow höher. Etwas spitz formuliert: Der Pensionär Clement schätzt sie derzeit auf 20 %. Vor einem halben Jahr waren das noch 13 bis 15 %. Belastbare Daten scheinen in der Politik offenbar ohnehin für verzichtbar gehalten zu werden.

Nebenbei gesagt, hat die Bundesanstalt 26 Millionen € zu viel gewährte Leistungen entdeckt. Das sind 0,4 %! Es geht also um 0,4 % der im ersten Quartal 2006 überhaupt ausgezahlten Summe. Nur zum Vergleich: Finanzminister Eichel hat in seiner Amtszeit versucht, 5 Milliarden € hinterzogene Kapitalsteuer, von Deutschen im Ausland angelegt, zurück nach Deutschland zu holen. - So viel zum Thema Missbrauch.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Ich möchte gern einige vorsichtige Einwände zum Thema Reichtum bei den Regelsätzen erheben, um die Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Problem Nr. 1 ist die Berechnung des Regelsatzes generell: Die Grundlage für die Berechnung ist die Einkommens- und Verbraucherstichprobe. Das heißt, das Ausgabeverhalten der untersten 20 % auf der Einkommensskala wird zum Maß aller Dinge und als Grundlage zur Berechnung des Regelsatzes genommen.

Das Problem ist aber, meine Damen und Herren, dass sich deren Einkommen seit Jahren so gut wie nicht verändert haben. Wenn ich diese Gruppe als Referenzgruppe nehme, ohne die Preissteigerung hinzuzurechnen - die Preissteigerung wird nicht berücksichtigt -, habe ich schlicht und ergreifend einen Zirkelschluss. Dann können sich die Regelsätze nämlich nicht erhöhen. Das Problem ist aber, dass sich die Leute für das gleiche Geld immer weniger kaufen können.

Problem Nr. 2: Die Regelsatzberechnungen des Jahres 2005 - im Übrigen auf der Basis der Einkommens- und Verbraucherstichprobe aus dem Jahr 1998 erhoben - ist sowieso auf außerordentlich abenteuerliche Weise zustande gekommen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der erste Entwurf lag vor, als die Gesundheitsreform und ihre Zuzahlungen - zumindest öffentlich - noch nicht in Rede standen. Der nächste Entwurf hat die Zuzahlungen dann berücksichtigt, meine Damen und Herren, aber die Höhe - man höre und staune - ist in etwa die gleiche geblieben. Das hat man hinbekommen, indem man einfach die Binnenverhältnisse bei der Berechnung des Re

gelsatzes umverteilt hat. Die Praxisgebühr blieb völlig unberücksichtigt; denn die hat sich bekanntermaßen die CDU erst im Laufe der Verhandlungen ausgedacht.

Seitdem ist der Preisindex gerade im Bereich der Gesundheitspflege am stärksten gestiegen. An den Preis ist der Regelsatz gar nicht gekoppelt. Der ist zugegebenermaßen - das muss man der Wahrheit halber sagen - nicht in allen Bereichen gestiegen, im Saldo aber schon. Das ist ein Grund mehr zu sagen, die Regelsätze müssen an die Preisentwicklung gekoppelt werden.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Problem Nr. 3 ist die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes auf 19 %. Dies ist auch dem Änderungsantrag der FDP-Fraktion zu entnehmen.

Ich kann mich erinnern: Vor ungefähr einem Jahr gab es eine Anhörung in unserer Fraktion zu dem Thema Hartz IV. Der Kollege Haseloff war dort dankenswerterweise Gast. Er gab dort bekannt: Die Mehrwertsteuer betrifft die Leute, die die Regelsätze bekommen, überhaupt nicht. Nun sitzen die Leute dort und sagen: Ja, er hat Recht. Denn sie haben die Gesetze nicht in der Tasche, um zu sehen, wie sich das Ganze verhält, nämlich wer den ermäßigten Mehrwertsteuersatz bekommt oder wer den vollen Mehrwertsteuersatz bezahlen muss.

Meine Damen und Herren! Recht hat er eben nicht. Sehr wohl müssen auch Empfänger von Regelleistungen den vollen Mehrwertsteuersatz bei Bekleidung und Schuhen - Abteilung 03, wen es interessiert -, bei Einrichtungsgegenständen, bei Haushaltsausrüstung, bei der Gesundheitspflege und zum großen Teil auch beim Verkehr zahlen.

Es sei nur darauf hingewiesen: Wir haben uns in diesem Hause am Ende der letzten Legislaturperiode darauf geeinigt, dass es ein großes Problem für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus diesen Familien ist, den Schülerverkehr zu nutzen. Mit 26,07 € kann man sich in den meisten Landkreisen keine Monatskarte leisten. Das ist nun einmal der Fakt.

Meine Damen und Herren! Das Problematischste ist, dass die Ausgaben für Bildung bei der Bemessung des Regelsatzes völlig unberücksichtigt bleiben - null. An der Stelle würde ich dann doch grundsätzlich werden: Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft wird Wissen die Ressource der nächsten Jahre für die Menschen, für die Wirtschaft und für den Arbeitsmarkt. Das heißt, der Zugang dazu wird darüber entscheiden, wie Kinder und Jugendliche ihren Lebensentwurf gestalten. Das heißt genau genommen, die Bildungspolitik wird das Kerngeschäft der Sozialpolitik in diesem Lande werden, und das in absehbarer Zeit. Wenn große Teile der Kinder und Jugendlichen immer weiter von den Bildungsangeboten abgekoppelt werden, meine Damen und Herren, dann schafft man eine Verlierergeneration.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Soziales Abgehängt-Sein wird sozial vererbt; denn Bildung bietet immer noch die größten Potenziale, aus armutsträchtigen Lebenslagen herauszukommen.

Aber, meine Damen und Herren, Bildung ist schon lange nicht mehr kostenfrei. Ich nenne nur die Gebühren für Schulbücher hierzulande, den Zugang zu Computer und Internet - dafür stehen im Regelsatz derzeit 2 € im Monat zur Verfügung -, Klassenfahrten, Bibliotheken, Kurse an Volkshochschulen usw. usf. Überall, wo Bildung zu

haben ist, kostet es Geld. An dieser Stelle könnte man dann tatsächlich mal fordern und fördern, aber das geht eben nicht ohne Knete.

Zuletzt würde ich gern noch ein Wort zu der Regionalisierung sagen. Ja, es ist wahr, die Lebensbedingungen in verschiedenen Teilen unseres Landes sind unterschiedlich. Genau genommen könnte man gegen die Regionalisierung der Regelsätze gar nichts haben. Aber, meine Damen und Herren, das ist eine unehrliche Debatte; denn genau genommen geht es darum, wer darf zuerst in welchem Land und ist legitimiert, den Regelsatz zu kürzen. Das will ich auch ganz klar sagen: Da finde ich die Koalitionen zwischen SPD und CDU, die sich hier im Land auftun, sehr gewöhnungsbedürftig.

(Herr Schwenke, CDU: Ach!)

Ausgesprochen problematisch wäre es, Betroffene, die von dem Regelsatz leben müssen, künftig in zwei Klassen zu teilen.

Das Land hat für die sozialen Sicherungssysteme, zum Beispiel für den Regelsatz im SGB XII - Sozialhilfe -, nur eine geringe Zuständigkeit. Ich denke, wir sollten uns deshalb dazu bekennen, die Empfehlung der Bundesregierung zu übernehmen. Das Schwierige dabei wird sein, dass das Land auf der einen Seite die Regelsatzverordnung zwar anpassen kann, aber auf der anderen Seite die Kommunen zahlen müssen.

Ich denke, das Land ist hinsichtlich des Konnexitätsprinzips sehr wohl in der Pflicht, den vertikalen Finanzausgleich auf seine Auskömmlichkeit hin zu prüfen. Das geht natürlich erst im Herbst dieses Jahres. Im Herbst werden uns zum Jahr 2005 die ersten Zahlen des Statistischen Landesamtes vorliegen. Das heißt, wir werden sehr wohl als Haushaltsgesetzgeber im Rahmen der Haushaltsberatungen darüber entscheiden müssen, ob wir uns mit einer Summe X an diesen Zahlungen, an der Erhöhung beteiligen.

Deshalb schlage ich Ihnen vor, über den Antrag im Sozialausschuss zu beraten, und zwar darüber, welchen Umfang der Personenkreis hat, welchen Umfang die finanziellen Mehraufwendungen haben werden, um dann gemeinsam in den Haushaltsberatungen eine Entscheidung zu treffen. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Frau Bull, herzlichen Dank für Ihre Ausführungen. - Die Landesregierung hat um das Wort gebeten. Frau Dr. Kuppe, Sie haben das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen Abgeordneten! Der vorliegende Antrag der Fraktion der Linkspartei.PDS betrifft die Anpassung der Sozialhilferegelsätze an die Regelsätze, die Leistungsberechtigte im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten.

Die Linkspartei.PDS setzt mit dem Antrag allerdings keine neuen inhaltlichen Akzente. Die Diskussion zwischen Bund und Ländern über eine Ost-West-Angleichung der Sozialhilfesätze hat bereits Fahrt aufgenommen.

Wie Sie wissen, konnte bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende erreicht werden, dass die bisherige Regel

satzabsenkung für die neuen Bundesländer zum 1. Juli 2006 beseitigt wird. Dann erhalten Leistungsberechtigte nach dem Sozialgesetzbuch II, und zwar im gesamten Bundesgebiet, Leistungen zum Lebensunterhalt nach einheitlichen Regelsätzen.

Frau Ministerin Kuppe, es gibt eine Frage von Frau Bull. Möchten Sie diese beantworten?

Ja, bitte.

Sie hatten sich gemeldet, jetzt müssen Sie auch fragen.

(Heiterkeit)

Gern. Man ist nur gewöhnt, dies immer am Ende der Rede zu tun. - Sie sprachen die inhaltliche Ausrichtung an. Dazu würde gern einen Vorschlag Ihrer Partei aufgreifen: Wie steht die Landesregierung zu dem Vorschlag des stellvertretenen SPD-Vorsitzenden, die Regelsätze zu regionalisieren?

Die Regionalisierung der Regelsätze ist ein Thema, das aufgegriffen werden muss, weil die Mauer, die sowohl beim SGB II als auch beim SGB XII bisher zwischen Ost und West bestand, ungerechtfertigt ist. Das besagen viele Studien. Es gibt auch im Westgebiet etliche regionale Unterschiede und es gibt im Ostgebiet regionale Unterschiede.

Wenn man überlegt, ob die regionalen Unterschiede überhaupt in Berechnungen Berücksichtigung finden sollen, dann muss man über ganz Deutschland ein solches regionales Betrachtungsnetz ziehen. Das ist bisher nicht erfolgt. Deswegen haben wir gesagt: Wenn, dann über ganz Deutschland und nicht die Mauer zwischen Ost und West bestehen lassen. Die muss eingerissen werden, und zwar in allen Bereichen.

(Zustimmung von Frau Budde, SPD, und von Herrn Bischof, SPD)

Genau diesem Ziel dient die Angleichung im SGB XII. Als Folge der Regelsatzanpassung bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende drohte gewissermaßen ein neues Ungleichgewicht im Verhältnis zu den Menschen, die Leistungen der Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch XII erhalten. Hier war zunächst nicht auszuschließen, dass es tatsächlich bei einer Ungleichbehandlung bleibt.

Ich glaube, von diesem Geist ist der Antrag der Linkspartei.PDS geprägt. Das wird aber nicht der Fall sein. Das sage ich hier ganz deutlich.

Bislang beruhen die Regelsätze der Sozialhilfe noch auf den Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Jahres 1998. Nach den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales Mitte Mai bekannt gegebenen Ergebnissen der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Jahres 2003 ist

aufgrund eines veränderten Ausgabeverhaltens in den einzelnen Abteilungen eine unterschiedliche Gewichtung vorgenommen worden, also eine Gewichtung der unterschiedlichen Betrachtung bei Waren- und Dienstleistungsgruppen. Das wird seinen Niederschlag in der Neuordnung der Regelsätze der Sozialhilfe finden.

Ich will noch einmal betonen, dass es das Ziel einer Regelsatzbemessung in der Sozialhilfe ist, den Hilfeempfängerinnen und -empfängern nach dem Sozialgesetzbuch XII die notwendigen Mittel in die Hand zu geben, um das soziokulturelle Existenzminimum abzusichern und damit auch ein menschwürdiges Leben führen zu können.

Nach der Auswertung der EVS 2003 ist eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, dass es erstmals eine einheitliche gesamtdeutsche Regelsatzbemessung in Höhe von 345 € geben wird. Von der Differenzierung Ost/West wird also abgegangen und zugleich wird in der Leistungshöhe der Grundsatz der Parallelität zum Sozialgesetzbuch II hergestellt. Damit wird es zu keiner Ungleichbehandlung von Empfängerinnen und Empfängern nach dem Sozialgesetzbuch II, also von Arbeitslosengeld II, und Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern kommen. Das finde ich richtig.

Ich weise aber auch darauf hin, dass die Sozialhilfesätze de facto nicht von den Ländern festgelegt werden. Das sage ich auch in die Richtung der FDP. Die Sätze beruhen auf den Vorgaben des Sozialgesetzbuches XII und der entsprechenden Regelsatzverordnung des Bundes. Regionale Abweichungen gibt es allein in Bayern, und zwar auf der Grundlage einer gesetzlich vorgeschriebenen, sehr aufwendigen und regional nicht überall machbaren Datenerhebung.