Protocol of the Session on October 12, 2007

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 28. Sitzung des Landtages. Ich begrüße Sie dazu herzlich. Nehmen Sie bitte Platz. Ich bitte darum, die Gespräche einzustellen.

Ich stelle fest, dass das Hohe Haus beschlussfähig ist.

Meine Damen und Herren! Ich will daran erinnern, dass Ministerpräsident Herr Professor Dr. Böhmer, Ministerin Frau Professor Dr. Kolb und Minister Herr Dr. Daehre - das hatten wir bereits gestern mitgeteilt - heute nicht anwesend sein werden. Ministerin Frau Wernicke ist für die heutige Sitzung ab ca. 11 Uhr entschuldigt.

Meine Damen und Herren! Wir beginnen mit dem Tagesordnungspunkt 2. Anschließend wird der Tagesordnungspunkt 14 behandelt. Ich mache darauf aufmerksam, dass wir bereits gestern die Tagesordnungspunkte 18 und 25 erledigt haben, sodass wir in der heutigen Beratung zügig vorankommen werden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Aktuelle Debatte

Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland

Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 5/909

Im Ältestenrat haben wir uns auf eine Redezeit von zehn Minuten je Fraktion verständigt. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Die Reihenfolge der Debattenbeiträge lautet wie folgt: SPD, FDP, CDU und DIE LINKE. Die Einbringung erfolgt zunächst durch den Antragsteller, die SPD. Frau Budde, Sie haben das Wort. Anschließend wird die Landesregierung das Wort nehmen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Politik gibt es manchmal Ideen und Themen, die wie Gummi sind. Sie werden so lange traktiert und gedehnt, bis sie ausgeleiert oder tot oder bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind und mit dem Ausgangsvorschlag nichts mehr gemein haben. Es gibt aber auch Themen in der Politik, die sind - ich möchte es einmal so ausdrücken - wie eine gute Soljanka. Diese wird immer pikanter, je länger man sie kochen lässt, je öfter man sie warm macht und je öfter man sie nachwürzt.

Ein solches Thema, nämlich das zuletzt Genannte, ist das Thema Mindestlohn. Deshalb wird es Sie nicht überraschen, dass wir das Thema Mindestlohn heute auf die Tagesordnung gesetzt haben. Aus unserer Sicht gibt es einen Anlass, darüber zu sprechen. Dieser Anlass ist die Diskussion über die Einführung von Mindestlöhnen im Bereich der Briefdienstleistungen.

Einen Grund gibt es ohnehin. Denn die gesellschaftlichen Umstände, die die Einführung von Mindestlöhnen dringend notwendig machen, bestehen nach wie vor. Es gibt in diesem Lande Menschen, die von ihrer Hände oder ihres Kopfes Arbeit nicht leben können, obwohl sie den ganzen Tag arbeiten. Eine solche Situation war im

mer falsch, ist falsch und wird, sofern wir es nicht ändern, auch falsch bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen sage ich ganz deutlich: Wir brauchen Mindestlöhne, und zwar flächendeckend.

Die Ausgangslage ist bekannt. Es gibt bundesweit ungefähr 480 000 Menschen, die einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen und dafür einen Lohn erhalten, der nicht zum Leben ausreicht. Sie sind auf zusätzliche aufstockende Sozialleistungen angewiesen. In Sachsen-Anhalt sind es rund 30 000 vollbeschäftigte Personen, die zusätzliche Leistungen im Rahmen der Grundsicherung brauchen. Die Dunkelziffer dabei ist hoch. Das sind nur die Zahlen, die wir kennen. Ich behaupte an dieser Stelle, dass es vielleicht noch einmal so viele Menschen sind, die aus falsch verstandener Scham - ich will es einmal so nennen; denn sie haben einen Anspruch darauf - die Leistung nicht einklagen, weil sie nicht vom Staat alimentiert werden wollen.

Unser Ziel ist klar. Wir wollen nicht, dass bei den Löhnen nach unten alles offen ist. Wir wollen auch keinen dauerhaften flächendeckenden Niedriglohnsektor, den wir staatlich subventionieren müssen.

(Beifall bei der SPD)

Beim Stichwort „Subventionieren“ will ich sagen, dass ich es ein wenig scheinheilig finde, dass gerade diejenigen, die immer für den Abbau von Subventionen streiten, es an dieser Stelle hinnehmen wollen, dass in diesem Bereich dauerhaft subventioniert wird.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von Herrn Prof. Dr. Pa- qué, FDP)

- Es reagieren ja die Richtigen, Herr Paqué.

Auf der Bundesebene wird derzeit über die Einführung von Mindestlöhnen bei Briefdienstleistungen zum 1. Januar 2008 diskutiert. Das Bundeskabinett hat eine entsprechende Novelle zum Arbeitnehmerentsendegesetz bereits im September verabschiedet. Im Moment hängt eine Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag an den Einwänden der CDU/CSU.

Sie kennen die Argumente aus der Presse. Ich halte sie jedoch zum größten Teil für vorgeschoben. Aus meiner Sicht ist es zudem ein Spiel auf Zeit. Denn dadurch gerät auch die Zeitschiene für eine weitere Novellierung des Arbeitnehmerentsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes, die die Aufnahme weiterer Branchen in eine Mindestlohnregelung ermöglicht, in Gefahr. Das ist aus meiner Sicht eine Politik gegen die Menschen. Sie sollten sich davon überzeugen lassen, dass es hierbei schneller gehen kann.

Ich will im Übrigen keinen Hehl daraus machen, dass alle Vereinbarungen der großen Koalition in Berlin aus meiner Sicht nur Stückwerk sind. Sie sind Schritte in die richtige Richtung, aber eben leider auch nicht mehr. Am Ende des Weges muss der flächendeckende Mindestlohn in ganz Deutschland nach dem Vorbild anderer Länder stehen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von der Regie- rungsbank)

Natürlich weiß ich, welche zum Teil auch reflexartigen Einwände in der anschließenden Debatte kommen wer

den. Wir haben das hier schon oft debattiert. Zum Beispiel wird vorgebracht, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosteten. Aber wenn wir uns die verschiedenen Studien, die es inzwischen zu diesem Thema gibt, angucken, dann muss ich Sie, die diese Einwände bringen, korrigieren. Die Einführung von Mindestlöhnen hat keine negativen Effekte auf die Zahl der Arbeitsplätze.

Inzwischen ist es auch so, dass sich bei US-Ökonomen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Lohnuntergrenzen der Beschäftigung nicht schaden. Moderate Steigerungen der Mindestlöhne haben nur sehr geringe oder gar keine Auswirkungen auf die Beschäftigung. Das können Sie in der Studie mit dem Titel „Märchen und Wahrheit. Die Ökonomie des Mindestlohns“ nachlesen. Die beiden Ökonomen, die diese Studie erarbeitet haben, haben das Problem am Beispiel der Lohnuntergrenzen in amerikanischen Fastfood-Ketten untersucht und mit einer sehr kritischen Bestandsaufnahme der gängigen Auffassungen zum Thema Mindestlohn verbunden. Sie kommen darin zu eindeutigen Ergebnissen, die noch dazu auf eine große positive Resonanz in der Fachwelt gestoßen sind.

Auch die Erfahrungen in Großbritannien und Irland zeigen: Selbst die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns schmälert die Zahl der Beschäftigten nicht. Darum ist eines aus unserer Sicht ganz klar erwiesen: Mindestlöhne schaden dem Arbeitsmarkt nicht; sie kosten keine Arbeitsplätze.

Ebenso klar ist auch etwas anderes: Bei Mindestlöhnen geht es nicht primär um die Frage der Schaffung von Arbeitsplätzen. Ich möchte das deshalb so deutlich sagen, weil oftmals darüber diskutiert wird, dieses Instrument schaffe keine Arbeitsplätze.

(Herr Gürth, CDU: Es vernichtet Arbeitsplätze!)

Dieses Instrument schafft keine Arbeitsplätze. Es geht um etwas anderes, nämlich um die Verhinderung von Lohndumping

(Beifall bei der SPD)

und um den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor Ausbeutung. Es geht aber auch um den Schutz des einheimischen Mittelstandes vor Mitbewerbern, die einen ruinösen Wettbewerb mit Billiglöhnen betreiben. Auch das ist ein Element, das wir berücksichtigen müssen.

Wir müssen in Deutschland endlich unsere Hausaufgaben machen, und zwar bevor uns die Ereignisse auf europäischer Ebene überrollen. Ich meine die EU-Dienstleistungsrichtlinie und die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die spätestens 2011 kommen wird. Beim Thema Mindestlohn geht es letztendlich vor allem um eine angemessene Bezahlung für eine Arbeit in Würde.

Auf das Risiko hin, dass ich das, was ich eigentlich noch ausführen wollte, in der mir zur Verfügung stehenden Redezeit nicht mehr sagen kann, möchte ich auf ein Argument von gestern eingehen, nämlich ein Mindestlohn würde einer offeneren Gesellschaft schaden. Ich will Ihnen ganz deutlich sagen, was ich befürchte, was passiert, wenn wir uns hier nicht einigen: Dann wird es das, was es schon heute gibt, nämlich den modernen und den - ich will es ganz zugespitzt sagen - doppelt freien Lohnarbeiter in großen Massen geben, genau so wie er einmal charakterisiert worden ist, nur dass er heute in einer modernen Gesellschaft, in der die Existenzgrund

lage gesichert wird und in der man eine Wohnung und genug zu essen haben kann, nicht mehr verhungert. Trotzdem ist es das gleiche Prinzip im Verhältnis zu anderen, die in dieser Gesellschaft leben.

Die Menschen, die in diesem Niedriglohnsektor arbeiten, können sich heute entscheiden: Nehme ich eine Arbeit zu miesen Bedingungen an, bei der ich meine Arbeitnehmerrechte vergessen kann, die gesetzlich zwar vorhanden sind, die ich im Grunde aber nicht einklagen kann, weil ich Angst haben muss, auch noch diesen niedrigen Lohn zu verlieren? Dann kann ich mir überlegen, ob ich noch zum Staat betteln gehe oder nicht. Sie sind inzwischen wieder doppelt frei: von Rechten und von ausreichender Bezahlung. Das kann es nicht sein. Ich finde, das dürfen wir uns in unserer Gesellschaft nicht leisten.

(Beifall bei der SPD)

Ich lasse das, was ich zum Thema des bedingungslosen Grundeinkommens noch sagen wollte, weg. Wir haben mit Sicherheit noch Gelegenheit dazu, dieses Konzept einmal zu diskutieren.

Ich möchte noch einmal deutlich sagen: Immer mehr Menschen wollen einen flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland. Die „ZEIT“ hat im Sommer im Zuge der Debatte um den Linksruck in der Gesellschaft die Frage gestellt - nicht: Sind Sie für oder gegen den Frieden?, sondern -: Sind Sie für oder gegen die Einführung von Mindestlöhnen? - Die Umfrage hat ergeben, dass 68 % der Bevölkerung einen Mindestlohn befürworten. Bei den Anhängern der SPD sind des 76%, bei den LINKEN sind es 90 %, bei der CDU/CSU sind es 52 % - immerhin die qualifizierte Mehrheit - und bei den Grünen 83 %.

Meine Damen und Herren von der FDP, auch Sie kennen sicherlich die Zahlen. Bei Ihnen stimmen 68 % zu. Das ist sogar Verfassungsmehrheit. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Zeit zum Handeln reif ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe gestern gesagt, dem Souverän gefällt die Performance nicht. Dazu gehört zum einen das Handeln und zum anderen, so wie es gesehen und verkauft wird. Darum möchte ich heute zum Schluss sagen: Wenn wir das offensichtlich Richtige nicht tun, ist es kein Wunder, wenn Politik Vertrauen einbüßt. Deshalb appelliere ich noch einmal: Lassen Sie uns handeln! Es wäre gut für die offene solidarische Gesellschaft, die wir alle wollen, und für die demokratische Kultur in diesem Land. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Budde, für die Einbringung. - Jetzt erteile ich Herrn Minister Dr. Haseloff das Wort. Bitte schön, Herr Minister.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Budde, ich teile Ihre Auffassung zumindest insoweit, als auch ich der Meinung bin, dass es für den Einzelnen sicherlich günstiger und von der sozialen Seite her besser wäre, seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ohne staatliche Ergänzungsleistungen zu bestreiten. Ich stimme Ihnen auch

darin zu, wenn Sie sagen, es gibt eine Reihe von Unternehmen, die staatliche Lohnersatzleistungen ausnutzen, um den Lohn weiter zu drücken. Worin ich mit Ihnen aber nicht übereinstimme, ist der Ansatz, die von Ihnen beschriebenen Problematiken zu lösen.

Zwei grundlegende Dinge trennen uns inhaltlich, wobei diese Trennung durchaus dazu führen kann, dass man in der Zukunft produktiv für eine vernünftige Lösung kämpft: Da wäre zum einen der von Ihnen hervorgehobene sozialpolitisch motivierte Anspruch, ein durch Vollzeitarbeit generiertes Einkommen müsse ausreichend hoch sein, um die Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Der zweite meiner im Folgenden näher zu erläuternden Kritikpunkte richtet sich gegen einen flächendeckenden, über alle Branchen und Betriebsgrößen hinweg gleichen Mindestlohn.

Aber zuerst zu dem Ziel, Vollzeitarbeiter aus der Hilfebedürftigkeit zu befreien. Ich weiß, wie sehr Ihnen an einer Verbesserung der Einkommensverhältnisse gerade im unteren Lohnbereich gelegen ist. Das ist durchaus parteiübergreifend ein Anliegen, das alle demokratischen Kräfte verbindet.

Wenn ich mich nicht für den von Ihnen geforderten flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ausspreche, dann heißt das nicht, dass ich den Menschen mit niedrigen Einkommen kein höheres Einkommen wünschen würde. Betrachtet man aber Ihre Kernforderung nach ausreichend entlohnter Vollzeitarbeit, dann zeigt sich, dass ein Mindestlohn selbst in der oft diskutierten Höhe von 7,50 € nicht dazu dienen kann, Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Es zeigt sich weiter, dass ein einheitlicher Mindestlohn weder den unterschiedlichen Größen von Bedarfsgemeinschaften noch den unterschiedlichen Produktivitätsniveaus in unserer Volkswirtschaft gerecht wird.