Herr Ministerpräsident, es ist vermutlich nicht ganz zufällig, dass ich auf ähnliche, nahezu die gleichen Themen gekommen bin, bevor ich Ihre Rede, die wir freundlicherweise im Vorfeld zur Verfügung gestellt bekommen haben, erhalten habe, sodass es an meiner Rede überhaupt nichts mehr zu ändern gab. Es sind die ähnlichen Themen, die mir dabei als Gedanken kamen.
- Das kann auch andere Gründe haben. - Eine solche Debatte fügt sich gut in unseren parlamentarischen Arbeitsplan ein, weil sie zwischen den beiden Lesungen des Doppelhaushaltes liegt. Viele wichtige konkrete Weichenstellungen für das Land werden gerade in den vielen Vorberatungen zu den Einzelplänen vorgenommen. Die Debatte passt auch hervorragend in die jetzige Zeit. Vor einer Woche haben wir zum 17. Mal den Tag der deutschen Wiedervereinigung gefeiert. Eigentlich hätten wir ihn am 9. Oktober feiern müssen, weil an diesem Tag in Leipzig der Startschuss gegeben worden ist.
Aber es ist in jedem Fall ein Anlass zu schauen, woher wir kommen. Wir haben außerdem den Sachsen-AnhaltMonitor vorliegen, der uns Auskunft über die politischen Einstellungen im Land gibt. Das ist ein Anlass, eine Bilanz darüber zu ziehen, wo wir stehen. Wir erleben auch gerade, dass die Parteien in der Bundesrepublik ihre Programmatik auf das 21. Jahrhundert ausrichten. Das ist auch für uns als sachsen-anhaltischer Landtag ein Anlass, darüber zu diskutieren, wohin wir wollen.
Woher wir kommen, ist dabei leicht zu beschreiben. Wir Ostdeutsche kommen aus einer Diktatur. Wir kommen aus einem System, das Andersdenkende systematisch verfolgt hat. Wir kommen aus einem System, das persönliche Lebensentwürfe zerstört hat, sofern sie nicht in das enge Raster des Regimes gepasst haben. Wir kommen aus einem System, das seine Bürger einsperren musste, damit es existieren konnte. Dabei ist es gleich, welche positiven persönlichen Erfahrungen der Einzelne natürlich auch mit seinem täglichen Leben und in seinem persönlichen Umfeld in der DDR verbinden mag.
Sie haben Recht, Herr Gallert, und ich nehme es Ihnen persönlich und auch vielen anderen in Ihrer Partei ab, dass Sie sagen, dass es diesen Dualismus nicht geben darf. Womit ich ein Stück weit ein Problem habe, ist, dass es insbesondere Ihre Partei ist, die mit dieser Diskussion über den Dualismus oftmals zusätzliche Stimmen bei den Wahlen fängt,
und dass es aus meiner Sicht an dieser Stelle eine möglicherweise zweigeteilte Sicht von Leuten in Ihrer Partei gibt, die so denken wie Sie, und von anderen, die es in Kauf nehmen, damit Stimmen zu fangen, obwohl sie diese verklärte Sichtweise eigentlich gerade nicht mehr wollen.
Der Ministerpräsident hat in seiner Rede von der notwendigen Haushaltskonsolidierung gesprochen. Ich will daran anknüpfen und über die wirtschaftliche Entwicklung reden. Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle eines sagen, was mich im Zusammenhang mit der Debatte um Richard Schröder in der „Mitteldeutschen Zeitung“ beschäftigt hat.
Die Wirtschaft der DDR war marode. Die DDR war pleite. Sie hatte ihre Anlagen verschlissen und sie lebte von der Substanz. Das belegen interne Papiere der SEDFührung. Das war auch für jeden ersichtlich, der in den Betrieben gearbeitet hat. Egal welche Fehler im Einigungsprozess, ob von der Treuhand oder von anderen, gemacht worden sind, glaube ich auch, dass das Thema der Wiedervereinigung im Bereich der Wirtschaft auch ein großes Thema von Wirtschaftskriminalität ist.
Aber die wirtschaftlichen Probleme, die wir in SachsenAnhalt noch immer haben, sind auch 17. Jahre nach der Wende überwiegend ein Erbe der DDR. Das ist keine Ausrede für uns, die wir heute politische Verantwortung haben, sondern es gehört zur Wahrheit dazu.
Wenn wir von übernommener maroder Substanz reden, ist das ganz besonders auch in den Städten und Dörfern sichtbar. Wenn man die Bilder von damals mit den Stadtbildern von heute vergleicht, dann offenbart sich in dem Kontrast, den es heute immer noch gibt, immer wieder der Verfall der DDR. Die Kolleginnen und Kollegen, die mit mir vor Kurzem in Bulgarien waren, wissen, wie es gekommen wäre, wenn es diese Wende nicht gegeben hätte.
Aber der Vergleich zeigt auch - auch das muss man sagen dürfen -, welche Aufbauleistung wir in den letzten Jahren geschafft haben. Das ist eine Leistung, auf die wir zu Recht stolz sein können, auf die wir aber in der gesamten Bundesrepublik und nicht nur hier in SachsenAnhalt stolz sein können. Denn der Aufbau Ost ist ein gesamtdeutsches Projekt.
Für die Hilfe der alten Bundesländer sind wir dankbar. Ohne sie hätten wir es nicht so weit geschafft. Ich sage aber auch ganz deutlich: Am Solidarpakt darf nicht gerüttelt werden. In der Fläche haben wir noch die größeren Probleme und deshalb ist es gut, dass diese Debatte zu Ende geführt wird.
Meine Damen und Herren! Bei der Vorbereitung auf die Aussprache zur Regierungserklärung habe ich mich zwei Dinge gefragt. Erstens. Was verbirgt sich hinter dem Begriff der offenen Gesellschaft, den Sie meinen und den Sie in der Überschrift genannt haben? Zweitens. Leitet das Postulat des Ministerpräsidenten von der offenen Gesellschaft als Ziel gesellschaftlicher Entwicklung einen Paradigmenwechsel in den gesellschaftspolitischen Zielen ein? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann lautet die Antwort nein.
Ich darf Sie daran erinnern, dass das Thema der letzten Regierungserklärung wie folgt gelautet hat: „SachsenAnhalt auf dem Weg in eine solidarische Leistungsgesellschaft“. Nach meinem Verständnis und nach unserem Verständnis als Sozialdemokraten bestehen zwischen beiden Gesellschaftsmodellen einige, wenn nicht sogar erhebliche Unterschiede. Deshalb will ich darauf kurz eingehen.
Bei der Frage nach dem Konzept der offenen Gesellschaft hilft - auch das haben Sie gesagt, Herr Ministerpräsident - ein Blick in die politische Philosophie. Der Begriff wurde 1945 von Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ geprägt. Es ist ein Gegenkonzept zum Totalitarismus in der Ausprägung faschistischer, nationalsozialistischer und kommunistischer Ideologien. Popper wendet sich gegen ideologisch festgelegte geschlossene Gesellschaften, die einen für alle verbindlichen Heilsplan verfolgen. Das manifestiert sich in seinem Ausspruch:
Im Gegensatz dazu fordert er offene Gesellschaften, die Meinungspluralismus und gesellschaftliche Veränderungen zulassen. Wesentliche Grundsätze solcher demokratischen Gesellschaften sind Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, wobei er sie als wehrhafte Demokratie versteht. Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz
Diese Prinzipien teilen wir als SPD voll und ganz. Sie sind Grundpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Äquivalent zu Poppers Abrechnung mit dem Nationalsozialismus verstehen wir sie auch als Abkehr von anderen totalitären Gesellschaftssystemen.
Wir teilen jedoch nicht den radikalen Liberalismus von Popper; denn er geht noch weiter und damit geht er uns zu weit. Der Staat ist ihm ein notwendiges Übel und ansonsten ein Gräuel. Er soll zwar eine ausreichende Grundversorgung bereitstellen, aber den Bürgern keine Wohltaten erweisen. Popper postuliert damit den klassischen liberalen Nachtwächterstaat in Reinkultur: Der Staat soll nur dazu da sein, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, also sicherzustellen, dass man nachts sicher nach Hause kommt. Aber das, meine Damen und Herren, reicht uns nicht. Das ist uns als SPD zu wenig.
Unsere Grundwerte sind neben der Freiheit auch Gerechtigkeit und Solidarität; denn der Mensch ist nicht nur ein Individualwesen mit seinen Rechten und Pflichten, er ist auch ein soziales Wesen. Er ist auf Kooperation angelegt und zur Kooperation bereit. Im Übrigen ist das Wesen der Demokratie ein kooperatives.
Freiheit bedeutet für uns die Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben. Dazu muss der Mensch aber auch frei sein von entwürdigenden Abhängigkeiten, von Not und von Furcht, die sich heute ganz oft in Unsicherheit manifestiert. Er muss die Chance haben, seine Fähigkeiten zu entfalten und in Gesellschaft und Politik verantwortlich mitzuwirken. Die Freiheit zur sozialen Ausgrenzung und die Freiheit zur Verelendung ist nicht Teil unseres Freiheitsbegriffs. Nur wer sich sozial ausreichend gesichert weiß, kann seine Freiheiten nutzen. Das, Herr Gallert, ist möglicherweise ein Gesichtspunkt, warum die Wahlbeteiligung in unterschiedlichen Wohngebieten so ausfällt, wie sie ausfällt. Zumindest sehe ich es als eines der Erklärungsmuster dafür an.
Meine Damen und Herren! Die Freiheit des Einzelnen in einer modernen Gesellschaft ist beschränkt; denn sie endet da, wo sie die Freiheit des anderen verletzt. Dieses Prinzip gilt sowohl für den einzelnen Bürger als auch für den Staat. Daher lehne ich die Vorschläge des Bundesinnenministers zur generellen Legalisierung von Online-Durchsuchungen ab.
So schnell ist man bei theoretischen Diskussionen dann wieder im politischen Alltag und in der Praxis angekommen. Wenn wir unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus den gläsernen Bürger schaffen, ist von unserer Freiheit nicht mehr viel übrig. Und wenn die Freiheit am Ende ist, dann ist es aus meiner Sicht auch die Demokratie. Dann hätten wir zum Schutz vor denen, die Freiheit und Demokratie bekämpfen, Freiheit und Demokratie abgeschafft. Das wäre eine sehr bittere Ironie der Geschichte; das will ich nicht erleben müssen.
Gerechtigkeit bedeutet gleiche Freiheit und gleiche Lebenschancen, unabhängig von der Herkunft oder dem
Geschlecht. Sie meint gleiche Teilhabe an Bildung, an Arbeit, an sozialer Sicherheit, Kultur und Demokratie und gleichen Zugang zu den öffentlichen Gütern. Eine gerechte Gesellschaft muss für die Entfaltung individueller Neigungen und Fähigkeiten Raum bieten; denn Menschen sind und bleiben verschieden.
Aber natürliche Ungleichheiten und soziale Herkünfte dürfen nicht zum sozialen Schicksal werden. Lebenswege dürfen nicht von vornherein festgelegt sein. Große Ungleichheiten, starke soziale Spaltungen sind eine Gefahr für unsere Gesellschaft. An dieser Stelle ist der solidarische Sozialstaat gefordert. Sozial motivierte Umverteilung in diesem Sinne endet nach meinen Erfahrungen keinesfalls zwangsläufig in einer Diktatur. Sie darf es auch nicht. Es gibt auch andere Wege.
Soziale Gerechtigkeit heißt nicht nur Chancengerechtigkeit. Sie heißt auch, dass wir diejenigen nicht alleine lassen wollen, die ihre Chancen nicht nutzen oder einfach keine Chancen hatten. Auch das gehört noch immer zur Realität in unserer Gesellschaft. Denjenigen zu helfen und ihnen eine Perspektive zu geben, ist aus unserer Sicht gelebte Solidarität.
Dennoch heißt Gerechtigkeit nicht Gleichheit im Sinne der Einebnung von Unterschieden. Leistung muss anerkannt und respektiert werden. Gerecht ist eine der Leistung angemessene Verteilung an Einkommen und Vermögen.
Wer überdurchschnittlich viel verdient, wer mehr Vermögen besitzt als andere, muss auch mehr zum Wohl der Gesellschaft beitragen.
Was ich in diesem kurzen, möglicherweise sehr theoretisch wirkenden Exkurs skizziert habe, sind die Kernpunkte der sozialen Demokratie. Sie ist das Ziel sozialdemokratischer Politik, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Sachsen-Anhalt. In diesem Sinne sind wir als SPD dazu bereit, Sachsen-Anhalt gemeinsam mit unserem Koalitionspartner in eine offenere Gesellschaft zu führen, aber nicht in eine so offene, wie sie Popper in der absoluten Endkonsequenz meint. Dazu müssen wir zuerst die aktuellen Probleme lösen. Ich meine, wir sind auf einem guten Weg.
Meine Damen und Herren! Entgegen vielen Ansichten, die man in der Wissenschaft und Publizistik finden mag, leben wir in einer Arbeitsgesellschaft. Unser gesellschaftlicher Status definiert sich nicht ausschließlich, aber doch sehr stark daran, ob wir arbeiten, was wir arbeiten, was wir verdienen und vor allen Dingen, ob wir dazu in der Lage sind, mit dem, was wir verdienen, unseren Kindern, unseren Familien und nicht zuletzt auch uns selbst ein gutes Leben zu ermöglichen. Diejenigen, die nicht arbeiten können, laufen schnell in Gefahr, in Armut zu fallen.
Sie alle haben die aktuelle Debatte zur sozialen Spaltung vor fast genau einem Jahr ganz sicher noch im Gedächtnis. Zwar muss in Deutschland niemand verhungern. Der Sozialstaat sichert wenigstens die Existenz
grundlage. Aber das Schlimmste an Armut ist ja nicht die Frage des Kampfes um die nackte Existenz, sondern die Erfahrung, nicht dazuzugehören. Die zentrale Aufgabe unserer politischen Arbeit muss daher nach wie vor die Reduzierung der Arbeitslosigkeit sein. Es ist der beste Weg, Herr Ministerpräsident, den Menschen auskömmliche Arbeit anzubieten, von der sie und ihre Familien leben können.