Auch bei Pisa 2003 wurde die Bedeutung des sozioökonomischen Status für die Kompetenzentwicklung - in diesem Fall übrigens für Mathematik - näher untersucht. Betrachtet man die Leistungen der Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Schulformen in Sachsen-Anhalt, so ist festzustellen, dass bei den Naturwissenschaften und in der Lesekompetenz die leistungsstärkere Hälfte der Sekundarschülerinnen und -schüler das gleiche Kompetenzniveau aufweist wie die leistungsschwächere Hälfte an den Gymnasien. Die Durchmischung ist also wesentlich größer, als hier suggeriert wird.
Im Bereich des Problemlösens wird in beiden Schularten das gleiche Niveau erreicht. In der Pisa-Studie heißt es dazu wörtlich:
„Dies ist ein Hinweis darauf, dass es in SachsenAnhalt weitgehend gelingt, das kognitive Potenzial der Schülerinnen und Schüler in mathematische Kompetenz umzusetzen.“
Das ist also unabhängig von der Schulform ein Befund. Das erkläre ich nicht mit stolzgeschwellter Brust, sondern ich zitiere aus einer renommierten wissenschaftlichen Studie. Das sollte ich vielleicht auch kurz erwähnen.
All das zeigt, dass es keineswegs ein Indiz für mangelnde elterliche oder schulische Förderung ist, wenn Eltern, die selbst über einen Realschulabschluss verfügen, ihre Kinder auf die Realschule schicken. Das Gymnasium kann doch nicht die allgemein gültige Norm für eine wünschenswerte Schullaufbahn sein, die alle Schülerinnen und Schüler unbedingt erreichen oder anstreben müssen.
(Herr Gallert, Linkspartei.PDS: Die haben sie eben nicht! - Herr Borgwardt, CDU: Die haben sie doch! - Zuruf von Minister Herrn Dr. Daehre - Unruhe)
(Zuruf von Minister Herrn Dr. Daehre - Herr Gal- lert, Linkspartei.PDS: Beantwortet das unsere Fra- ge? - Unruhe)
(Zurufe von Minister Herrn Dr. Daehre, von Frau Bull, Linkspartei.PDS, und von Herrn Gallert, Linkspartei.PDS - Unruhe)
- Ach so. - Es ist schlicht ein Unding, es als Verstoß gegen die Chancengleichheit oder pauschal als Misserfolg zu bewerten, wenn Eltern mit ihren Kindern - aus welchen Gründen auch immer - davon abweichende Ziele verfolgen.
Noch etwas: In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Sekundarschule damit kaputtgemacht, und zwar auf Kosten der Kinder, die vielleicht gerade dort die beste Förderung erhalten können. Im Anschluss an ein schlechtes Abitur und eine mangelnde schulische Förderung der eigentlichen Potenziale ist die Auslese etwa durch das Selbstauswahlrecht der Hochschulen oder im Wettbewerb um die attraktivsten Ausbildungsplätze mit Sicherheit später viel härter, als es bei einer klugen Differenzierung nach dem Grundsatz der bestmöglichen Förderung eines jeden Kindes durch den gewählten Bildungsgang der Fall ist.
Ein letzter Aspekt. Frau Mittendorf, wenn das gute Abschneiden der Schülerinnen und Schüler aus SachsenAnhalt allen Ernstes auf die Förderstufe zurückgeführt wird, dann muss sie gerade in Bezug auf die soziale Ausgewogenheit grandios versagt haben.
(Starker Beifall bei der CDU und von der Regie- rungsbank - Frau Feußner, CDU: Richtig! Genau so ist es!)
Die Schülerinnen und Schüler, die bei Pisa 2003 getestet worden sind, waren in der Regel im Schuljahr 1997/1998 in die 5. Klasse der Sekundarschule, also in die Förderstufe eingetreten.
Meine Damen und Herren! Die derzeitige Übergangsquote - 43 % der Grundschüler gehen auf ein Gymnasium - macht deutlich, dass in Sachsen-Anhalt eine große Anzahl von Schülerinnen und Schülern den Weg zum Abitur einschlägt, und zwar nicht nur aus dem so genannten Bildungsbürgertum. Dessen ungeachtet bleibt die Aufgabe bestehen, den Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien an den Gymnasien und später an den Hochschulen zu erhöhen. Das stelle ich gar nicht in Abrede.
Ich möchte nur die Diskussion zur Chancengerechtigkeit über das erreichte Kompetenz- und Leistungsniveau führen und nicht über die formale Seite der jeweils besuchten Schulform; denn dann diskreditieren wir den mittleren Schulbildungsweg, und zwar komplett.
Dann brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass dieser am Boden liegt und niemand dieser Schulform
Natürlich funktioniert das nur - deswegen stehe ich diesem gegliederten System durchaus nicht unkritisch gegenüber -, wenn auf jeden Abschluss ein Anschluss folgt. Das ist allerdings ein sehr wichtiger Punkt, bei dem wir noch einiges zu tun haben.
Ihr Antrag verlangt eine klare Analyse. Dazu gehört nun einmal auch, dass man die Befunde erst einmal richtig und nicht verkürzt zur Kenntnis nimmt.
Frau Mittendorf, mir ist es lieber, darüber nachzudenken, wie man vergleichsweise hohe Kompetenzen weiter erhöhen und mit den entsprechenden formalen Berechtigungen verbinden kann, als darüber nachzusinnen, wie man vergleichsweise niedrige Kompetenzen mit möglichst hohen Abschlüssen verbinden kann.
Insgesamt - das ist mein letzter Absatz - können wir uns durch die Ergebnisse der Pisa-Studie bestärkt sehen, vor allem in dem Ansatz, an den Schulen die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler weiter auszubauen und ebenso durchdachte wie beherzte Maßnahmen gegen das Zurückbleiben zu ergreifen.
Dazu gehören der Bildungsplan für den Kindergarten ebenso wie die flexible Schuleingangsphase, die neuen kompetenzorientierten Lehrpläne ebenso wie die besonderen Projekte für benachteiligte Schülerinnen und Schüler, beispielsweise das produktive Lernen, und nicht zuletzt auch die Ganztagsförderung sowie das neue Konzept der Lehrerfortbildung zur Stärkung der didaktischen Kompetenz und der Diagnosefähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer.
Mit all diesen Initiativen hat das Land inzwischen erste gute Ergebnisse vorzuweisen; zum Beispiel ist die Quote der Schülerinnen und Schüler, die das Schulsystem unterhalb des Hauptschulabschlusses verließen, nach der neuesten amtlichen Schulstatistik von rund 14 % auf 11 % gesunken. Das ist ein guter Trend, auch wenn es noch lange kein befriedigendes Ergebnis ist. - Vielen Dank.
Danke, Herr Minister. - Bevor ich Herrn Dr. Volk für die FDP das Wort erteile, habe ich die Freude, Studentinnen und Studenten aus Texas bei uns zu begrüßen. Seien Sie herzlich willkommen!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion unter dem Schlagwort „Pisa“ erregt immer wieder die Gemüter, und das ist gut so. Denn Bildungspolitik muss im Fokus des öffent
lichen Interesses stehen, sonst besteht in unserer am Effekt orientierten Gesellschaft die Gefahr, dass sie aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses gerät.
Das bedeutet aber nicht, dass man jede Aussage einer wissenschaftlichen empirischen Untersuchung aus dem Gesamtzusammenhang herauslösen, diese skandalisieren und zur Schlagzeile machen kann. Nein, meine Damen und Herren, so diskreditiert man sich selbst. Das ist unseriös und sollte nicht den Stil unserer bildungspolitischen Debatten prägen.
Dass ich diese Aussage an den Anfang meines Redebeitrages stelle, ist weniger dem Thema der Aktuellen Debatte als vielmehr der Begründung für die Aktualität der heute angemeldeten Debatte geschuldet. Die vierhundertseitige Studie wurde vor einer Woche vorgestellt. Ich wage festzustellen, dass viele nicht mehr als die Kurzzusammenfassung durchgesehen haben.
Das Pisa-Programm wurde von der OECD ins Leben gerufen mit dem Ziel, die Mitgliedstaaten über die Stärken und Schwächen ihrer Bildungssysteme zu informieren. Pisa untersucht regelmäßig die bereichsspezifischen Kompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften, aber auch deren Fächer übergreifende Verfügbarkeit. Pisa befragt darüber hinaus die Schülerinnen und Schüler zu ihrer Wahrnehmung von Schule und Unterricht sowie zu Merkmalen der familiären Umgebung. Dazu gehören Angaben zur sozioökonomischen Stellung der Familie, zum erreichten Ausbildungsniveau der Eltern und zum häuslichen Besitz.
Auf diese Weise kann analysiert werden, inwieweit die soziale und kulturelle Herkunft mit Unterschieden in der Kompetenz und in der Bildungsbeteiligung verbunden ist; denn die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb - so wird geschlussfolgert - gelten als Indikatoren für Chancengerechtigkeit im Bildungssystem und für die gesamtgesellschaftliche Nutzung von Bildungsressourcen.
Die Angaben zum sozialökonomischen und kulturellen Hintergrund werden in korrelierende Werte umgerechnet und zu einem allgemeinen Maß der sozialen Herkunft, dem Index of Economic, Social and Cultural Status, dem ESCS-Wert kombiniert. Die Teilung dieses Indexes definiert dann die sozialen Schichten. Ich halte das für außerordentlich problematisch.