Protocol of the Session on November 11, 2005

(Minister Herr Prof. Dr. Olbertz: Manometer!)

Es gilt, das Schulsystem so auszurichten, dass die Bildungsbeteiligung steigt, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne bzw. mit unteren Bildungsabschlüssen sinkt und dass sich der Anteil der Jugendlichen, die eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben, deutlich erhöht. Wir können es uns nicht mehr erlauben, auf nicht geförderte Potenziale zu verzichten.

Auch dazu ist es neben vielen anderen Maßnahmen notwendig, das gegliederte Schulsystem auf den Prüfstand zu stellen. Es muss erlaubt sein zu hinterfragen, inwieweit die frühe Aufteilung auf die verschiedenen Bildungsgänge eine Chancengleichheit zumindest behindert; denn von einer wirklichen Chancengleichheit kann in keinem Bundesland in Deutschland gesprochen werden.

Die internationale Grundschulleseuntersuchung Iglu 2004 hat sehr deutlich nachgewiesen, dass bei der Erstellung von Schullaufbahnempfehlungen häufig eben nicht die Leistung im Vordergrund steht, sondern die soziale Herkunft.

(Frau Feußner, CDU: So ein Quatsch! Das stimmt doch gar nicht!)

- Lesen Sie einmal nach, Frau Feußner. - Natürlich ist die individuelle Förderung ein Schlüsselwort für Leistungs- und Kompetenzzuwachs. Eines überzeugt mich jedoch nicht: dass allein Veränderungen im Unterrichtsgeschehen mit verstärkter individueller Förderung und anderen Punkten, die wir allgemein bekanntermaßen als innere Schulreform bezeichnen und über die ich jetzt nicht referieren möchte - das gehört natürlich dazu -, die vorhandenen Probleme innerhalb des jetzigen Systems nachhaltig beheben können; denn eine verstärke individuelle Förderung in den einzelnen Schulformen löst eben nicht zum Beispiel das Problem der Chancenungleichheit beim Zugang zum Gymnasium.

Nach unserer Überzeugung könnte eine längere gemeinsame Schulzeit gekoppelt mit einem differenzierten System der individuellen Förderung und vielen Dingen mehr einen erheblichen Beitrag dazu leisten, die Chancengleichheit im Bildungssystem zu erhöhen oder erst herzustellen. Die Leistungszuwächse, die in allen Schulformen bei der Pisa-Studie im Jahr 2003 nachgewiesen wurden, bestärken uns in diesem Ansinnen; denn die getesteten Schüler haben die im Jahr 1997 von der SPDLandesregierung eingeführte Förderstufe und ebenfalls den gemeinsamen Sekundarschulbildungsgang durchlaufen. Sie haben damit sechs Jahre gemeinsam gelernt. Sachsen-Anhalt hat eigentlich jetzt diesbezüglich die ersten Früchte der damaligen Schulreformen geerntet.

(Zuruf von Minister Herrn Prof. Dr. Olbertz - Frau Feußner, CDU: Die haben Sie selbst geerntet!)

Sehr geehrter Herr Olbertz, sehr geehrte Frau Feußner, sehr geehrter Herr Kultusminister, es zeugt von großer Ignoranz, aber auch Arroganz, diesen objektiven Tatbestand in einem Zeitungsinterview als einen Kalauer abzutun, auch wenn Sie beide Reformen inzwischen wieder abgeschafft haben.

Wir brauchen einen offenen, unvoreingenommenen und wirklich nichts ausklammernden gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft der Bildung in Deutschland und damit auch in Sachsen-Anhalt.

(Herr Tullner, CDU: Ja, gern!)

Über diese Dinge in ihrer Gesamtheit soll in dem von uns vorgeschlagenen unabhängigen Bildungskonvent anhand unseres Konzepts zur mittelfristigen Einführung einer allgemein bildenden Oberschule, in der die Schüler gemeinsam länger lernen, diskutiert werden. Mit diesem Vorschlag aus dem Zukunftspapier verbinden wir die Hoffnung und vor allen Dingen den Willen, die Schwächen und die Ungerechtigkeiten des jetzigen Schulsystems endlich zu überwinden und damit die Schule in Sachsen-Anhalt wirklich zukunftsfähig zu machen. - Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Zustimmung bei der SPD - Zuruf von Herrn Tull- ner, CDU - Unruhe)

Danke sehr, Frau Mittendorf. - Seitens der Landesregierung hat der Kultusminister Herr Professor Dr. Olbertz um das Wort gebeten. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor einer Woche wurden in Berlin die Gesamtergebnisse des Ländervergleichs aus der jüngsten Pisa-Studie zu den Leistungen 15-jähriger Schülerinnen und Schüler vor

gestellt; sie wurden bereits in einem Vorbericht im Juli 2005 veröffentlicht.

Sachsen-Anhalt ist vom drittletzten Platz bei der vorherigen Erhebung in das vordere Mittelfeld der Länder aufgerückt. Im Bereich Mathematik liegt es auf Platz 5, in der Gesamtbewertung der drei einbezogenen Leistungsbereiche auf dem 6. Platz aller Bundesländer. Die Ergebnisse zeigen, dass wir ein gutes Stück vorangekommen sind

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

und unter allen Bundesländern sogar die höchsten Zuwächse im Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler zu verzeichnen haben.

Zugleich ist es richtig, dass uns der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulkarriere in Deutschland weiterhin ernsthaft beschäftigen muss. Dieser Befund verlangt aber vor allem eine sachkundige und sorgfältige Analyse.

Die SPD greift mit der heutigen Debatte das auf, was zahlreiche Medien von der jüngsten Pisa-Veröffentlichung verbreitet haben. Nicht die insgesamt wesentlich besseren Ergebnisse, übrigens aller Bundesländer, werden dabei aufgegriffen, sondern die Aussagen, die Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungswesen sei schlecht ausgeprägt, die Bildungsbenachteiligung habe sich sogar zugespitzt und in einigen Bundesländern gehe es besonders ungerecht zu.

Die SPD bemüht hierbei auch Sachsen-Anhalt. Vielleicht lässt sich so das gute Abschneiden der Schülerinnen und Schüler aus unserem Land bei der jüngsten PisaUntersuchung am besten schmälern.

(Zustimmung bei der CDU - Frau Feußner, CDU: Richtig! Das ist genau der Punkt, weil sie nicht damit leben können, dass wir so gut geworden sind! - Zuruf von Frau Mittendorf, SPD)

Auf wen Sie sich dabei berufen, Frau Mittendorf, ist mir unklar - auf die Pisa-Studie jedenfalls nicht; denn von dem deutschen Untersuchungsleiter des Pisa-Konsortiums in Berlin ist Folgendes deutlich unterstrichen worden - er sagte wörtlich -:

„Die Schulen sind zwischen Pisa 2000 und Pisa 2003 nicht sozial ungerechter geworden.“

(Zustimmung bei der CDU - Frau Feußner, CDU: Genau so ist es!)

Das macht sie natürlich auch nicht gerechter. Aber hauptsächlich leidet die derzeitige Diskussion darunter, dass man zwar von Ungerechtigkeit spricht, doch dabei im Unklaren lässt, woran man sie misst.

(Frau Feußner, CDU: Richtig!)

Zugang und Teilhabe an formalisierten Bildungsprozessen sind besonders sensible Bereiche distributiver Gerechtigkeit. Formale Bildungsprozesse haben typischerweise das Doppelgesicht von Status und von Kompetenzerwerb. Natürlich ist es wünschenswert, dass hohe Abschlüsse mit hohen Kompetenzen verbunden sind - und umgekehrt. Die Studie macht aber deutlich, dass das nicht so ist.

Gerade das viel gescholtene Bayern liefert hierfür den interessantesten Befund. Ich bitte Sie, nun aufzupassen. Zieht man den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Besuch der Schulform in Betracht, so ist er in Bayern, gefolgt von Sachsen-Anhalt, in der Tat am größten.

Betrachtet man jedoch den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erreichtem Kompetenzniveau der Schülerinnen und Schüler, so ist der Zusammenhang zur Herkunftsfamilie in Bayern unter allen Ländern am geringsten. Sachsen-Anhalt liegt im Hinblick auf dieses Kriterium in einem guten Mittelfeld.

Die Frage ist eben, ob man zur Bewertung der Chancengleichheit die jeweils besuchte Schulform heranziehen will, also ein formales Kriterium, das unabhängig vom erreichten Kompetenzniveau betrachtet wird, oder ob man die in der Untersuchung festgestellten Schülerleistungen in das Verhältnis zur sozialen Herkunft setzt. Dann haben zum Beispiel Migrantenkinder in Bayern nach wie vor die besten Chancen und die soziale Selektivität ist am geringsten ausgeprägt.

(Frau Feußner, CDU: Genau! - Herr Borgwardt, CDU: So ist es!)

Das allgemeine Kompetenzniveau quer zur sozialen Schichtung ist nirgendwo so hoch wie dort. Der Zusammenhang zwischen tatsächlichem Kompetenzerwerb und sozialer Herkunft ist nirgends so gering.

(Herr Borgwardt, CDU: Das ist wahr!)

Ein anderes Beispiel ist Brandenburg. Dort ist die soziale Selektivität bezüglich der besuchten Schulformen am geringsten, das durchschnittliche Kompetenzniveau in Mathematik aber auch.

(Frau Feußner, CDU: Am geringsten!)

- Es ist auch am geringsten, jedenfalls relativ gering, Rang zwölf unter den 16 Ländern und deutlich unter dem OECD- und auch unter dem deutschen Durchschnitt.

Besteht nun deshalb in Brandenburg und Bayern dieselbe Chancengerechtigkeit? Sozial ausgewogene Verhältnisse herrschen in gewisser Beziehung ja nicht nur dort, wo alle viel wissen und viel können, sondern auch dort, wo alle gleichermaßen relativ wenig wissen und können.

(Herr Borgwardt, CDU: So ist es!)

Der Pisa-Bericht bezieht hierzu eindeutig Position. Dort heißt es wörtlich - ich empfehle dringend, ihn zu lesen -:

„Für das lebenslange Lernen und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist die erreichte Kompetenz ausschlaggebend, nicht die besuchte Schulart.“

(Frau Feußner, CDU: Ja!)

Die soziale Herkunft übrigens wird mit dem sozioökonomischen Index International Socio-Economic Index erfasst. Dabei geht es um die sozialökonomische Stellung der Eltern, das kulturelle und das soziale Kapital der Familie, Größe und Struktur, Eltern-Kinder-Beziehung usw. Übrigens hat sich dabei herausgestellt, dass zwar nicht das materielle Kapital, aber das kulturelle Kapital der ostdeutschen Familien höher als bei den westdeutschen ist und - das ist noch spannender - dass dies an der Qualifikation und der beruflichen Stellung der Mütter liegt. Das sind, finde ich, wirklich die spannenden Befunde.

(Frau Feußner, CDU: Da seht ihr einmal: Wir Frauen im Osten! - Zuruf von Herrn Gallert, Links- partei.PDS)

- Ja, das ist sehr interessant, auch zeitgeschichtlich. Deswegen habe ich es erwähnt.

(Frau Feußner, CDU: Das wussten wir schon im- mer!)

Im Hinblick auf das also gerade für die Chancengleichheit entscheidende Kompetenzniveau steht SachsenAnhalt nicht an vorletzter Stelle, sondern über alle Kompetenzbereiche hinweg etwa an der sechsten und weicht damit im Übrigen auch nicht signifikant vom OECDDurchschnitt ab.

Außerdem zeigt sich, dass die soziale Schere umso weniger geöffnet ist, je höher das durchschnittliche Kompetenzniveau der Gesamtschülerschaft ist. Also ist es richtig, zuerst auf die Erhöhung des allgemeinen Kompetenzniveaus zu setzen, gerade wenn es um Chancengleichheit geht, und nicht primär auf die Schulform.

So hat sich zum Beispiel schon im Jahr 2000 herausgestellt, dass es in Deutschland eine wesentlich geringere Koppelung zwischen der Sozialschicht und der erreichten Lesekompetenz gibt als zwischen der Sozialschichtzugehörigkeit und dem Besuch eines Gymnasiums. Viele Real- bzw. Sekundarschüler, übrigens gerade in Bayern, erreichen in ihren Leistungen das Niveau von Gymnasialschülern.

Auch bei Pisa 2003 wurde die Bedeutung des sozioökonomischen Status für die Kompetenzentwicklung - in diesem Fall übrigens für Mathematik - näher untersucht. Betrachtet man die Leistungen der Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Schulformen in Sachsen-Anhalt, so ist festzustellen, dass bei den Naturwissenschaften und in der Lesekompetenz die leistungsstärkere Hälfte der Sekundarschülerinnen und -schüler das gleiche Kompetenzniveau aufweist wie die leistungsschwächere Hälfte an den Gymnasien. Die Durchmischung ist also wesentlich größer, als hier suggeriert wird.