Protocol of the Session on November 11, 2005

Bitte sehr, Herr Ministerpräsident, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin sicher, dass uns diese Themen weit bis in das nächste Frühjahr hinein regelmäßig und bei jeder Landtagssitzung begleiten werden.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich halte es durchaus für notwendig. Als aufgeklärte EUBürger betrachten wir selbstverständlich auch, was außerhalb Deutschlands passiert. Da können Sie ganz sicher sein. Wir wissen und erleben - da gebe ich Herrn Gallert völlig Recht -, dass jetzt in Frankreich Integrationsprobleme in einer Weise eskalieren, wie sie in anderen Ländern mit hoher Migrationsquote nicht aufgetreten sind. Kanada hat eine höhere Migrationsquote als Frankreich, ohne dass es solche Probleme gibt.

Das heißt, es hängt schon davon ab, wie Migrationspolitik im Inneren gesteuert wird. Sie beginnt damit, dass jeder, der in einem Land leben möchte, das er sich ausgesucht hat, auch dessen Sprache und viele andere Sachen lernt.

(Beifall bei der CDU)

Das sind die Probleme, über die wir in Deutschland schon lange genug diskutiert haben und sicherlich auch weiter diskutieren müssen.

Ich war erstaunt darüber, dass Sie bei dem Thema und der Begründung, die Sie angegeben haben, so wenig auf die Koalitionsverhandlungen abgehoben haben; denn die Aktuelle Debatte sollte deutlicher machen - so haben Sie sie begründet -, welche soziale Verantwortung die Landespolitik sowohl innerhalb des Landes als auch gegenüber dem Bund hat und wie wir sie wahrnehmen sollten.

Dazu werden wir in der nächsten Zeit eine Reihe von sehr grundsätzlichen Diskussionen haben, denen wir

uns nicht entziehen können. Denn die Bundesrepublik Deutschland hat - das sage ich ohne Schuldvorwürfe an irgendeine Partei oder irgendeine Person - in den letzten 20 Jahren mit uns allen weit über ihre Verhältnisse gelebt. Dies muss man deutlich sagen.

(Zustimmung bei der CDU)

Ich habe - ich glaube, das war am 26. Mai - nicht verstanden, weshalb Bundeskanzler Schröder behauptet hat, er hätte keine Mehrheit mehr und der Bundestag müsste vorzeitig neu gewählt werden. In der Zwischenzeit habe ich es verstanden. Ich gebe zu, er hatte Recht; denn er kannte die Probleme.

Nachdem wir sie alle jetzt einigermaßen kennen, ist klar, dass sie mit dieser Mehrheit nicht lösbar gewesen wären. Denn die Verschuldungssituation in Deutschland ist gravierend. Das strukturelle Haushaltsdefizit beträgt etwa 78 Milliarden €. Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen. Die zukünftigen Koalitionäre wissen, dass sie im nächsten Jahr keinen verfassungskonformen Haushalt vorlegen können, weil das aufgrund des hohen Defizits und der hohen Verschuldung in der Bundesrepublik Deutschland objektiv einfach nicht möglich ist.

Frühestens im Jahr 2007 wird es möglich sein, auch die Maastrichter Konvergenzkriterien wieder zu erreichen. Dies werden wir tun müssen. Es wird jetzt schon mit Brüssel verhandelt und um Aufschub gebeten, damit wir nicht schon im Jahr 2007 die ersten Strafzahlungen in Höhe von 10 Milliarden € zahlen müssen.

Das heißt, die Haushaltssituation - das ist nicht vergleichbar, da will ich auch nicht falsch verstanden werden - hat, nachdem ich die Zahlen zur Kenntnis bekommen habe, auf mich denselben Eindruck gemacht wie der Schürer-Bericht zum Ende der DDR-Zeit. Auch dort musste zugegeben werden, dass wir weit über unsere Verhältnisse gelebt haben und dass es so nicht weitergehen kann. Es wird auch so nicht weitergehen können.

Aber trotzdem - auch das hat Herr Gallert weggelassen - werden jetzt schon etwa 50 % der Bundesausgaben für die sozialen Sicherungssysteme ausgegeben. Etwas ändern zu wollen, ohne auch in diese Systeme einzugreifen, wäre in der DDR nicht möglich gewesen und wird auch jetzt nicht möglich sein. Da sehe ich richtig schwierige Diskussionen voraus, in die sich alle werden einbringen müssen, die gegenwärtig bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Daher ist es aus unserer Sicht und auch aus der Sicht des Landes Sachsen-Anhalt wichtig, dass wir nicht nur mit finanzpolitischen Maßnahmen - Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen, alles das wird unvermeidbar sein - versuchen, den Zustand zu korrigieren, sondern dass wir insbesondere Maßnahmen zur Wiederbelebung der wirtschaftlichen Dynamik in Deutschland zulassen und organisieren, die dazu führen, dass das eigene Steueraufkommen, sowohl auf der Bundesebene als auch bei uns in Sachsen-Anhalt, wächst. Sonst werden auch wir die Probleme nicht in den Griff bekommen.

Glücklicherweise sind wir nicht die Einzigen, die das vorgerechnet haben; da gibt es ja genug Modellberechnungen. Aber diese Aufgabe besteht auf der Bundesebene und besteht auf der Ebene des Landes SachsenAnhalt.

Unsere Politik ist eben die - möglicherweise im Unterschied zu dem, was Herr Gallert hier vorgetragen hat und was wir alle kennen -, dass wir sagen: Wir müssen

versuchen, durch eigene Leistung wieder mehr Steuerkraft des Landes zu erreichen, um wieder mehr Menschen die Chance zu geben, ihr eigenes Leben selbst zu gestalten.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung von der Regierungsbank)

Auch ich kenne noch nicht die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen. Die sitzen heute Nachmittag vermutlich zur letzten Runde zusammen. Aber nach dem Stand von gestern Abend, 19 Uhr kann man sicherlich schon sagen - es ist ja auch einiges durchgesickert -, dass der Hauptinhalt dieser Koalition sein wird, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. „Vorrang für Arbeit“ wird das große Rahmenthema sein, dem sich diese Koalition stellt. Das heißt natürlich, dass einige wirtschaftspolitische Maßnahmen, auch solche aus dem Steuerrecht, umgesetzt werden.

Das beginnt mit einer anderen Strukturierung der AfA; das beginnt bei einer anderen Strukturierung der Erbschaftsteuerregelungen für Personenbetriebe; das beginnt auch bei der Tatsache, dass Handwerkerrechnungen aus dem Privatbereich bis zu einer bestimmten Summe, wahrscheinlich in Höhe von 3 000 € jährlich, von der Einkommensteuer abgesetzt werden können, dass die Haushalte als Arbeitgeber zugelassen werden, dass es ein 25-Milliarden-€-Investitionsprogramm für den Mittelstand mit dem Ziel der energetischen Gebäudesanierung geben wird usw. Es wird ein ganzes Bündel von Maßnahmen sein, mit dem die wirtschaftliche Dynamik in Gang gebracht werden soll. Aber es wird auch Eingriffe in das Steuersystem geben müssen. Alles das ist unvermeidlich.

Die gegenwärtige Situation ist ja schon durch eine solche Asymmetrie geprägt, wie sie im Grunde genommen nicht weiter übertrieben werden kann. Im Jahr 2004 ist jeder vierte Bürger Deutschlands von der Lohn- und Einkommensteuer praktisch befreit gewesen, weil er unterhalb eines bestimmten Levels Einkommen hatte und nicht steuerpflichtig war. Aber die oberen 10 % der Einkommensteuerpflichtigen haben 52 % des Einkommensteueraufkommens bezahlen müssen. Das ist eine Progredienz in der Einkommensteuerkurve, die wegdiskutiert oder einfach nicht zur Kenntnis genommen wird.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung von der Regierungsbank)

Aber das ist sozialer Ausgleich. Das versteht man darunter, dass die starken Schultern mehr tragen müssen als die schwachen.

Was die Reichensteuer betrifft, ist das ja eher ein politisches Symbolproblem, kein finanzpolitisches Problem. In Sachsen-Anhalt werden es - das habe ich mir ausrechnen lassen - 141 Personen sein, die davon betroffen sind. Für unser Land würde das Steuereinnahmen in Höhe von 2,5 Millionen € bedeuten, wenn sie denn so käme, wie sie angedacht ist, für die gesamte Bundesrepublik etwas über 1,2 Milliarden €.

Trotzdem, meine Damen und Herren, wird dieses Thema aus ganz anderen Gründen, weil eine bestimmte politische Symmetrie gesucht werden muss, in den Koalitionspapieren auftauchen. Aber ohne eine Erhöhung der Mehrwertsteuer - das ist inzwischen völlig klar - werden die Probleme nicht lösbar sein.

Wir haben - das will ich Ihnen als Parlament ganz deutlich sagen - in den ersten Gesprächsdurchgängen durch

gesagt - nicht alle, aber die meisten Länder -, dass wir bereit sind, bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer auf den Anteil zu verzichten, der auf die Länder zukäme - das sind, glaube ich, 42 % -, wenn dieses Geld ausschließlich zur Senkung der Lohnnebenkosten eingesetzt wird. Das war nicht vereinbart, aber abgesprochen. Dazu hätte ich auch gestanden, wenn es so gekommen wäre.

Wenn ich jetzt höre, dass die Hälfte oder vielleicht zwei Drittel des Aufkommens aus einer Mehrwertsteuererhöhung zur Sanierung des Haushaltes auf der Bundesebene genutzt werden müssen - weil es gar nicht anders geht, nicht weil es jemand gern macht oder will -, dann sage ich natürlich, geht es nicht, dass wir auf unseren Länderanteil verzichten. Dann müssen wir die gleiche Aufgabe erfüllen; denn auch wir müssen unseren Haushalt stabilisieren und sanieren. Das wird umso wichtiger, je mehr - das ist in den Gesprächen der Föderalismuskommission absoluter Konsens - die Länder in die Mithaftung und in die Verpflichtung für die Sanierung der defizitären Haushaltssituation genommen werden.

In das Grundgesetz wird - darüber gibt es keinen Streit; das ist verabredet - ein neuer Artikel 109 Abs. 5 unter der Überschrift „Nationaler Stabilitätspakt“ aufgenommen. Ich will Ihnen einmal den Text vorlesen, damit das bei künftigen Haushaltsverhandlungen im Hinterkopf behalten wird:

„Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft aufgrund Artikel 104 EG-Vertrag zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin sind von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllen. Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft tragen Bund und Länder im Verhältnis 65 : 35.“

Dann kommt die Aufteilung zwischen den einzelnen Ländern. Dies war lange umstritten. Es gibt zwei, drei Länder, die schwer bereit waren, diesen Weg mitzugehen, weil sie gesagt haben: Warum sollen wir, die Haushaltsdisziplin geübt haben und uns nicht exorbitant verschuldet haben - dazu gehört auch ein neues Bundesland -, in die Mithaftung genommen werden, wenn andere Landtage neben uns so schludrig mit dem Geld umgegangen sind?

Wir haben glücklicherweise versucht, mit der Quote, die hier vorgesehen ist - 35 % für die Länder; dort wiederum wird es verteilt, etwa 65 % nach Verursacherprinzip und der Rest solidarisch -, zu erreichen, dass die innerdeutschen Finanzstrukturen nicht aufgebröselt werden. Aber das setzt auch uns in die Verpflichtung, mit der Haushaltsdisziplin sehr stringent umzugehen, bestimmte Kriterien innerhalb des nationalen Stabilitätspaktes zu beachten und uns auch nur zu leisten, was wir uns aufgrund der eigenen gewachsenen - hoffentlich wachsenden - Wirtschaftskraft leisten können. Das ist schon mehr, als viele andere leisten können.

Sie haben zuletzt die Kinderbetreuung angesprochen. Ich bitte Sie - weil Sie ja gesagt haben, wir müssen jetzt auf der EU-Ebene denken; das ist gar nicht so schlecht -, sich nur einmal die Zahlen anzusehen, die auch aus EUStatistiken ableitbar sind. Über 49,5 % der Kinder im Alter von null bis drei Jahren und 91 % der Kinder bis zum Schuleintritt besuchen bei uns in Sachsen-Anhalt eine Kindertageseinrichtung. 47 % aller Schüler im Alter von bis zu zwölf Jahren besuchen einen Hort.

Die auf dem EU-Gipfel in Barcelona für das Jahr 2010 festgelegte Zielmarke von 33 % für die Betreuung der unter Dreijährigen hat Sachsen-Anhalt längst übererfüllt.

(Frau von Angern, Linkspartei.PDS: Es geht doch nicht um Quantität!)

Das merken inzwischen auch andere, die beobachten, was wir machen und wofür wir unser Geld ausgeben. Ich will das nicht infrage stellen. Darüber haben wir lange genug diskutiert. Wir haben Grund, darauf stolz zu sein. Nur darf niemand so tun, als ob wir das immer und unbegrenzt erhöhen und ausweiten könnten. Auch wir kommen dann an Grenzen, an die wir uns halten müssen.

(Zustimmung bei der CDU und von der Regie- rungsbank)

Was die Situation der Langzeitarbeitslosen betrifft, haben Sie ja Recht. Aber die Rentensituation derjenigen, die jetzt in Arbeit sind, wird sich auch nicht bessern. Das hängt mit der demografischen Entwicklung zusammen. Das hängt auch damit zusammen, dass über längere Zeiträume, schon in den letzen 20 Jahren, die Rentenkasse auf Subventionen aus dem Steueraufkommen angewiesen war und es auch künftig sein wird.

Bei dieser Haushaltssituation wird keine Bundesregierung, egal von wem sie gestellt wird, noch mehr Geld in die Sozialversicherungskassen fließen lassen können. Das heißt, wir werden in diesem Bereich nicht mit zunehmenden sozialen Leistungen rechnen können.

Aber das, was machbar ist, insbesondere im Bereich der Hartz-IV-Gesetzgebung, das muss gemacht werden. Wenn ein Gesetz, das mit dem Ziel erlassen wurde, die Kosten zu senken, über 6 Milliarden € Mehrkosten verursacht, nachdem es umgesetzt worden ist, dann ist das nicht nur Armut durch Gesetz - das ist die klare Demagogie -, sondern dann ist es auch handwerklich schlecht gemacht. Dieses Gesetz muss korrigiert werden,

(Zustimmung bei der CDU)

insbesondere in dem Bereich der Definition von Bedarfsgemeinschaften. Ich sage nicht, dass an dieser Stelle ein Missbrauch betrieben worden ist. Hierbei haben pfiffige Leute das gemacht, was der Gesetzgeber ihnen dummerweise ermöglicht hat, obwohl er das gar nicht gewollt hat, weil das Gesetz schludrig gemacht worden ist.

(Zurufe von der Linkspartei.PDS)

An dieser Stelle wird das Gesetz nachkorrigiert werden müssen. Aber das, was aus unserer Sicht machbar war, haben wir in den letzten Jahren auch gemacht.

Ich erinnere mich noch gut daran: Als wir im Bundesrat dieses Gesetz abgelehnt haben, hat der damalige, noch amtierende Wirtschaftsminister Herr Clement versucht, mich in allen Punkten zu widerlegen. In der Zwischenzeit hat er alle die Punkte, die wir damals aufgeführt hatten, über die Monitoringkommission und über die Arbeitsgruppen nachzukorrigieren versucht.

Ich sage mit einem gewissen Stolz, dass es Vertreter der Landesregierung aus Sachsen-Anhalt waren, die es in dieser Gruppe erreicht haben, dass in einer ganzen Reihe von Punkten nachkorrigiert wurde. Das, was wir bei uns mit den Einstiegsgeldern in Form von Kombilöhnen modellhaft angefangen haben, wird auch die Bun

desregierung übernehmen und wird versuchen, dies in den nächsten Jahren bundesweit umzusetzen. Das heißt, das, was wir den Bedürftigen unter uns im Lande schuldig sind, haben wir als Aufgabe längst erkannt.

Ich will Sie darüber informieren, dass die Landesregierung plant, am 26. Januar 2006 eine spezielle Workshop-Veranstaltung mit dem Thema „Soziale Integration von Menschen in extremer Armut“ durchzuführen.