Meine Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 68. Sitzung des Landetages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode.
Über die Abwesenheit von Mitgliedern der Landesregierung am heutigen Sitzungstag wurde bereits gestern informiert. Es handelt sich um Herrn Minister Jeziorsky, der sich ganztägig entschuldigt hat.
Wir setzen nunmehr die 35. Sitzungsperiode vereinbarungsgemäß mit dem Tagesordnungspunkt 3 fort. Danach folgen die Tagesordnungspunkte 18 und 25.
Für die Aktuelle Debatte liegen zwei Beratungsgegenstände vor. Sie wissen, dass in der Aktuellen Debatte die Redezeit für die Fraktionen und für die Landesregierung jeweils zehn Minuten beträgt.
Ungleiche Bildungschancen in Sachsen-Anhalt - enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungskarrieren
Es wird für die Debatte folgende Reihenfolge vorgeschlagen: SPD, FDP, Linkspartei.PDS und CDU. Zunächst hat der Antragssteller, die SPD, das Wort. Frau Mittendorf, bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Die jüngsten Pisa-Ergebnisse bescheinigen Sachsen-Anhalt beachtliche Verbesserungen in den geprüften Kompetenzbereichen, aber eben auch ganz große Defizite im Hinblick auf die Verteilung der Bildungschancen. Jeder dieser Befunde verdient eine gesonderte Auseinandersetzung und vor allem eine umfangreiche Analyse der Ursachen. Dies ist in einer Aktuellen Debatte nur bedingt möglich.
Wir konzentrieren uns heute schwerpunktmäßig auf die defizitären Befunde, weil diese ein Kernproblem im deutschen Bildungssystem aufgreifen.
Dies bedeutet aber nicht, dass wir die bemerkenswerten Leistungszuwächse unserer Schülerinnen und Schüler gering schätzen, ganz im Gegenteil. Wir sind darüber erfreut und hoffen, dass sie anhalten.
Meine Damen und Herren! Nicht erfreulich ist dagegen eine gewisse Schamlosigkeit der Regierungsfraktionen
und auch der Landesregierung, die zu jeder Gelegenheit und wahrscheinlich auch heute versuchen werden, diesen Erfolg als ihr Verdienst darzustellen.
Ein objektiver Blick auf den Erhebungszeitraum der Studie vom Frühjahr des Jahres 2003 verrät, dass die getesteten 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in keinem Punkt von den bildungspolitischen Veränderungen und später wirksam gewordenen Gesetzesnovellierungen von CDU und FDP betroffen sein konnten.
Herr Minister, auch wenn Sie nicht Mathematik studiert haben - ich habe das auch nicht, aber dafür haben wir uns beide mit Deutsch befasst -, müsste Ihnen rein rechnerisch dieser Sachverhalt klar sein. Jeder, der hier anders argumentiert, betrügt nicht nur sich selbst, sondern vor allem die Öffentlichkeit; das ist keine akzeptable Methode
Meine Damen und Herren! Die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Bildungskarrieren sind ein Gradmesser dafür, wie mit den Chancen von Kindern in einem Bildungssystem umgegangen wird. Die Art, wie ein Land mit der Chancengleichheit umgeht, zeigt wiederum, wie es seine Bildungsressourcen nutzt. Das ist auch der Grund, warum die Untersuchung der Kopplung zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzniveau ein fester Bestandteil der Pisa-Studien ist.
Die Pisa-Erhebung 2003 stellt diesbezüglich erneut ein schlechtes Zeugnis aus und bescheinigt uns wie schon die Pisa-Studie 2002 in Deutschland und auch in Sachsen-Anhalt ein Gerechtigkeitsproblem.
Meine Damen und Herren, könnten Sie bitte den Lärmpegel etwas senken? Es wird sonst sehr kompliziert für unsere Stenografen.
Meine Damen und Herren! Man kann es nicht glauben, aber es ist so: Eine der größten Industrienationen der Welt nutzt ihre vorhandenen Bildungsressourcen eben nicht in dem Maße, wie es notwendig wäre. Das können wir uns schlichtweg nicht leisten. Im internationalen Maßstab gibt es kaum ein Land, in dem die soziale Herkunft so stark die Bildungschancen bestimmt wie in Deutschland. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei alarmierende Befunde, die in einem ursächlichen Zusammenhang stehen.
Erstens. Die Chancen für Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten, zum Beispiel ein Gymnasium zu besuchen, sind sehr ungleich verteilt. Während gemäß der Studie im Durchschnitt 61 % der 15-Jährigen aus begüterten Familienverhältnissen ein Gymnasium besuchen, sind es bei den 15-Jährigen aus sozial schwachen Schichten nur 8 %.
Zweitens. Die Kompetenzverbesserungen sind nicht gleichmäßig über die Schulformen verteilt. Während die Gymnasien Zuwächse nachweisen können, gibt es an Hauptschulen kaum oder wenig Kompetenzzuwächse.
Der in der letzten Woche der Öffentlichkeit vorgestellte zweite Ländervergleich bescheinigt, wie bereits erwähnt, auch unserem Land große Defizite im Hinblick auf die Chancengleichheit. So haben Kinder aus sozial schwachen Familienverhältnissen, wohl gemerkt bei gemessenen gleichen Grundfähigkeiten, in unserem Bundesland eine über sechsmal geringere Chance als Kinder aus der Oberschicht, ein Gymnasium zu besuchen.
Damit nimmt unser Land den vorletzten Rang im innerdeutschen Vergleich ein und befindet sich erheblich über dem schon inakzeptablen bundesdeutschen Durchschnitt, der bei einer viermal geringeren Chance liegt. Lässt man die vergleichbaren Grundfähigkeiten außer Acht, liegt Sachsen-Anhalt im bundesdeutschen Vergleich auf dem letzten Platz. In diesem Fall ist die Chance für Kinder aus sozial schwachen Familienverhältnissen, ein Gymnasium zu besuchen, sogar zehnmal geringer.
Als ob diese Befunde nicht schon erschreckend genug wären, schockieren die Stellungnahmen unseres Kultusministers in den Medien dazu umso mehr. So äußerte sich Professor Olbertz in den vergangenen Tagen in den Medien mehrfach wie folgt - ich zitiere -: Es sei keineswegs von vornherein beunruhigend, wenn Kinder mit einem guten Realschulabschluss in die Fußstapfen ihrer Eltern träten und eine Facharbeiter- oder Handwerkerlehre absolvierten.
Herr Minister, wenn die diesbezüglichen Befunde der Pisa-Studie für Sachsen-Anhalt nicht beunruhigend für Sie sind, dann stimmt das bedenklich, und es offenbart - das ist das Entscheidende - Ihr antiquiertes Verständnis von Chancengleichheit im Bildungssystem.
Man gewinnt den Eindruck, als verführen Sie nach dem Grundsatz: Schuster, bleib bei deinen Leisten: Vater Maurer - Sohn Maurer, Mutter Ärztin - Tochter Ärztin.
Solche Äußerungen eines Kultusministers halten wir für sehr bedenklich und vor allem auch für sehr bedauerlich; denn er müsste es eigentlich besser wissen. Es reicht eben oft nicht mehr aus, dass Jugendliche in die Fußstapfen ihrer Eltern treten. Um künftig - wir reden über die Zukunft - beruflich und privat erfolgreich zu sein, muss man häufig mehr wissen als die Eltern und auch häufig einen höheren Schulabschluss erwerben.
Der Wissenschaftsrat, meine Damen und Herren, prognostiziert für den Zeitraum bis zum Jahr 2015 einen Bedarf von 30 % an Arbeitsplätzen für Hochschulabsolventen. Dagegen beträgt der Anteil der Hochschulabsolventen an der erwerbstätigen Bevölkerung gegenwärtig in Deutschland nur 18 %. Ich wiederhole: 18 %. Im internationalen Maßstab gerät Deutschland damit gegenüber Ländern wie zum Beispiel den USA mit 29 % weiter ins Hintertreffen.
Im Gegenzug wird prognostiziert, dass der Anteil der Arbeitsplätze mit einfachen Tätigkeitsprofilen in den nächsten beiden Jahrzehnten unter 20 % fallen wird. Damit
Meine Damen und Herren! Vor diesem Hintergrund kann man die in den letzten drei Jahren von der CDU-FDPLandesregierung und den sie tragenden Fraktionen vorgenommenen bildungspolitischen Weichenstellungen wie zum Beispiel die Wiedereinführung des Hauptschulbildungsganges und die Zugangsbeschränkung beim Gymnasium nur als Anachronismus bezeichnen.
Die entscheidende Frage, die sich stellt, lautet: Wie erreichen wir in Sachsen-Anhalt, aber auch in ganz Deutschland, eine Entkoppelung des hohen Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg?
Meine Damen und Herren! Ein „weiter so“ führt uns nicht zum Erfolg. Herr Dr. Volk, wir wären froh, wenn wir Ihre Gewissheit hätten, dass das bestehende Schulsystem eine gute Grundlage sei, um jeden Schüler entsprechend seinen individuellen Fähigkeiten zu fördern. Nur, die aktuellen Ergebnisse der Pisa-Studie beweisen gerade das Gegenteil.
Es ist noch Schlimmeres für Sachsen-Anhalt zu befürchten. Die von CDU und FDP beschlossenen Zugangsbeschränkungen beim Gymnasium bzw. die Wiedereinführung des Hauptschulbildungsgangs konnten natürlich aufgrund der Zeitläufe bei der Studie im Jahr 2003 noch keine Berücksichtigung finden. Es scheint sehr wahrscheinlich zu sein, dass sich die Befunde im Hinblick auf die starke Koppelung von sozialer Herkunft und Schulerfolg weiter verschlechtern werden. Warten wir die PisaStudie im Jahr 2006 ab.
Meine Damen und Herren! Auf die dargestellte Situation müssen wir reagieren - ich denke, auf jeden Fall anders als die gegenwärtige Landesregierung. Ignoranz und Selbstbeweihräucherung helfen uns bei der Problemlösung nicht.