Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion hat die Abstimmung freigegeben. Das ist nicht die Folge einer Unfähigkeit zu einer mehrheitlichen Meinungsfindung und Entscheidung. Ja, es geht um eine raumordnerische Entscheidung, aber eben nicht ausschließlich.
Mit der heutigen Abstimmung sind starke Emotionen verbunden. Dazu gehören Heimatgefühl, lokale Verbundenheit und auch Lokalpatriotismus. Gewissen und Gewissensentscheidungen sind nie nur emotionslos oder vernunftbestimmt. Es ist auch immer ein Ausdruck von Gefühl. Es ist zwar richtig, dass Lokalpatriotismus selten ein guter Leitfaden für landespolitische Entscheidungen ist.
Aber hierbei ist zu beachten, dass das Landesinteresse darin besteht, über den Kreissitz zu entscheiden, weil vor allen Dingen eine Entscheidung der Verantwortlichen vor Ort vermieden werden soll, die miteinander die gemeinsame Zukunft des neuen Kreises gestalten sollen. Eine Entscheidung nur vor Ort würde Verwerfungen mit sich bringen, die einer guten Entwicklung entgegenstehen würden.
Aber der landespolitische Schaden für den Fall, dass die Stadt A und nicht die Stadt B den Kreissitz erhält, hält sich in Grenzen, weil alle Kandidaten in der Lage sind, ein gewichtiges Pfund in die Waagschale zu legen. Wichtig ist aus der Sicht des Landes, dass ein Kreissitz bestimmt wird und die Auswahl nachvollziehbar ist, um eine Akzeptanz in der Bevölkerung zu finden. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Die heutige Entscheidung zur Bestimmung der Kreissitze in den neuen Kreisstrukturen, die im letzten Monat beschlossen worden sind, löste eine Emotionalisierung aus, wie ich sie zumindest seit meiner Mitgliedschaft im Landtag, seit 1994, in diesem Land noch nicht so häufig erlebt habe. Es ist schon erstaunlich, mit was wir in den letzten Wochen hier konfrontiert worden sind.
Das mag vor dem Hintergrund der gravierenden sozialen und ökonomischen Probleme in diesem Land verwunderlich sein, für den einen oder anderen auch kritikwürdig. Aber darüber zu sinnieren ist wohl eher eine brotlose Kunst. Man kann sich vielleicht umgekehrt sehr wohl darüber freuen, dass bei den Bürgern in SachsenAnhalt die Identifikation mit der eigenen Heimat, mit der eigenen Kommune doch stärker ist, als wir es vielfach geglaubt haben.
Der zentrale inhaltliche Ansatz unserer Fraktion zur Bewertung dieser Entscheidungsvorlage ist jedoch unsere Haltung zur Gebietsreform der Koalition insgesamt. Auch in den letzten Wochen hat sich unsere Position dazu nicht geändert. Dieses Gesetzeswerk ist inkonsequent. Es ist ineffizient. Dieses Gesetzeswerk raubt dem Land Zeit und Geld
Es stellt keinen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit dieses Landes dar. Unser erklärtes Ziel bleibt es dabei, in der nächsten Legislaturperiode eine Regionalkreisreform umzusetzen, die die moderne Zweistufigkeit der Verwaltung in Sachsen-Anhalt ermöglicht.
Im Gegensatz zu anderen lassen wir uns dabei nicht von einem allen Institutionen innewohnenden Strukturkonservativismus bremsen. Wir werden diesen Reformschritt auch dann ansteuern, wenn uns mächtig Gegenwind entgegenbläst.
Da die den heutigen Entscheidungen zugrunde liegenden Kreisstrukturen von uns aus den genannten Gründen abgelehnt werden, können und wollen wir uns als Fraktion auch nicht in diese Kreisstadtentscheidungen hineinbegeben. Jetzt will ich noch einmal erklären, warum wir uns der Stimme enthalten werden.
- Herr Scharf, hören Sie zu! - Wir haben ein alternatives Konzept, die Regionalkreisbildung. Damit ziehen wir jetzt in den Landtagswahlkampf.
Wenn wir heute, am 10. November 2005, zum Beispiel für die Kreisstadt Wittenberg stimmen würden, aber gleichzeitig in das Land hinausgehen und sagen, wir wollen in der nächsten Legislaturperiode fünf Regionalkreise haben und in diesen fünf Regionalkreisen würde es keine Kreisstadt Wittenberg geben, sondern die Kreisstadt Dessau, dann wäre eine Abstimmung heute für Wittenberg politisches Taktieren, das an dem Kriterium der Wahrheit scheitern würde. Deshalb enthalten wir uns der Stimme.
Also: In unserem Regionalkreiskonstrukt gibt es einen Landkreis, der ist nicht 100-prozentig, aber überwiegend identisch mit dem, was hier im letzten Monat beschlossen worden ist. Das ist der Harzkreis. Das bedeutet, dass wir in unserer Kreisstrukturdiskussion diese Frage genauso entscheiden müssten, wie Sie es jetzt nach Ihrem Konzept entscheiden müssen. Das heißt, an dieser Stelle haben wir genau dasselbe Problem mit unserer Strukturreform.
Jetzt wäre es verdammt bequem zu sagen: Mein Gott, es ist aber nicht unsere Strukturdebatte; also halten wir uns heraus. Das wäre feige, weil wir die Frage, ob Quedlinburg, Wernigerode oder Halberstadt den Kreissitz bekommt, auch in unserem Konzept beantworten müssten. Das ist aber auch die einzige Übereinstimmung.
Deshalb werden wir uns hier nicht abducken, sondern sagen: Jawohl, wir haben uns in unserer Fraktion eine Position pro Halberstadt erarbeitet. Das ist eine Position in einer der heißesten Auseinandersetzungen dazu. Da positionieren wir uns. Deshalb ist das Argument, wir würden uns mit unserer Enthaltung abducken, definitiv falsch. Dort, wo wir auch nach unserem Konzept entscheiden müssten, entscheiden wir. Das werden wir heute auch tun.
Neben dem grundsätzlichen Problem mit der von der Koalition beschlossenen Kreisgebietsreform wird bei der heutigen Entscheidung noch ein weiterer wichtiger Konstruktionsfehler des Koalitionskonzepts deutlich: die ausgesprochen schwierige Situation der vielen Mittelzentren bei uns im Land. Da haben wir vor dem Hintergrund der finanziellen Situation im Land und der demografischen Situation tatsächlich die Angst vieler Mittelzentren, demnächst keine mittelzentralen Funktionen mehr ausfüllen zu können. Das ist nicht etwas, was im Landesentwicklungsplan auf dem Papier steht, sondern etwas, was sich im Leben abspielt.
Jetzt haben wir in dieser extrem komplizierten Situation, in der man nur immer ängstlich auf den Konkurrenten schaut, nach Ihrem Konzept auf einmal eine Entscheidung zu treffen, die eine ganz klare Gewinner-VerliererEntscheidung ist. Der eine wird es, der andere nicht. Unsere Anregung, vielleicht doch einen finanziellen Ausgleich zu schaffen, hat keine Mehrheit gefunden, üb
Das führt natürlich in den Mittelzentren, die den Kreissitz möglicherweise - nicht möglicherweise, sondern tatsächlich - heute verlieren werden, zu der Angst, demnächst auch keine Mittelzentren mehr zu sein, weil sich alles auf die Kreisstadt konzentriert. In dieser Situation sagte der Ministerpräsident schon im Sommer dieses Jahres: Wartet mal, die Kreisstadtentscheidung ist doch nicht alles; im 21. Jahrhundert ist das doch eher ein verwaltungsinternes Argument.
Darüber kann man übrigens diskutieren. Ich neige dieser Argumentation auch eher zu. Aber sie wird von der Landesregierung nicht geteilt, weil im Begründungstext für die Kreisstadtfrage eindeutig definiert wird, dass die zukünftige Kreisstadt das - ich betone: d a s - Versorgungszentrum des neuen Landkreises sein soll. Was denn nun: verwaltungsinterne Frage oder Versorgungszentrum? - Da müssen Sie sich schon einmal entscheiden.
Wenn dort „Versorgungszentrum“ steht, bedeutet das, dass die anderen es nicht mehr sein werden und demzufolge ihre mittelzentralen Funktionen verlieren. Daher kommt die Angst. Die Angst ist unnötig. Das hätte man nicht machen müssen. Das ist einer der großen Konstruktionsfehler Ihrer Reform.
Das ist vor allem insofern bemerkenswert: Als sich die SPD mit ihren Zukunftspapieren auf dem Markt bewegt hat, hat sie doch sehr stark auf Zentren gesetzt. Dann kam die Gegenreaktion der CDU: Ja, Zentren müsse man auch im ländlichen Raum haben und so wie die SPD könne man nicht argumentieren.
Wenn Sie diesen Weg aus der Gesetzesbegründung weitergehen wollen, den übrigens der Innenminister in mehreren Reden und Presseerklärungen noch einmal bekräftigt hat - da ging es immer um Schönebeck -, dann müssen Sie so ehrlich sein zu sagen: Wir wollen die Zentren in der Fläche erst einmal radikal reduzieren und dann kümmern wir uns um die, die verblieben sind. Das habe ich aber von Ihnen bisher nicht gehört.
Alternativ dazu gibt es die Möglichkeit, Mittelzentren in Städtenetzwerke einzubinden, also eine Diskussion darüber in Gang zu bringen, wie man möglicherweise mittelzentrale Funktionen so auf die Städte verteilen kann, dass sie zusammen ein dynamisches Netzwerk bilden, dass sie gemeinsam versuchen, sich dynamisch zu entwickeln und nicht als Konkurrenten untereinander zu agieren.
Natürlich ist das auch nach der heutigen Entscheidung möglich, aber es ist bedeutend schwieriger, weil dann ein Kreissitz mit einem ehemaligen Kreissitz verhandelt, also nicht mehr Gleiche unter Gleichen. Deshalb ist die Idee des Städtenetzwerkes natürlich viel besser unterzubringen, wenn ich diese Konkurrenz, die vermeidbar ist - manchmal kann man die Dinge nicht vermeiden; hier wären sie vermeidbar gewesen -, nicht geschaffen hätte.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung der Mittelzentren ist oder, besser gesagt, wäre eine umfassende Funktionalreform. Frau Dr. Paschke wird dazu nachher bei der Beratung über unseren Antrag reden. Der Landkreistag hat es noch einmal deutlich formuliert: Eine Funktionalreform ist ausgefallen. Oder wie
der Landrat in Stendal uns sagte: Bei der letzten Landesregierung hatte man kein Konzept; der eine war für eine Funktionalreform und die Kommunalisierung von Aufgaben, der andere war dagegen. Diese Landesregierung hat ein Konzept: alle Aufgaben nach oben zum Land. - Wie gesagt, ein CDU-Landrat aus dem Landkreis Stendal sagt uns das. Ich konnte ihm nicht widersprechen; das ist zweifellos so.
Wenn ich dann aber eine solche Funktionalreform nicht mache oder womöglich sogar das Gegenteil davon, habe ich keine Chance, aus den Kreisverwaltungen Aufgaben in die gemeindlichen Strukturen, also auch in die Mittelzentren, hineinzugeben. Das werden die Kreise natürlich nicht machen, wenn sie keine Aufgaben von oben bekommen. Sonst würden sie völlig ausgedünnt werden.
Wenn man die Mittelzentren stärken will, braucht man in diesem Land eine Funktionalreform. Dabei muss man Aufgaben vom Land in die Kreise und von den Kreisen in die Gemeinden geben, und das haben Sie nicht getan.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf ein Problem hinweisen. Das hat nichts mit unterschiedlichen Konzepten zu tun, sondern mit dem Problem, dass das Konzept der Landesregierung zur Kreisstadtbestimmung ganz offensichtlich in der Koalition und auch in der SPD völlig ignoriert wird. Wissen Sie, Herr Rothe, man kann sich über die Kriterien der Landesregierung aufregen. Aber sie hat wenigstens welche. Die Koalition hat offensichtlich keine.