Protocol of the Session on July 18, 2002

(Beifall bei der PDS und bei der SPD)

Alle Ihre Reformvorhaben, die Sie jetzt priorisieren, werden ihre Effizienz- und Machbarkeitsgrenzen letztlich genau an dem Punkt finden, wo kommunale, kreisliche und gemeindliche Strukturen der Grundstein für diese Reform sind. Diese Haltung passt ganz und gar nicht in Ihr Effizienz- und Wirtschaftlichkeitskonzept und ist obendrein in den Einzelteilen nicht schlüssig. Lassen Sie mich das anhand einiger Beispiele verdeutlichen.

Erstens. Sie haben alle rechtlichen Grundlagen der Reformziele in der Funktionalreform mit der Begründung außer Kraft gesetzt, Sie hätten grundlegend andere Reformziele. Bitte lesen Sie sich den § 2, der die Ziele beschreibt, durch! Ich wüsste nicht eine der dort genannten Zielstellungen, die man anders formulieren könnte. Sie gelten in allen Ländern; die CDU hat sie sich auf die Fahne geschrieben. Ich frage mich, warum der Paragraf gestrichen worden ist. Ich bin gespannt, welche anderen Reformziele Sie formulieren wollen.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD)

Zweitens. Sie haben auch die §§ 4 und 5 in Kraft gelassen. Sie betreffen die Regierungspräsidien und das Landesverwaltungsamt. Ich habe mich zunächst sehr gewundert, dass sie beibehalten wurden, obwohl Sie im Hinblick auf den Charakter, auf die Aufgabenstellungen und die Außenstellen andere, modifizierte Aussagen getroffen haben. Erst später, als Herr Kolze gesagt hat, diese Paragrafen würden, wenn auch nicht gleich, novelliert werden, denn man müsse einen gesetzlichen Rahmen für die Regierungspräsidien schaffen, weshalb man sie im Gesetz belassen hätte, wurde mir Ihre Absicht klar.

Ich sage Ihnen: Sollte diese Bestimmung nur für ein paar Monate gültig sein? Für ein paar Monate hätte nicht gleich irgendein Verfassungsgericht geklagt, weil die Regierungspräsidien nun nicht zehn Jahre, sondern noch zwei Monate länger kein Gesetz hätten. Vielmehr sind diese Paragrafen erhalten geblieben, weil man es politisch gewollt hat. Wären sie abgeschafft worden, wäre

zugleich das öffentliche Aushängeschild „Abschaffung der Regierungspräsidien“ zerstört worden. Dieses Meinungsbild brauchte man jedoch.

Meine Damen und Herren von der Koalition! Bereits im Mittelinstanzbericht der ersten Wahlperiode ist nur von der potenziellen Abschaffung der Regierungspräsidien die Rede, davon, sie auf den Weg zu bringen. Optimal dafür sind jedoch maximal acht bis zehn Landkreise, nicht aber 21.

(Zustimmung von Frau Bull, PDS, und von Frau Budde, SPD)

Also wird es eine Abschaffung der Regierungspräsidien in dieser Form niemals geben. Sie bauen die klassische Mittelinstanz aus. Wir hätten die Regierungspräsidien auch nicht gleich im Jahr 2004 abschaffen können, aber eines hätten wir geschafft: Mit der Kommunalreform hätten wir zumindest die Wege dafür nicht ein für alle mal verbaut.

(Zustimmung bei der PDS und bei der SPD)

Drittens. Heiß diskutiert wurde in dieser Reform über den Begriff Leistungsfähigkeit der Kommunen und insbesondere über den Stellenwert der Einwohnerzahl. Sie sind nun derzeit die einzige Landesregierung, die auf Einwohnerzahlen verzichtet und diese aus dem Gesetz streicht. Ich muss einmal sagen, dass wir das hervorragend finden würden. - Herr Becker nickt ganz eifrig.

Aber welche anderen Kriterien können Sie anstelle dessen setzen? Sie werfen uns immer vor, wir hätten nur Einwohnerzahlen gehabt. Ich bitte Sie sehr, in dem jetzt in den Mülleimer geworfenen § 3 noch einmal nachzulesen. Darin waren die Einwohnerzahlen genannt, darin war die Zweistufigkeit genannt, darin war die Bündelungsbehörde genannt, die auf einer unteren Ebene angesiedelt werden soll, und darin waren alle Kommunalisierungsvorhaben in ihren Grundsätzen bestimmt. Dafür sollte die Leistungsfähigkeit ausgebaut werden.

Die Leistungsfähigkeit ist nicht nur angesichts des derzeitigen Zustands zu definieren, ob die Kommunen ihre jetzigen Aufgaben wahrnehmen können. Nein, wenn so eine Reform angepackt wird, geht es vor allen Dingen um die Leistungsfähigkeit, die die Kommunen in zehn bis zwölf Jahren haben müssen. Es geht um die Leistungsfähigkeit, damit die Kommunen die Aufgaben wahrnehmen können, die Sie ihnen jetzt übertragen wollen. Dazu komme ich noch.

Herr Becker, ich achte Sie als Fachpolitiker. Ich möchte aber wirklich irgendwann einmal von Ihnen wissen, wie Sie dazu kommen - welche neuen Erkenntnisse Sie im Gegensatz zu der Reform aus dem Jahr 1994 dazu bewogen haben -, auf genau dieses Kriterium, das Sie die „zentrale Leitbildgröße Einwohnerzahl“ nannten, zu verzichten. Ich sage das nicht als politischen Abschlag. Ich sage das als eine Person, die intensiv mit anderen Kolleginnen und Kollegen an diesem Paket gearbeitet hat. Wir haben eben nicht andere Wege gefunden. Bisher sind Sie uns diese anderen Wege, diese Möglichkeiten schuldig geblieben. Es wäre eine Revolution im Zusammenhang mit der Funktional- und Gebietsreform, wenn Sie das packen würden. Auf diese Revolution bin ich gespannt.

(Beifall bei der PDS)

Viertens. Eng mit der Leistungsfähigkeit der Kommunen ist die Aufgabenverlagerung verbunden. Sie haben gesagt, per 31. Dezember wollen Sie all die Aufgaben

kommunalisieren, die in dem gemeinsamen Entschließungsantrag in der Drs. 3/5222 definiert sind. Sie wissen, in der letzten Plenarsitzung, nur fünf Monate vor diesem Termin, antwortete der Innenminister,

(Frau Bull, PDS: Ha!)

dass er „glaubt“, dass es diese Aufgaben seien, und der Sozialminister referierte, ob und wie und wo man eventuell die überörtliche mit der örtlichen Sozialhilfe zusammenführen könnte.

Sie legen heute einen Entschließungsantrag auf den Tisch, in dem steht, dass die Landesregierung beauftragt werden soll, ein Gesetz zur Landesorganisation und ein Konzept zur Entbürokratisierung und Aufgabenverlagerung vorzulegen. Aber bis zum 31. Dezember 2002 muss dieses Gesetz schon vorliegen; denn die meisten Aufgaben, ganz unabhängig davon, dass man sie zu großen Teilen gar nicht kommunalisieren kann, brauchen eine gesetzliche Grundlage, und diese fehlt.

(Frau Ferchland, PDS: Hausaufgaben! - Zuruf von Frau Bull, PDS - Zustimmung von Frau Dr. Sitte, PDS)

Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen. Das hatte der Kollege Püchel auch schon angedeutet. Wissen Sie, ich habe festgestellt, als sich die Abschaffung angedeutet hat, dass das größte Risiko für diese Reform nicht darin besteht, dass sie in einer gemeindlichen Strukturreform verstümpert wird, sondern darin, dass dieses Land jetzt über Jahre von jedem bundesweiten und internationalen Trend abgekoppelt wird. Dafür müssen Sie die Verantwortung übernehmen.

(Beifall bei der PDS und bei der SPD - Zuruf von Herrn Tullner, CDU)

Diese Verantwortung soll jeder selbst tragen; deshalb beantragen wir die namentliche Abstimmung über diesen Gesetzentwurf.

(Oh! bei der CDU)

Wir werden dem Antrag der SPD-Fraktion zustimmen und den Entschließungsantrag ablehnen. - Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD)

Danke, Frau Dr. Paschke. - Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Herr Wolpert. Bitte, Herr Wolpert.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! In der heutigen zweiten Lesung liegt Ihnen das Gesetz zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in geänderter Fassung vor. Das Ziel, die anstehende Kommunalreform mit einer gestiegenen Leistungsfähigkeit der Kommunen zu verbinden, ist jedoch gleich geblieben.

Der von der FDP vertretene Ansatz, dass vor einer Strukturreform eine Funktionalreform stehen muss, bedingt es, dass die Vorschaltgesetze der alten Regierung außer Kraft gesetzt werden. Das ist deshalb der richtige Weg, weil es bei der Überlegung, welche Strukturen notwendig sind, unabdingbar ist, zu wissen, welche Aufgaben gestellt sind. Folglich ist die Festschreibung von

Strukturen vor der Bestimmung der zu bewältigenden Aufgaben eher schädlich als nützlich.

Da wir vorrangig eine größtmögliche Entscheidungsfreiheit vor Ort in den Kommunen für erstrebenswert halten, ist die Abschaffung der in den Vorschaltgesetzen implementierten Zwänge in Form von Einwohnerzahlen und Fristen unumgänglich. Die damit einhergehende Verlagerung der Verantwortung für vernünftige Entscheidungen auf die kommunale Ebene ist deshalb gewollt.

Meine Damen und Herren! Die nunmehr vorliegende Fassung des Gesetzentwurfes in Form der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres trägt, wie Sie erkennen können, eine geänderte Überschrift. Der an der ursprünglichen Überschrift geübten Kritik wurde insoweit Rechnung getragen, als das Wort „Wiederherstellung“ durch das Wort „Stärkung“ ersetzt wurde. Die neuerliche Kritik an dem Wort „Stärkung“ allerdings ist zurückzuweisen.

(Herr Dr. Püchel, SPD: Warum?)

- Das erkläre ich Ihnen.

(Herr Dr. Püchel, SPD: Ach so!)

Die Vorschaltgesetze sahen vor, dass eine Gemeinde unterhalb einer gewissen Einwohnerzahl durch Zwang ihre Selbständigkeit verlieren sollte. Der damit verbundene rein quantitative Verlust an kommunaler Selbstverwaltung ist nach unserer Überzeugung nicht automatisch qualitativ wettzumachen. Wenn Einwohnerzahlen festgeschrieben werden, ohne die Besonderheiten vor Ort berücksichtigen zu können, dann haben sie nicht automatisch eine qualitative Verbesserung zur Folge, die den Verlust an kommunaler Selbstverwaltung wieder ausgleicht. Die Abschaffung der Vorschaltgesetze stellt folglich eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung dar.

In den Artikeln 1 bis 3 des Gesetzentwurfes erfolgt die Abschaffung der Vorschaltgesetze Nr. 1 bis 3. In Artikel 2 wird das Zweite Vorschaltgesetz jedoch nur teilweise aufgehoben. Die §§ 4, 5, 6 und 9 bleiben mit der Maßgabe bestehen, dass in § 5 Abs. 2 Satz 1 die Angabe nach § 3 Abs. 1 aufgehoben wird. Das war eine Anregung der PDS-Fraktion im Rechtsausschuss, der gefolgt worden ist. Die Änderung in dem Entwurf ist letztlich nur der Rechtsförmlichkeit geschuldet. Ich weiß, dass sich Juristen darüber streiten können, ob das notwendig gewesen ist, aber so ist es klarer.

Die Beibehaltung der §§ 4, 5, 6 und 9 ist notwendig, um nicht wissentlich die einzige Rechtsgrundlage für die Regierungspräsidien abzuschaffen. Es mag sein, dass in den nächsten vier bis fünf Monaten tatsächlich nichts passiert. Wenn man aber sieht, dass etwas passieren könnte, muss man nicht ohne Not die Flanke öffnen und angreifbar machen. Von daher ist es durchaus richtig, dass diese Paragrafen zunächst beibehalten werden, bis ein Landesorganisationsgesetz eine andere Struktur schafft.

Artikel 4 betrifft die Abschaffung des Verbandsgemeindeeinführungsgesetzes. Ich hatte bereits in der ersten Lesung dargelegt, dass dieses ungeliebte Modell aus Niedersachsen selbst in seinem Heimatland kein Renner, sondern eher ein Auslaufmodell ist.

Die Einfügung der Artikel 6, 7 und 8 ist der Rechtsförmlichkeit geschuldet. Hierin werden die Auswirkungen der Vorschaltgesetze in der Landkreisordnung, im Kom

munalwahlgesetz und im Gesetz über die kommunale Gemeinschaftsarbeit korrigiert. Schließlich wird der ehemalige Artikel 6 zu Artikel 9, der die Inkraftsetzung regelt.

Sehr verehrte Damen und Herren! Die an diesem Gesetz geäußerte Kritik ist natürlich auch mir nicht verborgen geblieben. Ich will hier kurz darauf eingehen.

Mit dem Gesetz soll im Wesentlichen der Status quo wiederhergestellt werden, der vor dem In-Kraft-Treten der Vorschaltgesetze bestand. Es handelt sich also lediglich um einen „actus contrarius“, wie Sie es so schön formulierten, Herr Rothe - ich habe das geklaut, ich gebe es zu -, und nicht um eine Funktional- und Gebietsreform selbst.

Die so vehement geforderte Anhörung der kommunalen Spitzenverbände zu diesem Gesetz war folglich entbehrlich.

(Herr Dr. Püchel, SPD: Warum?)

Die kommunalen Spitzenverbände waren zu diesem Gesetzentwurf gehört worden.

(Herr Dr. Püchel, SPD: Wann denn?)

Durch den Gesetzentwurf waren keine weiteren Belange berührt worden, zu denen noch einmal eine Anhörung notwendig gewesen wäre.

Mir ist es wesentlich lieber, mit den kommunalen Spitzenverbänden über die neuen Vorschläge, die wir zu erbringen haben und die in die Beschlussempfehlung eingearbeitet worden sind, zu diskutieren, als über die Abschaffung von altbekannten zu diskutieren. Dafür ist eine Anhörung meines Erachtens nicht gedacht.