Protocol of the Session on July 18, 2002

Meine Damen und Herren! Die kommunale Selbstverwaltung kann gerade auch im Sinne von mehr Bürgernähe nur mit einer angemessenen Verwaltungskraft mit Leben erfüllt werden. Die neue Landesregierung betreibt an dieser Stelle keine Realpolitik, sondern hat sich einer emotional begründeten fundamentalistischen Position der kommunalen Kleinstaaterei,

(Zuruf von Herrn Becker, CDU)

wie es Herr Becker erzählt, aber nie praktiziert hat, verschrieben.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Der Glaube, eine Gebietsreform könne, abgesehen von einigen Einzelfällen, auf rein freiwilliger Basis erfolgen, beruht auf einer bewussten Ausblendung der Wirklichkeit.

(Zustimmung bei der SPD - Oh! bei der CDU - Frau Theil, PDS: Das ist ein Traum!)

So ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher noch keine Kommunalreform durchgeführt worden, meine Damen und Herren.

Das bittere Unvermögen der Landesregierung, das Notwendige zu tun, führt zu einem nachhaltigen Schaden, der unserem Land entsteht. Die neue Landesregierung wirft unser Land um Jahre zurück, wenn sie die jetzt schon weit fortgeschrittene, geordnete Kommunalreform scheitern lässt.

Sie schieben der alten Landesregierung so vieles in die Schuhe, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, und Sie sprechen ständig von Erblasten. Die konsequente Umsetzung der Kommunalreform hätten Sie von mir aus auch gern der Öffentlichkeit als Erblast der alten Regierung vorwerfen können, wenn Sie sie wenigstens umgesetzt hätten.

Die Amtsgerichtsreform haben Sie nicht gestoppt. Das Landesverwaltungsamt, das ich initiiert hatte und das

Sie als Etikettenschwindel bezeichneten, setzen Sie auch um. Im Hinblick auf diese Vorhaben haben Sie Lernfähigkeit gezeigt. Warum verweigern Sie sich bei der Kommunalreform? Mit einem Federstrich wird heute die politische Diskussion, die im ganzen Land über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg geführt wurde, zurückgeworfen.

Ich teile den Protest der kommunalen Spitzenverbände in ihrem Brief vom 4. Juli 2002 voll und ganz. Diesen Protest nehmen die Koalitionsfraktionen aber scheinbar nicht zur Kenntnis. Sie wollen ihn nicht wahr haben, sonst hätten sie die kommunalen Spitzenverbände im Ausschuss wenigstens einmal anhören können.

Die Stellungnahme wäre aber so eindeutig ausgefallen, dass Sie es nicht einmal gewagt haben, die Spitzenverbände anzuhören.

(Zuruf von Herrn Becker, CDU)

- Doch, so ist es, Herr Becker. - Da ich viele bedeutende CDU-Politiker wie Sie lange genug kenne und schätze, würde ich es nie wagen, an eine Amnesie oder an Alzheimer bei Ihnen überhaupt zu denken.

(Oh! bei der CDU)

Umso mehr verwundert mich Ihr jetziges Verhalten.

Meine Damen und Herren! Vielleicht können Sie sich auch bloß nicht an alles erinnern, was Sie in Oppositionszeiten gesagt, gefordert und versprochen haben. Ich möchte Sie deshalb in diesem Zusammenhang an Ihre Antworten auf die Fragen des Städte- und Gemeindebundes anlässlich der Wahl 2002 - wohlgemerkt 2002, das ist doch Amnesie - erinnern. Ich zitiere:

„Für die CDU ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die kommunalen Spitzenverbände bei Eingriffen der Exekutive und Legislative in den Verantwortungsbereich der Kommunen in angemessener Form beteiligt werden.“

(Zuruf von Frau Weiß, CDU)

Was ist denn angemessen, wenn sie nicht einmal angehört werden? Das wird eine schöne Praxis in diesem Landtag.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS - Zu- ruf von Herrn Becker, CDU)

- Herr Becker, nicht zum Pharisäer werden. Sie haben leider Ihren Ankündigungen keine Taten folgen lassen.

Meine Damen und Herren! Wie schnell kann man doch hehre Grundsätze vergessen, wenn sie einem nicht ins Konzept passen. Oder war Ihre Antwort auf die Frage der Spitzenverbände nur eine reine Sprechblase, um bei der Wahl zu punkten?

(Herr Bullerjahn, SPD: Natürlich!)

Meine Damen und Herren! Nach dem, was in den letzten Wochen abgelaufen ist, lohnt es sich auch nicht mehr, im Plenum über die Notwendigkeit der Kommunalreform zu diskutieren. Für die neuen Mitglieder im Landtag will ich an dieser Stelle wenigstens noch den ehemaligen Innenminister von Sachsen zitieren, der im April 2001 in einem Zeitungsinterview Folgendes sagte:

(Zurufe von Herrn Becker, CDU, und von Herrn Schomburg, CDU)

„Ich halte eine solche Reform, wie sie jetzt in SachsenAnhalt durchgeführt werden soll, für zwingend erforderlich.“ - Wer meinen Argumenten nicht folgen will oder folgen kann, dem empfehle ich, den Artikel von Herrn Hardrath zu lesen oder ihn vielleicht einzuladen, dass er darüber referiert.

Wem das noch nicht reicht - wie dem Kollegen Becker -, dem schlage ich vor, einmal nach Brandenburg zu fahren. Mein ehemaliger Kollege Schönbohm hat dort zwischenzeitlich die freiwillige Phase der Kommunalreform beendet. Er hatte auch Größenvorgaben gemacht.

In einem Fernsehportrait über Otto Schily hat Herr Schönbohm vor einigen Wochen gesagt, dass Otto Schily Platz in der CDU hätte. In Anbetracht Ihres Handelns bezüglich einer Gebietsreform und des Handelns von Herrn Schönbohm würde ich sagen: Herr Schönbohm hat einen Platz in der SPD-Fraktion von Sachsen-Anhalt verdient. Das trifft natürlich nur auf die Kommunalreform zu, für andere Dinge nicht.

Meine Damen und Herren! Die kommunalen Spitzenverbände haben in ihrem Brief zu Recht betont, dass die Verantwortung für die kommunale Strukturentwicklung beim Land liege und dass eine Funktionalreform eine Gebietsreform bedinge. Für die SPD-Fraktion war die Verantwortung für die Strukturentwicklung immer auch eine große Chance; denn in der Landespolitik gibt es eigentlich nur wenige Felder, auf denen Politik so direkt gestaltend wirken kann wie in der Innenpolitik. Hierzu gehört auch eine geordnete Kommunalreform.

Größere kommunale Einheiten könnten zum Beispiel besser im nationalen und internationalen Wettbewerb konkurrieren. Herr Ministerpräsident ist leider nicht anwesend. Er plädierte kürzlich für mehr Zusammenarbeit in Mitteldeutschland. Der Innenminister folgte ihm darin. Er wollte die Region bundesweit zu einem Begriff machen, mit Sachsen und Thüringen gemeinsam Aktivitäten zur Werbung für den Standort entfalten.

Sie haben zu Recht erkannt, dass sich das kleine Land Sachsen-Anhalt im Wettbewerb um Investoren kaum als europäische Region vermarkten lässt. Er beginnt mit der Kür und verweigert sich bei der Pflicht. In dieser Beziehung verweigern Sie sich auch bei der Pflicht. Die Pflicht besteht darin, erst einmal in unserem eigenen Land leistungsfähige Strukturen zu schaffen.

(Beifall bei der SPD)

Der Präsident des Städte- und Gemeindebundes Sachsen-Anhalt, Ihr Parteifreund Herr Pfützner, hat nach der Landtagswahl gesagt, dass man sicherlich unterschiedlicher Auffassung über die zeitlichen Prioritäten von Funktional- und Kommunalreform sein kann. Beide seien aber wichtig. Sachsen und Thüringen haben diese Reform bereits bewältigt. Das ist schlicht und einfach ein Standortfaktor für Sachsen-Anhalt.

Meine Damen und Herren! Angeblich versuchen Sie mit dem so genannten Investitionserleichterungsgesetz, das Sie gerade beschlossen haben, ein wirtschaftsfreundlicheres Klima für Sachsen-Anhalt zu schaffen.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU - Herr Becker, CDU: Richtig!)

Mit solchen halsstarrigen Aktionen wie dem Stopp der Kommunalreform führen Sie Ihre eben gemachten hektischen Bemühungen ad absurdum.

(Beifall bei der SPD)

Große Unternehmen brauchen auf der kommunalen Ebene adäquate Ansprechpartner. Der Chemiepark Bitterfeld/Wolfen liegt gut zur Hälfte im Gebiet der Gemeinde Greppin. Die Gemeinde Greppin hat ca. 3 000 Einwohner. Sie sollte der Kristallisationskern der so genannten „großen Stadt“ werden.

(Zuruf von der CDU)

- Von Ihrer Fraktion ist niemand mehr da; das Thema ist wahrscheinlich nicht mehr interessant für Sie.

Eine Stadt mit 60 000 Einwohnern würde sich wesentlich besser als Partner von Weltunternehmen eignen als die kleine Gemeinde Greppin. Die Gemeinde Greppin hat Ihren Politikwechsel zum Anlass genommen, aus dem Projekt „große Stadt“ auszusteigen. Damit ist ein zukunftsorientiertes Projekt mit positiven Auswirkungen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gestorben. So etwas bleibt auch potenziellen Investoren nicht verborgen. So etwas ist für die Wirtschaft ungleich wichtiger als die weiße Salbe Ihres so genannten Investitionserleichterungsgesetzes.

Es ist beinahe aberwitzig, dass die Entwicklung auf kommunaler Ebene ausgebremst wird, obwohl wir einen Stand erreicht hätten, dass sich bis zum Ende der freiwilligen Phase ca. drei Viertel der Gemeinden freiwillig in neuen Strukturen gefunden hätten.

(Herr Becker, CDU, und Frau Weiß, CDU: Ach!)

- Ach, Herr Becker, natürlich sind wir so weit gewesen, das wissen Sie doch selbst.

Wenn Sie schon nicht auf die Opposition hören wollen, dann würde mich interessieren, wie Sie auf den Brief des CDU-Ortsverbandes Hasselfelde reagiert haben. Der CDU-Ortsverband schrieb:

„Erschreckend und unverständlich ist für uns die von Ihnen angekündigte unverzügliche Aufhebung der drei Vorschaltgesetze zur Gebietsreform in Sachsen-Anhalt zu einer Zeit, in der fast die Hälfte aller Gemeinden bereits Bürgerbefragungen bzw. einen Bürgerentscheid durchgeführt haben und die Akzeptanz einen wider Erwarten positiven Ausschlag erfahren hat.“

Ihre Parteifreunde in Hasselfelde werfen Ihnen vor, die Gebietsreform zu stoppen, weil sie von der SPD stamme. Viele Kommunalpolitiker im Lande - egal welcher Couleur - verstehen schlichtweg nicht, was Sie mit dem Stopp der Kommunalreform veranstalten. Vor allem den Bürgermeistern ist bewusst, dass gerade die umfassende Aufgabenverlagerung von den Landkreisen auf die Gemeinden zum Scheitern verurteilt ist.

Meine Damen und Herren! Ich muss grundsätzlich im Hinblick auf diesen Tagesordnungspunkt sagen, dass die Fortsetzung Ihres Wahlkampfes mit gesetzgeberischen Mitteln schädlich für unser Land ist.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS - Zuruf von Herrn Becker, CDU)