Protocol of the Session on October 15, 2004

(Zustimmung bei der SPD - Herr Gürth, CDU: Die Großstädte müssen erst einmal von ihrem hohen Thron herunter kommen!)

Herr Gürth, hinsichtlich der Orientierungslosigkeit brauchen Sie ja nur Zeitungsschau zu machen. Da gibt es jede Menge Beispiele. Ich will einmal zwei oder drei nennen. Der Ohrekreis und der Bördekreis wollen nicht auf die Landesgesetze für eine Fusion warten, Herr Dr. Schrader, nach dem Motto: Agieren ist besser als reagieren. Abgesehen davon, dass der Landtag natürlich Fusionsabsichten zustimmen muss, wird hieran deutlich: Zuallererst muss eigentlich die Landesregierung agieren; denn Agieren der Landesregierung heißt letztlich Regieren.

Wenn sich der Fusionsprozess auf Kreisebene unkoordiniert, nach aktueller Sympathielage oder nach den persönlichen politischen Karriereabsichten vollzieht, dann bleibt - so die Sorge des Fraktionsvorsitzenden der FDP - womöglich am Ende ein Kreis über. Das kann es ja wohl nicht sein.

Also: Hier muss ein klarer Kurs her. Da startet der Innenminister einen Versuchsballon mit einer Karte über die mögliche Neugliederung der Kreise. Die Reaktion des CDU-Fraktionsvorsitzenden: Davon bin ich alles andere als begeistert.

Und der FDP-Fraktionsvorsitzende: Eine abgestimmte Vorgehensweise mit der Arbeitsgruppe die Regierungsfraktionen sei wünschenswert. - Offenbar hat es die nicht gegeben.

Das Ziel, das sich die Arbeitsgruppe der Koalitionsfraktionen selbst gestellt, nämlich im Juli ein Leitbild vorzulegen - leider liegt es bis heute nicht vor. Aus Sorge, zwischen alle Stühle zu geraten, haben sich zwei CDUAbgeordnete aus dem Harz Sprachlosigkeit verordnet. Sie sagen zu dieser Diskussion gar nichts mehr, weil sie Angst haben, zwischen alle Stühle zu geraten.

Es ist eben nicht einfach, regionale Interessen, Landesinteressen, vermeintliche Parteiinteressen und persönliche Interessen von Verantwortungsträgern in Einklang zu bringen.

(Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

Daher querbeet mein Appell an die Landtagsabgeordneten; denn wer Landtagsabgeordneter ist, meine ich, der

muss der Priorität zuallererst aus dem Landesinteresse, aus der Landesverantwortung heraus setzen.

(Zustimmung bei der SPD und von Herrn Kos- mehl, FDP - Herr Gürth, CDU: Richtig!)

Da ist es nur zu verständlich, meine Damen und Herren, dass die Landkreisversammlung in der vorigen Woche - heute genau von einer Woche - in Wittenberg die Forderung an die Landesregierung gerichtet hat: Konzeption, Ziele, Maßstäbe und Leitbild sollen endlich vorgelegt werden. Genau das ist das Anliegen unseres Antrages.

(Zustimmung bei der SPD)

Im Überschwang des Wahlsieges

(Herr Borgwardt, CDU: 80 %!)

mit erkennbarer Tendenz zur Arroganz der Macht haben Sie im Sommer 2002 die im Leitbild von 1999 mit den verschiedenen Vorschaltgesetzen geleistete Vorarbeit für eine Kommunalreform gnadenlos hinweggefegt.

(Herr Schröder, CDU: Das wollen Sie doch selbst nicht mehr!)

Nun müssen Sie erkennen, dass die Rahmenbedingungen und die Grundsätze für Reformen keine anderen sind als die der Reformansätze der Vorgängerregierung. Das Prinzip der Freiwilligkeit kann eben nur eingeschränkt gelten, will man zukunftsfähige Lösung anstreben und der Wirklichkeit dabei ins Auge sehen.

Dass die Reformblockade mit Beschluss der Landtagsmehrheit vom 18. Juli 2002 tatsächlich ein schwerwiegendes Eigentor war, haben, denke ich, weitgehend auch die Mitglieder der Koalitionsfraktionen inzwischen erkannt. Insofern war es ein Fehler, den ich immer wieder beklage, dass Sie den Protest der kommunalen Spitzenverbände, den sie damals, am 4. Juli 2002, formuliert haben zu der Reformblockade, die in Aussicht stand und die auch vollzogen wurde, einfach ignoriert haben und dass es nicht einmal zu einer Anhörung der kommunalen Spitzenverbände im Innenausschuss hinsichtlich dieser Absicht gekommen ist.

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Borgwardt zu beantworten?

Gern. Ich würde aber sagen, am Ende, damit ich meine Zeit voll nutzen kann.

Zum Schluss, Herr Borgwardt.

Nun habe ich eine polemisch etwas zugespitzte Frage. Da bis heute nichts Konkretes vorliegt - es liegt etwas vor von 1999. Schauen Sie sich doch die Sache mal genau an. Was ist denn da fünf Jahre später nicht durchaus übernahmefähig, und was kann man auf der Grundlage der Weiterentwicklung nun nach fünf Jahren aufgreifen und hat dann einfach eine Orientierung?

Der Ministerpräsident hat vor zwei Jahren gesagt, hier wird nicht nur geredet, hier wird gehandelt. - Jawohl, es wird aufgeregt gehandelt und gestritten und partiell auf

kommunaler Ebene gehandelt. Aber, wie ich schon sagte, ohne erkennbare Linie.

Meine Damen und Herren! Eines dürfen wir dabei nicht übersehen, nämlich dass das, was sich spontan tut, zwei Gründe hat. Der erste ist die exorbitante Finanzknappheit. Diese treibt die Leute an, nach Lösungen zu suchen. Das, was der Ministerpräsident vor zwei Jahren auf der Mitgliederversammlung des Städte- und Gemeindebundes in Halle sagte, wirkt natürlich ein bisschen, nämlich die Finanzknappheit als Zuchtmeister für das Handeln der Kommunen.

Der Zweite ist: Wenn eben schon eine Reform nicht zu vermeiden ist, dann will man - wie es Herr Dr. Schrader tut, sagen: Lieber man hat als man hätte. Aber, wie gesagt, das birgt für mich die Gefahr, dass es nicht zu Lösungen kommt, die zukunftsfähig sind.

Meine Damen und Herren! Ich möchte andererseits sagen, das schon lange angekündigte Leitbild für eine Kommunalreform kann doch eigentlich gar nicht so schwer sein, wenn man nämlich klare Vorstellungen hat, wohin die Reise mit unserem Bundesland Sachsen-Anhalt gehen soll. Hierbei ist das Wort „Visionen“ durchaus berechtigt, und ich denke, wenn ich das Wort „Vision“ sage, nicht unbedingt an den Psychiater. Ein prosperierendes Bundesland in der Mitte Europas - wäre das nicht ein anstrebenswertes Ziel, das alle Anstrengungen auch erfordert?

(Herr Gürth, CDU: Wir arbeiten daran! - Zuruf von Herrn Bullerjahn, SPD - Weitere Zurufe)

Wäre es nicht erstrebenswert, unserem Land eine Zukunft zu geben, in der Menschen Arbeit, Heimat und Wohlstand finden? Wäre es nicht anstrebenswert, dass unser Land, das aufgrund seiner Geschichte das Potenzial hat, zum Beispiel ein Zahlerland wird im bundesdeutschen Finanzausgleich? Das muss doch unser Ziel sein.

(Zustimmung bei der SPD, von Herrn Schröder, CDU, und von Frau Wybrands, CDU)

Wir haben ja schon einiges erreicht. Dass wir ein hohes Ansehen im Verbund der deutschen Länder erreichen, das ist doch ein erstrebenswertes Ziel. Ich wünschte mir, dass die Einwohner eines Tages so stolz und so selbstbewusst sind wie heute die Bayern oder die BadenWürttemberger. Wenn die Bayern voll geschwellter Brust dann eben sagen: Mir san mir. - Herr Kollege, Sie können das besser. Ich bin kein Bayer.

(Herr Hauser, FDP: Mir san mir!)

- Mir san mir. Oder die Baden-Württemberger sagen eben: Wir können alles, nur kein Hochdeutsch. Das hat der Herr Präsident auch erst wieder zitiert.

(Herr El-Khalil, CDU: Außer Hochdeutsch!)

Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen uns doch nicht mit der Position begnügen: Wir haben zwar keine Visionen für unser Land, aber dafür können wir hochdeutsch. Das ist doch nicht zukunftsfähig.

(Zustimmung bei der SPD - Zuruf von Herrn Kos- mehl, FDP)

- Haben Sie eine Vision, Herr Kosmehl? Ich habe noch nirgendwo etwas gelesen.

Also, meine Damen und Herren: Derzeit besteht die Chance, und wir sollten den Ehrgeiz haben, die mo

dernste Landesverwaltung eines Flächenlandes in Deutschland zu entwickeln. Vor 30 Jahren haben die alten Bundesländer die Reformen vollzogen, mit denen wir uns heute herumschlagen. Und die machen sich jetzt schon lange wieder Gedanken, wie sie ihre Reformen fortführen und weiterentwickeln. Sie merken auch, dass sie schon wieder an Grenzen gekommen sind. Wir wollen das erst einmal nachvollziehen. Warum haben wir nicht den Ehrgeiz, schon einen Schritt darüber hinaus zu machen?

(Zustimmung bei der SPD)

Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das für mich ein Schlüsselerlebnis war. Im Jahr 1990 haben wir uns helfen lassen von der Gemeinschaftsstelle - - Nein. Wie heißt das?

(Herr Bullerjahn, SPD: KGSt! - Weitere Zurufe)

- KGSt. Es weiß jeder, was das heißt. - Also: Die kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung. Die kamen und haben gesagt, wie wir eine Stadtverwaltung aufbauen sollen. Das haben wir dann so gemacht. Zwei Jahre später kamen uns erste Gedanken, ob wir das eigentlich optimal gelöst haben. Ich kann sogar noch einen Namen nennen - Dieter Steinecke kann es bestätigen -, den haben wir eingeladen, und was sagt der Herr? - Das, was ihr jetzt alles realisiert habt, ist die organisierte Unverantwortlichkeit. - Daran muss ich bis heute denken.

Genau diese Befürchtung habe ich: Wenn wir eine Verwaltungsreform durchführen, ist sie in dem Moment, wo sie realisiert ist, schon längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Einmal den Ehrgeiz zu haben, ein Stückchen darüber hinaus zu gehen - das wäre doch aller Mühen wert.

Ich denke auch, dass wir uns unter den Herausforderungen der globalisierten Welt die Frage stellen müssen, der sich jeder Betrieb stellt - wenn er sich nicht darauf einstellt, geht er unter -: Was heißt das für unsere Verwaltung, so wie wir sie heute haben? Ich denke, es ist uns allen bewusst und wir spüren es doch alle, dass infolge der Veränderung der finanziellen Ressourcen die kommunale Selbstverwaltung im traditionellen Sinne ihre Grenzen längst erreicht hat.

(Zustimmung bei der SPD)

Was ist angemessen in Bezug auf die kommunale Selbstverwaltung an der Schwelle dieses Jahrhunderts unter den völlig veränderten Bedingungen der Informationsgesellschaft und der begrenzten finanziellen Ressourcen? Wie kleinteilig muss die Verwaltung unter den Bedingungen eben dieser Gesellschaftsveränderung und des hohen Mobilitätsgrades der Bürger sein? Was ist hinreichend und wie können wir die Effizienz unter diesen Bedingungen gestalten?

Tatsache ist doch, meine Damen und Herren, die Leute gehen heute nicht mehr in den Tante-Emma-Laden einkaufen, obwohl sie bedauern, dass es ihn nicht mehr gibt. Nun frage ich Sie: Können wir uns bei der Verwaltung eine Tante-Emma-Verwaltung leisten? Wollten wir den Herausforderungen der globalisierten Welt gerecht werden, können wir uns das auch nicht mehr leisten. An dieser Stelle den Weg zu finden, wäre aller Mühen wert.

Jetzt sehe ich zum ersten Mal das rote Licht. - Ich wollte Sie einfach einmal animieren, sich daran zu erinnern,

dass unser Bundesland im Wesentlichen aus dem ehemaligen Freistaat Anhalt und der preußischen Provinz Sachsen besteht. Von Preußen sind vor 200 Jahren entscheidende Reformen ausgegangen, die sich mit dem Namen Stein-Hardenberg verbinden lassen. Das war der Ausgangspunkt für den Aufstieg Preußens in industrieller, wirtschaftlicher, politischer Hinsicht.