Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne hiermit die 40. Sitzung des Landtages von Sachsen- Anhalt der vierten Wahlperiode. Ich begrüße Sie alle - jedenfalls diejenigen, die bereits den Weg hierher gefunden haben - auf das Herzlichste.
Das Mitglied des Landtages Herr Friedemann Scholze hat heute Geburtstag. Dazu gratuliere ich ihm recht herzlich, auch im Namen des Hohen Hauses.
Ich erinnere Sie alle noch einmal daran, dass Frau Ministerin Wernicke und Herr Minister Kley ganztägig und Herr Minister Professor Olbertz ab 15 Uhr für den heutigen Sitzungstag entschuldigt sind.
Wir setzen nunmehr die 21. Sitzungsperiode fort. Vereinbarungsgemäß beginnen wir mit dem Tagesordnungspunkt 2. Danach folgt der Tagesordnungspunkt 3.
Regierungserklärung des Herrn Staatsministers Rainer Robra zum Thema „Sachsen-Anhalts Chancen im erweiterten und neu verfassten Europa“
Anschließend findet eine Aussprache zu diesem Thema statt. Meine Damen und Herren! Ich bitte Herrn Staatsminister Robra, das Wort zu ergreifen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 1. Mai 2004 ist aus europäischer Sicht ohne jeden Zweifel ein historisches Datum. Mit dem Beitritt von zehn Staaten wurde die bislang größte Erweiterung der Europäischen Union vollendet.
Es trifft sich gut, dass der Beitritt mit der Europawoche zusammenfällt, die wir seit zehn Jahren gemeinsam mit allen deutschen Ländern in der ersten Maidekade begehen. In über 100 Veranstaltungen in Sachsen-Anhalt und über 1 000 in der gesamten Bundesrepublik wird auf die vielfältigen europäischen Bezüge unseres täglichen Lebens und unserer Politik aufmerksam gemacht.
Die vielen europäischen Aktivitäten unseres Landes und der neue historische Entwicklungsabschnitt veranlassen mich, heute für die Landesregierung zur Europapolitik zu sprechen und damit auch Gelegenheit zu geben, europapolitische Themen in diesem Parlament einmal an hervorgehobener Stelle zu diskutieren.
Meine Damen und Herren! Nach Artikel 1 der Landesverfassung ist Sachsen-Anhalt Teil der europäischen Völkergemeinschaft. Die aktive Teilnahme des Landes am europäischen Integrationsprozess ist somit Auftrag und Aufgabe zugleich. Dem stellt sich die Landesregierung in vielfältiger Weise.
Lassen Sie mich mit dem aktuellsten Thema beginnen, der Erweiterung der Europäischen Union. Seit wenigen Tagen leben wir in einer Gemeinschaft von rund 450 Millionen Menschen, die in großer Übererstimmung gemeinsame Ziele verfolgen. Mit der Erweiterung der Europäischen Union werden Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in Europa dauerhaft gefestigt. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Stabilität unseres Kontinents.
Das große Versöhnungswerk, das uns nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges auferlegt war, ist gelungen. Um eine Formulierung von Milan Kundera aufzugreifen: Der gekidnappte Teil Europas ist heimgekehrt.
Auch vor diesem Hintergrund hat Sachsen-Anhalt die Erweiterung der EU stets mit Sympathie und Unterstützung begleitet. Unsere Zustimmung zur Erweiterung ist auch als Akt der Solidarität zu verstehen.
Der mutigen Politik Ungarns, Polens und der damaligen Tschechoslowakei im Jahr 1989 haben wir die deutsche Einheit ganz wesentlich mitzuverdanken. Die Weiterentwicklung der Einigung Europas nach Osten ist mehr als die Bündelung von Kräften im internationalen Standortwettbewerb. Worum es wirklich geht, hat Richard Schröder schlicht auf den Punkt gebracht: Einigkeit und Recht und Freiheit für einen ganzen Kontinent - nicht mehr und nicht weniger!
Sachsen-Anhalt ist in vielfältiger Weise freundschaftlich mit den neuen EU-Mitgliedern und den Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien verbunden. Traditionelle Beziehungen bilden ein gutes Fundament für nachhaltige Kontakte in der Zukunft. Es würde den Rahmen dieser Regierungserklärung sprengen, wollte ich beginnen, all die Kontakte, die es zwischen Sachsen-Anhalt und den Beitrittsländern gibt, aufzuzählen. Tausende unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger beteiligen sich daran; sie verdienen unseren herzlichen Dank.
Der Landesregierung kommt es darauf an, das Potenzial dieser Kontakte verstärkt auch für die Lösung unserer eigenen drängendsten Probleme zu nutzen. Damit meine ich die Vertiefung der Außenhandelsverflechtung und der gezielten wirtschaftlichen Kooperation, die die Position unserer Unternehmen in Sachsen-Anhalt stärkt, statt sie zu veranlassen, in Länder mit niedrigen Löhnen, Steuern und sozialen Standards abzuwandern. Es kommt darauf an, für den Wirtschafts-, Wissenschafts-, Kultur- und Innovationsstandort Sachsen-Anhalt zu werben und gezielt den Erfahrungsaustausch mit den mittel- und osteuropäischen Ländern zu intensivieren.
Dabei kommt uns zugute, dass Sachsen-Anhalt seit 1990 umfangreiche, bisweilen auch schmerzliche Erfahrungen im Umstrukturierungsprozess sammeln konnte. Nach diesem an Freud und Leid reichen Weg verfügt das Land heute aber über ein wichtiges Know-how, das ein wesentlicher Teil unserer Angebotspalette gegenüber den Ländern Mittel- und Osteuropas ist. Im Hinblick auf die mit der Erweiterung verbundene Stabilisierung unserer Märkte sowie die Erhöhung der Nachfrage aus diesen Ländern nutzte und nutzt die Landeregierung die eigenen Transformationserfahrungen, um den Beitrittsländern und Beitrittskandidaten bei der Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft zu helfen und zugleich die bilateralen, nicht zuletzt auch wirtschaftlich wertvollen Kontakte zu vertiefen.
Beispielhaft nenne ich in diesem Zusammenhang die Entwicklung bi- und multilateraler Partnerschaften zu ver
schiedenen Ländern und Regionen Mittel- und Osteuropas, die Entwicklung von regionalen Innovationsstrategien in der Tschechischen Republik und Ungarn, das Kontaktbüro in Tallinn, die Begegnungsstätte in Plovdiv, Expertenentsendungen im Rahmen so genannter Twinningprojekte der EU zum Verwaltungsaufbau, Konferenzen für zentral- und osteuropäische Kreditmanager und Hospitationen von Richtern und Staatsanwälten aus den Staaten Mittel- und Osteuropas in Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt leistet mit solchen Maßnahmen seinen Beitrag, um den Aufbau einer modernen Verwaltung in den Beitrittsländern zu unterstützen, sodass sie in der Lage sind, das EU-Recht korrekt umzusetzen und in der Praxis anzuwenden.
Die bislang größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union wird nicht ohne Auswirkung auf die Gemeinschaft und ihre Mitglieder bleiben. Das trifft auch auf Sachsen-Anhalt zu. Die Landesregierung ist davon überzeugt, dass die Chancen der EU-Erweiterung die mit ihr verbundenen Risiken bei weitem überwiegen, wenn wir die Chancen aktiv ergreifen.
Da diese Fragen auch in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert werden, gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu ausgewählten Problemkreisen.
Bei der Diskussion über die Auswirkungen der EU-Erweiterung auf unseren Arbeitsmarkt wird oft vergessen, dass sich für Sachsen-Anhalt das Problem in absehbarer Zeit gar nicht stellt. Durch die im Beitrittsvertrag verankerte Übergangsfrist ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit für bis zu sieben Jahre eingeschränkt. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass heute wesentlich mehr Deutsche in Polen tätig sind als Polen - legal - in Deutschland.
Im Lichte unserer Bevölkerungsprognose, die Engpässe bei jungen qualifizierten Arbeitnehmern erwarten lässt, werden wir die Arbeitskräftenachfrage in sieben Jahren unter Umständen anders beurteilen als heute.
Meine Damen und Herren! Wir dürfen auch nicht übersehen, dass bei einem Trendwachstum von 3 bis 5 % pro Jahr die positiven Zukunftsaussichten in den Beitrittsländern dort zuverlässiger als Migrationsbremse wirken, als es jede Regulierung könnte. Dies hat uns auch die Süderweiterung der EU gelehrt, der wir zudem die Erkenntnis verdanken, dass die Mobilität selbst innerhalb der neuen Mitgliedstaaten eher gering ist. Wir sollten daher die Abwanderungstendenzen in den „reichen“ Westen nicht überschätzen.
Wer heute als Unternehmer im Zentrum der Automobilindustrie in der Slowakei investiert, macht diese Erfahrung bereits. Trotz der nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit im Lande gibt es große Schwierigkeiten bei der Anwerbung von Fachkräften.
Im Verkehrsbereich wird sich der Personen- und Güterverkehr zwischen Deutschland und den Beitrittsländern erheblich schneller entwickeln als der Binnenverkehr. Sachsen-Anhalt wird davon bei allen Verkehrsträgern in hohem Maße betroffen sein. Wir dürfen dabei nicht nur Transitland im Ost-West-Verkehr bleiben, sondern müssen uns zu einer echten Drehscheibe zwischen Nord und Süd sowie Ost und West entwickeln.
Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur ist im Zuge der EU-Erweiterung daher für Sachsen-Anhalt von besonderer Bedeutung. Bei aller Anerkennung der seit 1990 ge
leisteten Anstrengungen sind noch viele berechtigte Wünsche offen. An dieser Stelle darf es nicht zu Einschränkungen kommen, nur weil der Bundesregierung wegen des Mautdebakels die Einnahmen fehlen. Wir gefährden das große Projekt der Europäischen Union, wenn wir es am Verkehrsinfarkt verrecken lassen.
Meine Damen und Herren! Die Landesregierung erwartet, dass die Erweiterung der EU nicht zu einer Schwächung der inneren Sicherheit führen wird. Wenn gewährleistet ist, dass der gesamte Besitzstand der EU im Sicherheitsbereich übernommen wird - und ganz Europa arbeitet daran -, sind keine unmittelbaren Veränderungen, die Auswirkungen auf Sachsen-Anhalt haben, zu erwarten. Soweit es durch den Wegfall der Warenkontrollen zu einer vermehrten illegalen Einfuhr von Waren kommt, wird der Innenminister mit verstärkten Kontrollen auf den Autobahnen des Landes konsequent einschreiten.
Entgegen einer verbreiteten Annahme wird im Übrigen der Abbau der Personenkontrollen an den Grenzen zu den östlichen Beitrittsländern erst erfolgen, wenn das jeweilige Land alle EU-Sicherheitsstandards vollständig übernommen hat und dauerhaft anwendet. Daher hat die Erweiterung der EU nicht zwangsläufig Folgen für die allgemeine Kriminalitätslage in Sachsen-Anhalt. Es ist im Gegenteil zu erwarten, dass durch eine verbesserte Zusammenarbeit mit den Polizei- und Justizbehörden der neuen Mitgliedstaaten eine effektivere Verbrechensbekämpfung und Strafverfolgung ermöglicht wird. Unsere Fachhochschule der Polizei hat in einem gemeinsamen Projekt mit dem BKA einen Beitrag zur Ausbildung polnischer Sicherheitskräfte geleistet.
Die EU-Erweiterung bringt also unter dem Strich mehr Sicherheit für uns alle, weil die große Gemeinschaft der Völker mehr Sicherheit zu gewährleisten vermag als die Summe der einzelnen Staaten.
Meine Damen und Herren! Ich bin mit vielen anderen zuversichtlich, dass sich auch für die Wirtschaft positive Effekte ergeben werden. Wenn die EU an dem ehrgeizigen Ziel von Lissabon festhält, aus Europa bis 2010 den dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wird die Kommission noch gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen. Für den Osten Europas bedeutet dies, es entstehen neue Märkte. Das war schon so, als viele unserer Städte über die Hanse oder das Magdeburger Recht mit Osteuropa verbunden waren.
Mit der EU-Erweiterung entsteht der weltgrößte Binnenmarkt. Das Wirtschaftswachstum in den Beitrittsländern liegt deutlich über dem deutschen. Es schafft so eine Voraussetzung für die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen sowie Investitionen. Zudem verbessert sich durch die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes die Rechtssicherheit für eine wirtschaftliche Betätigung in den Beitrittsländern.
Aufträge für Firmen aus Sachsen-Anhalt können sich vor allem aus den notwendigen Investitionen ergeben, die in den neuen EU-Staaten erforderlich werden, um sich im Konvergenzprozess der nächsten Jahre den EU-Standards anzunähern. Die EU schätzt die Aufwendungen allein für den Umweltbereich auf eine Summe von bis 110 Milliarden €. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank rechnet damit, dass in den Beitrittsländern bis 2015 rund 500 Milliarden € investiert werden müssen, um die dor
tige Infrastruktur in den Bereichen Verkehr, Energie und Telekommunikation auf den Stand der EU-15 zu bringen.
Das verdeutlicht, welche Marktchancen gerade unsere Unternehmen wegen ihrer Marktnähe zu den neuen Mitgliedstaaten haben und wie viel Geld dort von Unternehmen verdient werden kann, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und etwas unternehmen, statt nur ihr Schicksal zu beklagen.
Auch in der Land- und Ernährungswirtschaft sehen wir gute Chancen für die heimischen Erzeuger auf den neuen Märkten im Osten der EU, obwohl die Auswirkungen der EU-Agrarreform immer noch sehr kontrovers diskutiert werden. Diese Probleme sind aber ganz gewiss nicht den neuen Mitgliedsländern anzulasten.
Schon in der Vorbeitrittsphase hat sich gezeigt, wie groß die positiven Effekte für die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt sind, die die EU-Erweiterung mit sich bringt. Von 1998 bis 2002 hat sich das Volumen des Exports aus Sachsen-Anhalt in die Beitrittsländer mehr als verdoppelt. Insgesamt hat die deutsche Wirtschaft allein im Jahr 2001 über 3,5 Milliarden € bei unseren neuen Partnern in Mittel- und Osteuropa investiert. Dies ist ein beeindruckendes Zeichen für die Dynamik der dortigen Märkte. Ihr Anteil am deutschen Außenhandel hat sich seit 1994 verdoppelt und entspricht mit 9,3 % etwa dem Handel mit den USA.
Gleichwohl sind wir mit dem Erreichten noch nicht zufrieden, denn die Exportquote Sachsen-Anhalts liegt noch deutlich unter dem deutschen Durchschnitt. Um dies zu ändern, hat die Landesregierung im April ein neues Außenwirtschaftskonzept beschlossen. Wir wollen den Unternehmen stärker dabei helfen, sich im Ausland zu engagieren, neue wirtschaftliche Kontakte aufzubauen und Geschäfte zu machen, die letztlich für das gesamte Land von Nutzen sind.
Meine Damen und Herren! Wie wir wissen, hat jede Medaille zwei Seiten. So wäre es auch unredlich, nur auf die Chancen der Erweiterung hinzuweisen. Es gibt selbstverständlich auch Risiken und besondere Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Schon seit der Öffnung der Märkte zu den Beitrittsländern in den 90er-Jahren steht Sachsen-Anhalt in einem Standortwettbewerb mit diesen Staaten, der sich mit der weiteren Integration des Binnenmarktes und der Förderung der Beitrittsländer durch die EU-Strukturfonds noch verstärken dürfte. Hinzu kommt das zum Teil deutlich geringere Lohnniveau in den neuen Mitgliedstaaten.
Aber auch ohne die Erweiterung wären die Löhne in den osteuropäischen Nachbarländern deutlich geringer als hier. Mit der Erweiterung und der zu erwartenden Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen dürfte sich die Schere eher schneller schließen als ohne den Beitritt. Es liegt an uns und an unserer Wirtschaft, diesen Nachteil durch Innovation, Flexibilität, Qualität, Service und internationale Arbeitsteilung wettzumachen - eine Herausforderung, die sich im Zeitalter der Globalisierung wohl auch ohne die Erweiterung gestellt hätte.
Nicht verschweigen will ich auch die drastischen steuerlichen Belastungsunterschiede innerhalb des erweiterten Europas, die ich als bekannt voraussetze. Die Landesregierung sieht sich deswegen in ihrem Einsatz für eine grundlegende Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Steuersystems bestärkt. Auch die EU
sollte sich der Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs neu stellen. Vordringlich erscheint eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlagen und eine Verbesserung der Wirkungsweise des unter den Mitgliedstaaten geltenden Verhaltenskodex für ein eigenes Mindeststeueraufkommen in den Beitrittsländern.
Aber man kann es trotz alledem nicht deutlich genug sagen: Die Adresse für die deutsche Standortqualität ist nicht Brüssel, geschweige denn Warschau, die Adresse ist Berlin-Mitte bei Schröder. Dort muss endlich gehandelt werden. Unter den 25 Ländern sind wir nirgends Spitze. Bei der Inflationsrate liegen wir immerhin an vierter, bei der Zahl der PCs je Einwohner an sechster Stelle,