Protocol of the Session on January 23, 2004

Seit dem 3. Oktober 2003 gibt es schon wieder einen Grund, sich ausführlicher mit diesem Thema zu befassen. Die CDU hat, wenn auch nach langem Zögern, Herrn Hohmann aus ihrer Fraktion ausgeschlossen, weil er die Juden als Tätervolk bezeichnete.

Frau Pieper hatte in der Debatte vor eineinhalb Jahren betont, sie sehe keine Gefahr dafür, dass Antisemitismus in Deutschland eine Chance habe. Eine ForsaUmfrage im November 2003 bescheinigt dagegen mehr als einem Fünftel der Deutschen latent antisemitische Haltungen, Tendenz steigend. Auf die Frage, ob Juden versuchten, aus der NS-Vergangenheit Vorteile zu ziehen, antworteten sogar 36 % mit Ja. Eine Studie der Essener Universität ergab, dass dies auch 13 % der Studentinnen und Studenten so sehen, und das, obwohl sie die Geschichte der Juden und den Vernichtungsfeldzug gegen sie durchaus kennen.

Immer wieder werden in Deutschland jüdische Grabsteine geschändet, werden jüdische Einrichtungen angegriffen. Das Wort „Jude“ wird als Schimpfwort verwendet. Immer wieder finden wir in unserem Alltag Aussagen, die aus der leidigen Tradition von Vorurteilen gegen und Stigmatisierungen von Menschen jüdischer Herkunft bzw. jüdischen Glaubens stammen.

Es gibt also allen Grund, wachsam zu bleiben, Antisemitismus öffentlich bloßzustellen und deutlich zu machen, dass solch ein Denken und Verhalten nicht akzeptiert oder auch nur toleriert werden kann.

Nun ist nicht zum ersten Mal ein Politiker des Deutschen Bundestages der Anlass für eine solche Debatte. Das ist besonders schlimm, weil so die Gefahr besteht, dass Antisemitismus irgendwie wieder gesellschaftsfähig werden könnte. Die Reaktion der CDU darauf war zumindest sehr zögerlich.

Noch problematischer aber ist, dass Herr Hohmann aus seiner Partei Solidaritätsbekundungen und Rückenstärkung erhielt. Herr Kupke, Stadtrat aus Halle, hielt seine Äußerungen zwar für unglücklich - Herr Fikentscher hat das vorhin zitiert -, konnte aber in Hohmanns Äußerungen keinen Antisemitismus erkennen. Der Ministerpräsident unseres Landes konnte wiederum in Kupkes Äußerungen keine Identifizierung mit Hohmanns Äußerungen erkennen. Bei so viel Nachsicht würde mich schon interessieren, was bei der damals angekündigten Beschäftigung des CDU-Landesvorstandes mit dieser Thematik herausgekommen ist.

Es mag kurios anmuten, dass der immer noch sein Abgeordnetenmandat wahrnehmende Hohmann vor zwei Tagen die Entscheidung der Jury für das Wort „Tätervolk“ als Unwort des Jahres begrüßt hat; es passt aber genau in sein Argumentationsschema.

Hohmann hatte sich in seiner Rede mit Berufung auf das antisemitische Machwerk des Amerikaners Henry Ford aus den 20er-Jahren und andere, ähnlich gelagerte Schriften sehr ausführlich bemüht nachzuweisen, dass Juden eben auch als Tätervolk bezeichnet werden könn

ten, indem er sie mitverantwortlich gemacht hat für die stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion. Ziel dieser Diffamierung des jüdischen Volkes war allerdings die Relativierung von Verbrechen Deutscher im Zweiten Weltkrieg.

Die perverse Argumentation Hohmanns passt exakt in die Argumentationslinie des neuen Antisemitismus, der mit solchen vermeintlichen Parallelen und Gleichsetzungen arbeitet, wie auch in das Argumentationsarsenal rechtsextremistischer Couleur, der Leugnung der Judenvernichtung und der Schlussstrich-Mentalität hinsichtlich der Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

Die Idee von einem vermeintlichen Tätervolk ist Bestandteil dieses Versuches, die Schuld der Deutschen an den Vernichtungsfeldzügen im Zweiten Weltkrieg herunterzureden. So schließt sich der Kreis zu Hohmanns jüngster Äußerung, die Wahl des Unwortes des Jahres zu begrüßen. Genau genommen belegt diese jüngste Äußerung, dass er sehr absichtsvoll sagte, was er sagte, und seine Äußerungen eben nicht unglücklich waren.

Der Publizist Rafael Seligmann hat gefordert, Hohmanns Rede als Schulstoff in der Oberstufe der Gymnasien zu behandeln, um eine Auseinandersetzung mit dieser Denk- und Verhaltensweise zu fördern. Wer diese Rede von Hohmann gelesen hat und einigermaßen politischen Sachverstand besitzt, kann wirklich nicht auf die Idee kommen, die zitierten Sätze seien nur Ausrutscher oder eine unglückliche Wortwahl gewesen. Ich hoffe sehr, der CDU-Landesvorstand ist zu einem gleichen Ergebnis gekommen.

Wir werden am kommenden Dienstag im Außenlager Magda in Magdeburg in einer Gedenkstunde der Opfer des Faschismus gedenken. Dieser Tag ist nicht ohne Grund der 27. Januar, nämlich der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Es darf aber nicht bei Kränzen und schönen Reden bleiben. Damit allein werden wir unserer gemeinsamen Verantwortung nicht gerecht und dabei möchte ich niemanden ausnehmen. Diese gemeinsame Verantwortung wird auch nicht irgendwann einmal verlöschen.

Menschen jüdischen Glaubens haben jahrhundertelang Unterdrückung, Missachtung, Verfolgung erlebt und Vernichtung erfahren. Wir Deutschen haben eine besondere Verantwortung, besonders wachsam zu sein, das Bewusstsein für diese Verbrechen wach zu halten und vor allem neuen Anfängen zu wehren.

Ich denke, ich kann für die PDS unsere Zustimmung signalisieren. Es wäre sehr schön, wenn wir, auch wenn es ein SPD-Antrag ist, hier im Haus Einstimmigkeit erzielen könnten.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Dr. Hein. - Für die CDU-Fraktion wird der Abgeordnete Herr Steinecke sprechen. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schade, gerade als dieses Thema aufgerufen wurde - das war sicherlich Zufall -, verließ eine ganze Klasse den Zuschauerraum.

„40 Jahre habe ich gewartet, gewartet, dass jemand meine Geschichte hören will.“ - Abraham Gerson, Jude in Riga, im Oktober 1988.

„Auf Erinnerungen zu bestehen kann mitunter schon Widerstand sein, zumindest dann, wenn Vergesslichkeit groß geschrieben oder diskreditiert wird,“ hat Siegfried Lenz folgerichtig geschrieben.

Danke, Herr Kosmehl, dass Sie es hier gesagt haben: Es wäre schön gewesen, wenn wir einen gemeinsamen Antrag eingebracht hätten, alle, die im Hause sitzen, und alle, die hier Verantwortung tragen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zustim- mung von Frau Dr. Sitte, PDS)

Herr Dr. Fikentscher, danke, dass Sie keiner Partei Antisemitismus unterstellt haben. Genau deshalb, weil dieses Anliegen auch in unserer Partei groß ist, genau deshalb werden wir uneingeschränkt den Punkten 1 bis 5 zustimmen.

Meine Damen und Herren! In den düsteren Tagen unserer Geschichte hat sich die Gesellschaft in Deutschland moralisch selbst ruiniert, weil sie nicht aufstand, nicht Einhalt gebot, nicht dem wahnsinnigen Ungeist das Handwerk legte. In den Tagen und Nächten 1938 mit den schändlichsten Verbrechen an unseren jüdischen Mitbürgern und allen Opfern des Holocaust wurde die damalige Gesellschaft verantwortlich für Ruinen, für Schutt und Asche - doch nicht nur für ausgeglühte Gebäude, sondern vor allem für Ruinen in den Köpfen und Herzen der Menschen.

Eine bewusste Spurensicherung ist heute mehr denn je erforderlich, je weniger Opfer noch Zeugnis ablegen können. Spurensicherung muss zu einem Beitrag im Widerstand gegen das Vergessen werden.

Denkmäler allein, meine Damen und Herren, werden dies nicht leisten können, so notwendig sie auch sind. Der 9. November und der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Januar sollen Tage des Gedenkens und der Verankerung in unseren Köpfen bleiben. Dies sind wir den Millionen, die entrechtet, verfolgt, gequält oder ermordet wurden, schuldig.

Meine Damen und Herren! So ist es gut, dass zum Beispiel in gemeinsamer Verantwortung des Evangelischen Kirchenkreises Magdeburg und der Synagogengemeinde Magdeburg immer am 9. November auf dem jüdischen Friedhof der Opfer des Holocaust gedacht wird. Schülerinnen und Schüler des Magdeburger Domgymnasiums gestalten diese Gedenkstunde schon traditionell seit vielen Jahren mit.

Es ist auch bedeutsam, dass sich Schüler unserer Stadt und anderer Städte Sachsen-Anhalts intensiv mit den geschilderten Ereignissen dieser Zeit vor unserer Haustür auseinander setzen. Wir müssen ihnen dabei täglich hilfreich zur Seite stehen, weil es nicht irgendwo in der Ferne geschah, meine Damen und Herren, sondern hier, wo wir leben, vor unserer Haustür, wo unsere Menschen waren, wo sie weggeschaut haben. Nur wenige hatten zu diesem Zeitpunkt Mut. Das war unsere Generation, die Generation unserer Eltern und Großeltern. Das, meine Damen und Herren, macht uns betroffen und berührt uns.

Es ist ein guter Brauch, dass während dieser Gedenkstunde stets das Schicksal eines persönlich betroffenen Menschen verlesen wird. Diesmal stand das Lebensbild einer Magdeburger Jüdin, der verstorbenen Schriftstellerin Nomi Rubel, im Mittelpunkt - eine wunderbare Frau. Ich habe sie erlebt, wie sie vor Jahren trotz ihres hohen Alters Schülerinnen und Schülern des Geschwister

Scholl-Gymnasiums in Magdeburg eindrucksvoll ihre Lebensgeschichte als jüdisches Mädchen im damaligen Magdeburg erzählte. Bitte, meine Damen und Herren, lesen Sie ihr Buch „Schwarzbraun ist die Haselnuss“, dann werden Sie mich noch besser verstehen.

Die Schüler konnten sicherlich nur erahnen, wie viel Grauenvolles damals geschehen ist. Gut, dass die Landeshauptstadt Magdeburg 1997 eine Straße nach ihr benannt hat - ein Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung.

Als ein weiteres Hoffnungszeichen sehe ich auch die Wahl zum Magdeburger des Jahres 2003. Der Gymnasiast Johannes Wrubel wurde auf Platz 2 gewählt. Johannes schützte in der Magdeburger Straßenbahn einen asiatischen Jungen und verhinderte einen Angriff gegen einen dunkelhäutigen Amerikaner. „Magdeburger des Jahres, ich? Ich kann diesen Rummel überhaupt nicht verstehen. Die Tat müsste Alltag sein und nicht als Besonderheit ausgestaltet werden“, sagte Johannes ganz bescheiden.

Ich finde es auch wunderbar, dass zwei Ausstellungen im Landtag über das Leben jüdischer Menschen berichtet haben. Es ist schade, meine Damen und Herren, dass nur wenige Gäste zu begrüßen gewesen sind.

Aber ganz besonders bemerkenswert fand ich neulich eine gemeinsame Expedition von Bergsteigern aus Israel und Palästina in die Antarktis. Ist das nicht ein Zeichen für die Hoffnung der Menschen im Nahen Osten? Sie sollten gemeinsam noch viele Berge besteigen.

Meine Damen und Herren! Viele von Ihnen könnten sicherlich Ähnliches berichten. Das ist ermutigend. Ich bitte Sie alle: Lassen wir nicht nach in unseren Bemühungen, die Erinnerung als Mahnung an die nächste Generation weiterzugeben. Wir müssen uns auch unserer Vorbildwirkung bewusst sein. Das Wort „Mahnung“ klingt allerdings oft nach moralischem und besserwisserischem Zeigefinger. Davor sollten wir uns aber hüten.

Meine Damen und Herren! Vielleicht können Sie mit meinem Verständnis von Mahnung mitgehen. Eine chassidische Sinngeschichte bringt mein Verständnis von Mahnung folgendermaßen zum Ausdruck.

Ein Rabbi fragte einen Schüler: „Wann beginnt der Tag?“ Etwas gequält schauten sich die Schüler an und sagten: „Na ja, wenn die Dunkelheit weicht. Wenn die Sonne aufgeht. Wenn der Morgentau reift.“ „Nein, nein“, konterte der Rabbi, „der Tag fängt erst richtig an, wenn jeder in den Gesichtern seiner Mitmenschen Bruder und Schwester erkennt.“ Er mahnte nicht mit erhobenem Zeigefinger zur Brüder- und Geschwisterlichkeit, sondern trug dieses Bildwort vor.

Nur wenn man in seinen Mitmenschen - so meinte er es - Brüder und Schwestern entdecke, die Menschen sind wie du und ich, kann man auf Gewalt verzichten, Krieg als Mittel der Politik ächten, Zivilcourage für die Entrechteten entwickeln und Toleranz gegenüber dem Fremden üben.

Ich weiß, meine Damen und Herren, das ist sehr edel gedacht. Die Wirklichkeit sieht oft ganz anders aus. Wir alle können aber dazu beitragen, dass in unserem Umfeld und in unserem Alltag ein Klima des gegenseitigen Verständnisses und der Toleranz herrscht. Unser Rechtsstaat bietet jedenfalls die bestmöglichen Voraussetzungen dafür. Tun wir alles, damit diese Möglichkeit Wirklichkeit wird. - Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Die SPD-Fraktion hat nun die Möglichkeit, zu erwidern. Vorher hat jedoch der Ministerpräsident um das Wort gebeten.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin mir zwar auch im Moment noch nicht ganz sicher, ob es sehr klug ist, dass sich auch die Landesregierung in einer solchen Debatte zu Wort meldet. Ich finde es nach dieser angemessenen, sehr sachlichen, aufgeschlossenen und aufrichtigen Diskussion aber trotzdem angebracht, die Gelegenheit zu nutzen, einiges richtig zu stellen, das irgendwann einmal auch im Interesse meiner Mitarbeiter gesagt werden muss.

Sie haben Ihren Antrag mit dem Titel „Antisemitismus schon im Vorfeld bekämpfen“ versehen. Ich habe darüber nachgedacht, was Sie wohl damit gemeint haben mögen. Der Bundestag hat - das ist zitiert worden - im Dezember des vergangenen Jahres eine ähnliche Diskussion unter dem Thema „Antisemitismus bekämpfen“ auf der Grundlage eines Antrages geführt, der dort von allen Fraktionen eingebracht worden ist.

Sie haben den Antrag übernommen. Sie haben den gleichen Antrag - die meisten Sätze sind wortgleich, einige etwas verändert - hier in den Landtag mit dem leicht veränderten Titel „Antisemitismus schon im Vorfeld bekämpfen“ eingebracht. Sie haben deutlich gemacht, dass Sie dies mit Absicht getan haben.

Zu der Bekämpfung eines so sensiblen und gerade für uns in Deutschland so unerhört schwierigen Problems gehört für mich zu der Forderung „schon im Vorfeld bekämpfen“ auch, den Missbrauch eines solchen Themas zu vermeiden.

(Zustimmung bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Dazu hätte es aus meiner Sicht auch uns gut getan, wenn das ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen gewesen wäre. Sie haben es mehrfach gesagt.

(Beifall bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Es ist ein Antrag, von dem Sie gehört haben, dass er einstimmige Zustimmung finden wird. Es wäre aber von erheblicher Bedeutung gewesen, wenn er auch gemeinsam eingebracht worden wäre, zumal Sie einen gemeinsamen Antrag vieler Fraktionen, die auch hier im Hause sind, von anderer Stelle letztlich übernommen haben. Deswegen möchte ich an dieser Stelle sagen: Wenn wir so ehrlich mit uns und dem Thema umgehen, dann müssen wir uns auch gegenseitig davor bewahren, dass wir es auf die eine oder andere Weise instrumentalisieren.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Das ist etwas, das mir schon wichtig ist, weil es wahr ist, dass dieses Thema nicht ausgestanden ist - weder bei uns in Deutschland noch international. Antisemitismus ist ein internationales Problem. Wo immer er auftritt, ist er nicht akzeptabel. Es ist aber richtig, dass er bei uns in Deutschland unerträglich ist und dass wir aus gutem Grund noch sensibler sein müssen und noch deutlicher dagegen und auch gegen den Missbrauch argumentieren müssen, wenn wir dafür Anzeichen bemerken.