Protocol of the Session on March 13, 2003

Deswegen will ich nur zu dem Teil, der auf mich Bezug nahm, zur Klarstellung einiges sagen:

Bei der deutschlandweiten Veranstaltung zu dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen habe ich natürlich bei dem Grußwort die Gelegenheit genutzt, das darzustellen, was wir in Sachsen-Anhalt insbesondere während der letzten Jahre - auch unter der Vorgängerregierung - getan haben; denn das sind auch Dinge, die für das Land Sachsen-Anhalt eine Auszeichnung bedeuten. Es gibt wenige Länder, die solche Regelungen schon umgesetzt oder wenigstens beschlossen haben. Das habe ich in aller Offenheit dort auch gesagt. Da gibt es Dinge, auf die wir im Land Sachsen-Anhalt tatsächlich ein bisschen stolz sein können.

Ich wusste aber auch - das wusste auch die PDS - und ich bin vorher aus dem Bereich der Behindertenverbände informiert worden, dass diese Veranstaltung zu einer politischen Demonstration gegen die Landesregierung genutzt werden soll. Das war mir bekannt.

(Herr Schröder, CDU: Ein Skandal ist das! - Zuru- fe von der CDU und von der PDS)

- Bleibt doch mal ganz locker! - Ich wusste, dass zwei Themen zurzeit aktuell diskutiert werden. Ich wusste, dass über die Kürzung des Blindengeldes diskutiert wird - dazu muss ein Ministerpräsident dann auch etwas sagen; das ist doch klar -, und ich wusste, dass es eine Aktion gibt, weil im Kreis Jerichower Land eine Behindertenschule geschlossen werden soll.

Das war mir alles bekannt. Ich hatte mich vorher auch genau erkundigt, was kommen könnte, und die entsprechenden Gespräche geführt. Ich hatte aber nicht vor, diese Themen in einem Grußwort zu einer bundesweiten Veranstaltung beim Namen zu nennen.

Weil ich genau wusste, dass irgendetwas kommt, habe ich gesagt, dass im Rahmen der Behindertenpolitik - zu der wir uns in jedem Fall bekennen - natürlich auch auf die Finanzkraft des Landes Rücksicht genommen wer

den muss, wenn wir von den Möglichkeiten sprechen, die wir haben.

Ich habe auch gesagt, dass die Losung „Nicht über uns ohne uns!“ nicht unbegrenzt und für alle gelten kann, wenn es um bestimmte konkrete Entscheidungen insbesondere im Bereich geistig Behinderter geht. Das ist für die PDS auch nichts Neues. Wir haben schon lange ein Betreuungsgesetz. Wir haben auch in diesem Land ein Ausführungsgesetz zum Bundesbetreuungsgesetz beschlossen, und zwar sogar mit Zustimmung der PDS; ich habe extra noch einmal nachgeschaut. Jeder weiß, dass es einen bestimmten Bereich der Behinderten gibt, für die es besonderer gesetzlicher Regelungen bedarf.

Weil ich nicht auf diesen Konfliktfall eingehen wollte - den ich aber sehr wohl kenne -, habe ich mich an die Geschichte mit der Behindertenschule in Dessau erinnert - das war in der Zeit, in der ich Sozialminister war; wir hatten, nachdem die Schule neu eingerichtet worden war, erhebliche Probleme, Schüler von woanders dorthin umzusetzen - und habe ganz bewusst und allgemein gesagt, dass es in diesem Bereich schwierige Entscheidungen gibt, die Fachleuten überlassen werden müssen. Dafür gibt es Sonderkommissionen aus Erziehungspädagogen, Ärzten und Vertretern von Elternverbänden.

Das Jahr der Menschen mit Behinderungen und das Motto „Nicht über uns ohne uns!“ darf man nicht dazu nutzen, aufgrund der Entscheidung eines Landkreises im Land Sachsen-Anhalt - für die die Landesregierung nicht einmal zuständig ist - Attacken gegen die Landesregierung zu blasen.

Zum Glück habe ich mich mit den dort Verantwortlichen unterhalten. Ich sage hier expressis verbis: Das, was der dortige Landrat zusammen mit dem Kreistag beschlossen hat, halte ich für sachgerecht und vernünftig. Der Landrat hat mir selbst gesagt, wie er die Dinge sieht, dass er aber nicht einmal Unterstützung von seinen eigenen - ich sage einmal - Freunden habe, weil dieses Thema gegen die Landesregierung gebraucht werde.

(Beifall bei der CDU - Herr Schröder, CDU: Jetzt ist es raus!)

Ich hatte nicht vor, dort irgendwelches Öl ins Feuer zu gießen. Ich habe aber bewusst auf die Problematik hingewiesen, dass man ein solch allgemeines Motto nicht benutzen kann, um eine ausschließlich lokale Entscheidung zum Politikum zu machen.

Das war mein Anliegen. Deswegen habe ich über das Helfersyndrom - ein Begriff aus der Pflegewissenschaft - und über ähnliche Sachen gesprochen, was natürlich auch die menschliche Befangenheit bei der Betreuung solcherart Behinderter berührt.

Herr Ministerpräsident, Sie sind bereit, eine Frage des Abgeordneten Herrn Dr. Eckert zu beantworten?

Ja, das mache ich gleich.

Ich kann menschlich alle diese Probleme verstehen. Ich wollte sie aber bei dieser Veranstaltung aus einer Diskussion mit dem Publikum heraushalten, weil ich vorgewarnt war, dass es zu Attacken gegen die Landesregierung kommen könnte. Dies war alles.

Nun hat Herr Dr. Eckert sich gemeldet. Bitte schön.

Herr Dr. Eckert, bitte sehr.

Herr Ministerpräsident, könnten Sie mir darin zustimmen, dass diese beiden Fragen, die Sie gerade angesprochen haben, von Ihnen in Ihrer Rede überhaupt nicht behandelt worden sind und dass es hierbei um Äußerungen geht, die prinzipieller Natur sind?

Sie haben in Ihrer Rede dargestellt, dass so genannte geistig behinderte Menschen a priori nicht für sich selbst sprechen könnten, weshalb man sehen sollte, was man tun könne. Wir aber gehen davon aus, dass zuerst einmal jeder Mensch für sich selbst sprechen sollte, und erst dann geschaut wird, welche Hilfe und Möglichkeiten er bekommen sollte, das auch zu können. Das ist eine ganz andere Herangehensweise. Deshalb ist die heutige Aussprache von uns gefordert worden. Um diese prinzipielle Frage geht es und nicht um die Fragen, die Sie angesprochen haben. Dass es zum Blindengeld Protest gegeben hat, ist richtig. Aber die Tabaluga-Schule hat in dieser Veranstaltung keine Rolle gespielt.

(Zustimmung bei der PDS - Herr Tullner, CDU: Nein, nein! Überhaupt nicht!)

Ich habe das bewusst nicht angesprochen, sondern dieses Thema allgemein gehalten. Ich war aber vorbereitet darauf - das wissen Sie genauso gut wie ich -, dass die Gelegenheit genutzt werden sollte, um bestimmten Protest dagegen zu artikulieren.

Ich will Ihnen noch eines sagen, Herr Dr. Eckert: Es gibt leider Menschen, deren Behinderung gerade darin besteht, dass sie nicht in der Lage sind, für sich zu sprechen.

(Zustimmung bei der CDU - Frau Bull, PDS: Es geht um Ihre grundsätzliche Erwägung!)

Da das nichts Neues ist, kann ich mich nur wundern, weshalb Sie versuchen, daraus ein solches Problem zu machen.

(Frau Bull, PDS: Weil Sie es prinzipiell formuliert haben! Deswegen! - Widerspruch bei der CDU)

- Dann formuliere ich jetzt auch prinzipiell: Dass es Menschen gibt, die aufgrund ihrer Behinderung der Fürsorge anderer bedürfen, darüber sind wir uns einig. Das trifft insbesondere auch auf die Entscheidungen für geistig Behinderte zu, weil man von ihnen nicht erwarten kann, dass sie über bestimmte Sachen selbst entscheiden. Darin besteht schließlich der Grund ihrer Behinderung. Um mehr geht es nicht. Deswegen habe ich mich gewundert, was Sie daraus machen.

Es hätte auch sein können, dass Sie die Debatte völlig anders anlegen. Dann hätte ich mich gar nicht gemeldet, weil ich diese Sache nicht in den Vordergrund schieben wollte. Nach den Ausführungen von Frau Dr. Sitte musste ich dies aber schon sagen.

Da ich die Komplexität dieser Probleme kenne, habe ich mich natürlich gewundert, dass Sie nicht einmal vor dem

Missbrauch der Gefühle Betroffener in Bezug auf deren Lebensbewältigung zurückschrecken, wenn es darum geht zu versuchen, aus diesem Thema ein Politikum zu machen. Das hätte ich eigentlich nicht erwartet.

(Lebhafter Beifall bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Herr Ministerpräsident, Herr Dr. Eckert möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.

Bitte.

Herr Dr. Eckert, bitte.

Herr Ministerpräsident, es ist unstrittig, was Sie jetzt dargestellt haben. Das betrifft aber ein ganz anderes Problem. Ich möchte es noch einmal deutlich machen. Es geht um das Jahr der Menschen mit Behinderungen. Die Lebenshilfe hat mehrere Kongresse durchgeführt, unter anderem zu der Problematik „Ich weiß selbst, was ich will“. Die Frage, die auch wir an Sie stellen, ist: Wie wollen Sie die Potenzen behinderter Menschen nutzen? - In Ihren Äußerungen geben Sie darauf eine gegenteilige Antwort.

Ich frage Sie deshalb noch einmal: Können Sie prinzipiell bejahen, dass erst einmal davon ausgegangen wird, dass alle Menschen die gleichen Rechte, die gleichen Pflichten, die gleichen Möglichkeiten und die gleichen Teilhabechancen erhalten sollen? Erst dann kann ich sehen, wie ich das umsetze. Darum geht es und nicht darum, irgendjemandem eine Hilfe nicht zu geben.

Herr Dr. Eckert, da ich schlicht davon ausgehe, dass Sie sich redlich um ein Problem bemühen, was mit den politischen Problemen nichts zu tun hat, will ich diese Frage richtig ernst nehmen.

Ich gebe Ihnen Recht, wenn es darum geht, welche Betreuungskonzepte wir für die Entwicklung geistig Behinderter ausarbeiten müssen. Wenn Sie - das kann ich für mich in Anspruch nehmen - Heime kennen und wissen, wie man geistig Behinderte betreut, dann wissen Sie, dass wir in den Konzepten davon ausgehen, dass sie ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Das ist selbstverständlich. Wir gehen davon aus, dass wir den Rest an Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit fördern und entwickeln müssen. Das sind die Inhalte der Betreuungskonzepte. Sie können mir glauben, dass ich schon gelegentlich damit zu tun gehabt habe.

Das stelle ich doch nicht infrage und das will ich auch ganz deutlich sagen. Insofern haben Sie eine ganz klare Antwort verdient: Auch geistig Behinderte haben ein Recht darauf, über sich selbst zu entscheiden, soweit es ihre Behinderung zulässt. Dieser Rest muss ausgebaut und entwickelt werden.

(Frau Bull, PDS: Genau das ist es!)

Aber jetzt geht es nicht um Betreuungskonzepte, sondern um kommunalpolitische Entscheidungen. Und das ist nicht die gleiche Gefechtslage.

(Beifall bei der CDU und von der Regierungsbank - Zustimmung bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. - Frau Dr. Sitte erhält jetzt die Möglichkeit zu einer Kurzintervention.

Danke schön, Herr Präsident. - Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Wer sich über die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen unterhält und dann Bezug nimmt auf den politischen Raum, muss sich darüber im Klaren sein, dass es einer politischen Entscheidung über die Rahmenbedingungen bedarf. Deshalb geht es an dieser Stelle um Politik und deshalb ist der Vorwurf, dass es sich dabei um Politik handelt, nicht angebracht. Das ist das eine.

Das Zweite: Dass wir das Thema heute behandeln, hat ausdrücklich damit zu tun, Herr Ministerpräsident, dass Sie heute anwesend sein können. Das war Ihr Wunsch und es ist auch völlig klar, dass das in dieser Debatte gewährleistet sein muss.

Ich war in dieser Veranstaltung und ich habe mich in meiner Rede ausschließlich auf die beiden Textstellen bezogen, bei denen es tumultartige Buh-Rufe gab, bei denen es Widerstand gab, der dort auch öffentlich artikuliert wurde. Selbst an der Stelle in Ihrer Rede - ich habe das Original vorliegen -, als Sie über die Kürzung des Blindengeldes gesprochen haben, gab es im Saal keine Buh-Rufe. Deshalb habe ich mich an dieser Stelle auch nicht auf diese Entscheidung der Landesregierung bezogen, sondern ausschließlich auf die erwähnten beiden Textstellen.

Genauso wie Sie es jetzt als notwendig angesehen haben, zumindest eine Textstelle zu präzisieren, damit sie nicht missverständlich ist, sehen das offensichtlich jene, die als Teilnehmerinnen auf dieser Veranstaltung gewesen sind, für die das genauso missverständlich gewesen ist und die sich deshalb auf dieser Veranstaltung lautstark zu Wort gemeldet haben. Sie können mir überhaupt nicht unterstellen, dass ich an dieser Stelle mit der Rede, die Sie dort gehalten haben, unfair umgegangen wäre.

Das Land Sachsen-Anhalt war Gastgeberin. Sie als Ministerpräsident sind hingegangen. Ich halte das für sehr wichtig. Aber der Auftritt des Ministerpräsidenten war für das, was wir in diesem Land auf diesem Feld geleistet haben, aufgrund dieser beiden Textstellen - ich betone das jetzt zum dritten Mal - nicht ein Beleg dafür, dass in der Politik klar geworden ist, worum es im Kern der Forderungen von Menschen mit Behinderungen und ihrer Verbände geht. Das ist das Problem, nichts anderes! Deshalb ist das auch keine Profilierung auf Ihre Kosten.

(Beifall bei der PDS)