Noch 1981 waren behinderte Menschen zu dem wohl eher als Jubelveranstaltung geplanten Festakt der Bundesregierung eingeladen. Vertreterinnen und Vertreter der damaligen „Krüppelbewegung“, wie sie sich selbst nannte, protestierten laut gegen diese Art der Ehrung und attackierten sogar tätlich den damaligen Bundespräsidenten, um öffentlichkeitswirksam auf Diskriminierungen und Benachteiligungen behinderter Menschen aufmerksam zu machen.
Das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 steht unter dem Motto „nichts über uns ohne uns“. Dieses Motto steht zugleich, wie Karl-Hermann Haack als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen es formulierte, als Lehre aus manchen Veranstaltungen, die über die Köpfe und die Interessen der behinderten Menschen hinweg organisiert wurden. Es steht aber auch, wie er weiter ausführte, für den entschlossenen und selbstbewussten Kampf
Die wichtigsten Orientierungen und Forderungen sind: Teilhabe verwirklichen, Gleichstellung durchsetzen und Selbstbestimmung ermöglichen.
Die PDS hat in diesem Landtag, aber auch in den Behindertenverbänden und in den Arbeitsgruppen des runden Tisches schon vor dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen für diese Grundideen und Grundforderungen gestanden. So hat die PDS im Jahr 1997 die Landesregierung aufgefordert, ein Landesgleichstellungsgesetz in den Landtag einzubringen.
Im Januar 2000 haben wir nach vielen umfänglichen und intensiven Beratungen mit behinderten Menschen und ihren Organisationen den Entwurf eines Landesgleichstellungsgesetzes eingebracht. Das hatte zur Folge, dass auch die SPD ihre Vorstellungen veröffentlichte und ein derartiges Gesetz einbrachte.
Im Dezember 2000 wurde von diesem Landtag dann wiederum die novellierte Landesbauordnung beschlossen, die nicht zuletzt auf Vorschlag und auf Drängen der PDS vorbildliche Regelungen für das barrierefreie Bauen enthielt. Das ist kein Investitionshemmnis; ansonsten würde das wahrscheinlich in Amerika in dem Umfang, der dort übrigens darüber hinaus geht, nicht stattfinden.
Das alles führe ich an, um deutlich zu machen, worauf die neue Landesregierung hätte zurückgreifen können, um dem Landtag, wie im Antrag der PDS-Fraktion vom Juli 2002 gefordert wurde, über ihre Vorstellungen und Konzepte zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen zu berichten, und worauf sie sich auch während der Eröffnungsveranstaltung in Magdeburg hätte beziehen können.
Heute ist festzustellen: Die Berichterstattung der Landesregierung in den Ausschüssen war dürftig und sie wirkte sehr halbherzig. Einzig Herr Dr. Daehre griff Anregungen sowohl von den Verbänden als auch von den Abgeordneten auf, um neue Barrieren zu verhindern. Die PDS-Fraktion begrüßt daher das Vorhaben des Ministeriums, einen Wettbewerb „Barrierefreie Kommune“ in Sachsen-Anhalt auszuloben. Aber, meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Man kann in diesem Wettbewerb schon sehr weit oben landen, wenn man nichts weiter einhält als das Gesetz.
Festzustellen ist aber insgesamt, dass nach zehn Monaten schwarz-gelber Landesregierung dies die einzige originäre Idee dieser Landesregierung auf diesem Feld war und ist. So kann der Auftritt des Ministerpräsidenten Professor Böhmer
am 21. Februar 2003 während der nationalen Auftaktveranstaltung zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen in Magdeburg nicht wirklich verwundern. Er galt und gilt vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, insbesondere auch aus Sachsen-Anhalt, als blamabler Beleg dafür, wie wenig vertraut ihm und der Landesregierung die Probleme von behinderten Menschen sind.
Es ist ihm offensichtlich überhaupt nicht bewusst, dass die Wahl nicht zufällig auf Magdeburg und auf SachsenAnhalt gefallen ist.
Die Entscheidung hatte sehr wohl mit der Qualität des Landesgleichstellungsgesetzes und der Landesbauordnung zu tun. Irgendwann gegen Ende seiner Rede fanden diese dann auch eine fast verschämte Erwähnung.
Die Rede des Ministerpräsidenten wurde mit Pfiffen und Buh-Rufen quittiert, meine Damen und Herren von der CDU, und die Gründe dafür haben uns zu dieser Aktuellen Debatte veranlasst.
- Lassen Sie mich doch erst einmal ausreden. Sie waren nicht dabei, ich war dabei. Deshalb spreche ich auch dazu. - Die offene Ablehnung unter den Teilnehmern und Teilnehmerinnen ergab sich an zwei Punkten, die den Integrationsgedanken und die Vorstellung von völliger Gleichstellung, wie sie der Ministerpräsident eingangs seiner Rede noch unterstützt hatte, auf eine Probe im praktischen Handeln stellten.
„Und der Satz und die Forderung, dass nichts über uns ohne uns entschieden werden soll, der gilt für viele Bereiche, aber er gilt nicht und kann nicht gelten insbesondere für geistig und intellektuell Behinderte.“
Abgesehen davon, dass es wichtig wäre zu wissen, welche üblichen Fälle außerhalb dieses „insbesondere“ gemeint sein könnten, zeigt dieser Satz doch, wie wenig sich Ihnen die Lebenswelt erschlossen hat und wie wenig Sie bereit sind, die Potenziale dieser Menschen zur Kenntnis zu nehmen.
Zwangsläufig folgen daraus Auffassungen und letztlich auch politische Entscheidungen, die ihre Grundlage vielleicht zu sehr in Unkenntnis haben.
„Und immer dann, wenn es darum geht, zum Beispiel zu entscheiden, wo die optimalen Förderbedingungen für ein behindertes Kind möglich sind, erleben wir fast regelmäßig schwierige Diskussionen mit Eltern, mit den betroffenen Helfern und mit denen, die als Sachverständige zu entscheiden haben. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen: Wir haben in Dessau für schwer geistig Behinderte und Mehrfachbehinderte eine Sonderschule mit sehr viel Geld aufgebaut, mit optimalen Förderbedingungen. Aber wir haben richtig große Schwierigkeiten zu erreichen, dass die Eltern, die weiter entfernt wohnen, bereit sind, ihre Kinder dort in die Schule zu bringen, und wir haben Schwierigkeiten mit den Eltern in anderen Schulen, die diese Kinder nicht abgeben wollen, weil sie sich darauf eingestellt haben und weil sich ein menschlich verständliches Verhältnis entwickelt hat.“
So weit zu dem Zitat. An dieser Stelle wird aus unserer Sicht gravierend deutlich, dass Sie eigentlich den Kerngedanken des Landesgleichstellungsgesetzes und die
Kernforderung von behinderten Menschen auf Gleichstellung durch aktive Integration in Ihrer Bewertung nicht verarbeitet haben. Gerade das gegenseitige Aufeinanderzugehen, das Eingehen, Einstellen, menschliche Verhältnisse, wie Sie sie selbst benannten, wollen wir im Alltag erreichen. Um dieses Miteinander sollte es ausdrücklich gehen und das besagt das Gesetz auch. Dieses Ziel beinhaltet, so wenig wie möglich auf sondernde Angebote zurückzugreifen.
So entstand auf der Veranstaltung zu Recht im entsetzten Auditorium der Eindruck, dass diese Landesregierung die Fortschritte gerade im Bereich der Selbstbestimmung behinderter Menschen nicht wahrnehmen will. Was sich mit der Kürzung des Blindengeldes, mit den Kürzungen für Behinderteneinrichtungen, mit den Diskussionen um die integrativen Kitas andeutete, ist offensichtlich mehr als nur ein Sparkonzept.
In unserem Bundesland feiert das überholte Konzept der Fremdbestimmung und der Fürsorge für behinderte Menschen als Leitbild von Regierungshandeln unselige Auferstehung. Dabei sind die Debatten und Erkenntnisse um diese Landesregierung herum längst viel weiter und es gibt nicht wenige europäische Länder, die diese Erkenntnisse bereits innovativ umsetzen und im Alltag damit gemeinsam mit behinderten Menschen planen, diesen Alltag gemeinsam erleben und erfolgreich meistern.
Wenn Bundespräsident Rau in seinem Grußwort an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung von Magdeburg feststellt, dass noch immer behinderte Menschen im Alltag mit Hindernissen und Vorurteilen konfrontiert sind, dann ist für das Land Sachsen-Anhalt anzumerken, dass seine Landesregierung aus der Sicht der Menschen mit Behinderungen für sie das erste Hindernis für mehr Teilhabe und Gleichstellung behinderter Menschen ist
Diese Landesregierung repräsentiert und konserviert Vorurteile gegenüber behinderten Menschen und ihren Ansprüchen an Leben und Teilhabe.
In der Presseerklärung der Landesregierung zur Eröffnungsveranstaltung des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen vertreten Sie folgende Position - ich zitiere wieder - :
„Gesellschaftliches Handeln muss darauf gerichtet sein, Behinderten eine uneingeschränkte Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen.“
Ich sehe das genauso. Diese Position teilen wir. Wenn das ernst genommen werden soll, Herr Ministerpräsident, dann müssen Sie - so meinen wir - die Äußerung vom 21. Februar zurücknehmen. Sie müssen sich bei den behinderten Menschen entschuldigen
und müssen letztlich dieses Leitbild, das Sie selber formuliert haben, konsequent verwirklichen. - Danke schön.
Danke sehr, Frau Dr. Sitte. - Meine Damen und Herren! Für die Landesregierung hat nun der Ministerpräsident Herr Professor Böhmer um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Professor Böhmer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte zunächst gar nicht vor, zu diesem Thema unbedingt sofort zu sprechen, weil ich vermutete, dass es aufgrund des Themas „Europäisches Jahr der Menschen mit Behinderungen“ eine sehr sachliche Diskussion zu den Problemen geben wird, die wir in SachsenAnhalt natürlich auf diesem Gebiet haben. Deswegen dachte ich, es sei vernünftiger, mich zurückzunehmen, um die Diskussion so lange wie möglich sachlich zu lassen. Nach dem, was Frau Dr. Sitte jetzt vorgetragen hat, möchte ich nicht, dass die gesamte weitere Diskussion unter dieser Verzerrung leidet.