Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die seit der Landtagswahl vergangenen Monate zurückverfolgt, gelangt man zu dem Eindruck, die Landesregierung und die sie tragenden Landtagsfraktionen von CDU und FDP beteiligten sich an einem Wettbewerb zur Erzeugung maximaler Verunsicherung und Unruhe an unseren Schulen.
Ich bin überzeugt, spätestens mit dem heutigen Tag ist Ihnen der Siegerpreis sicher, und das in Rekordzeit. Wer in drei aufeinander folgenden Landtagssitzungen drei Schulgesetznovellen einbringt bzw. verabschiedet, der ist in der Tat rekordverdächtig.
Aber, meine Damen und Herren, bedeutet Masse, bedeutet Schnelligkeit auch immer Qualität? Vor allem: Taugen die Lösungen von gestern für die Probleme von heute und morgen? - Keineswegs, wie ein Blick in den neuerlich vorgelegten Gesetzentwurf beweist.
Der Gesetzentwurf der CDU und der FDP schafft im Kern die zehnjährige Vollzeitschulpflicht wieder ab und implementiert in der Sekundarschule wieder getrennte Bildungsgänge, den Hauptschul- und den Realschulbildungsgang.
Im Ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der FDP: Sieht ein Reformgesetz so aus? Zusätzlich bedienen Sie sich eines Mittels, mit dem Sie sich selbst untreu werden. Sie wissen ganz genau, dass aufgrund der sinkenden Schülerzahlen und der Vorgaben der Schulentwicklungsplanung die Bildung von Hauptschulklassen an vielen Sekundarschulen nicht möglich wäre. Deshalb schaffen Sie ein künstliches Steuerungsinstrument, das de facto den Elternwillen außer Kraft setzt.
An dieser Stelle lohnt sich schon eine detaillierte Betrachtung. Dass Sie die Haupt- und Realschulbildungsgänge wieder einführen wollen, überrascht nicht. Sie mussten aber feststellen, dass dies bei einer freien Wahl des Bildungsganges nicht funktioniert. Bei sinkenden Schülerzahlen bekommen Sie Probleme bei der Klassenbildung im Hauptschulbildungsgang. Wenn man davon ausgeht, dass im Durchschnitt 10 % eines Jahrganges den Hauptschulbildungsgang wählen würden, wären das bei einer zweizügigen Sekundarschule mit 40 bis 50 Schülern je Jahrgang vier bis fünf Hauptschüler. Damit können Sie keine Klasse bilden.
Jetzt schaffen Sie das künstliche Instrument der Eignungsfeststellung für den Besuch der Bildungsgänge ab Klasse 7. Das bedeutet, die Schüler müssen ihre Eignung für den Realschulbildungsgang oder aber auch für den gymnasialen Bildungsgang nachweisen. Im Gesetzentwurf ist die Rede von zentralen Klassenarbeiten in den Fächern Deutsch und Mathematik nach den Klassen 4 und 6. Wortwörtlich heißt es - ich zitiere -:
„Am Ende des 6. Schuljahrganges wird auf der Grundlage bestimmter Leistungsvoraussetzungen über die Einstufung in die abschlussbezogenen Klassen oder Kurse sowie über den Wechsel in einen anderen Bildungsgang entschieden.“
Wer entscheidet hier eigentlich? Meine Damen und Herren von der CDU und der FDP, wie definieren Sie „bestimmte Leistungsvoraussetzungen“? Das ist ein Schlüsselpunkt in diesem Gesetzentwurf. Hierzu stellt der Gesetzentwurf der Landesregierung in Form einer Verordnungsermächtigung einen Blankoscheck aus. Diese Entscheidung ist aber hochpolitisch. Dies kann man bei allem Respekt nicht nur dem Ministerium überlassen.
Meine Damen und Herren von CDU und FDP, werden Sie doch einmal konkret und nennen Sie uns wirklich Ihre Vorstellungen. Ab wann wird ein Schüler Ihrer Meinung nach denn zum Hauptschüler? Welchen Notendurchschnitt muss er erbringen? Die Eltern und Schüler haben nicht nur das Recht zu erfahren, was Sie planen, sondern sie müssen wissen, was auf sie zukommt.
Mit dem Gesetzentwurf von CDU und FDP wird der freie Zugang zur Bildung, die freie Wahl des Bildungsganges unserer Meinung nach unzulässig eingeschränkt. Das finden wir unglaublich,
vor allem vor dem Hintergrund, dass Sie sich in der Vergangenheit immer als Gralshüter der Verfassungsrechte der Eltern aufgespielt haben. Warum haben Sie an dieser Stelle eigentlich keine Bedenken? Wo bleibt hier der Schutz der Elternrechte auf Mitbestimmung bzw. die freie Wahl des Bildungsganges? Ist die Zuordnung eines Kindes zu einem Bildungsgang weniger wichtig als zum Beispiel die tägliche Aufenthaltsdauer an der Grundschule, zumal die Wahl des Bildungsganges und der damit verbundene Abschluss für die weitere Entwicklung eines jungen Menschen ganz entscheidend ist?
CDU und FDP haben mit der vorgeschlagenen Regelung ihre bisherige Argumentation selbst zu Grabe getragen. Sie sind nicht nur unehrlich, sondern Sie nehmen die gravierenden Auswirkungen auf den Bildungsweg des einzelnen Schülers scheinbar einfach so hin.
Der Drang zur Auslese manifestiert sich auch in weiteren geplanten Gesetzesregelungen. So sollen zukünftig jene Schülerinnen und Schüler des 5. Schuljahres an Gymnasien an einen „geeigneten Bildungsgang“ überwiesen werden, wenn eine erfolgreiche Mitarbeit auch nach einer Wiederholung nicht erwartet werden kann. Was heißt eigentlich „geeignet“?
Dafür kreieren Sie eine neue Bezeichnung für die Klassen 5 und 6, die Erprobungsstufe. In der Tat passt dieser Begriff zum angestrebten Prozedere: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Was ist das für ein Bild von Schule? Wer die Probe nicht besteht, wer die Selbsterprobung nicht besteht, wird aussortiert.
Von gleichberechtigter Förderung und Forderung kann nicht die Rede sein; denn - darüber müssen Sie sich im Klaren sein - die Möglichkeit der Umstufung existiert vornehmlich auf dem Papier. Damit sind wir weit weg von Chancengleichheit und auch - um Ihren Begriff zu verwenden - von Chancengerechtigkeit.
Was sind die Auswirkungen der geplanten Gesetzesänderung? - Wir befürchten, dass die Schule durch den Gesamtkomplex von Schulgesetzen wesentlich rauer wird, dass Eignungsfeststellungen die Bildungslaufbahn der Kinder zu einem sehr frühen Zeitpunkt vorherbestimmen und dass der Leistungsdruck bzw. die Versagensangst die Schüler stärker als bisher separieren.
Sieht so ein Reformgesetz aus? Schafft man mit diesen Mitteln die Voraussetzungen dafür, dass sich die Qualität der schulischen Arbeit verbessert? Ist die Verkürzung der Vollzeitschulpflicht von zehn auf neun Jahre ein bildungspolitischer Fortschritt? - Nein. Die Antwort lautet dreimal nein. Deshalb, meine Damen und Herren von CDU und FDP, ist dieser Gesetzentwurf ein Hohn auf die Pisa-Ergebnisse.
Nur eines werden Sie damit erreichen: In Rekordzeit stellen Sie genau jenes Schulsystem wieder her, das Sie bereits Anfang der 90er-Jahre eingeführt hatten.
Aber war es das jetzt? Wann kommen Ihre Vorschläge für die innere Schulreform? Es ist häufig darüber philosophiert worden, dass inhaltliche Reformen notwendig sind. Wo sind diese denn?
(Frau Liebrecht, CDU: Nicht zu fassen! - Zurufe von Herrn Dr. Schellenberger, CDU, und von Herrn Schröder, CDU - Unruhe bei der CDU)
Alle drei bisher durch die Landesregierung bzw. durch die regierungstragenden Fraktionen eingebrachten Schulgesetznovellen haben letztlich nur strukturelle Veränderungen zum Ziel.
Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf ist ein kläglicher Abgesang auf Chancengleichheit und Durchlässigkeit in unserem Schulsystem.
Die SPD wird sich aus diesem Grund im Rahmen der Abstimmung über die Überweisung des Gesetzentwurfes der CDU und der FDP in den Ausschuss für Bildung und Wissenschaft der Stimme enthalten.
Einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf der PDSFraktion. Im Unterschied zu dem Gesetzentwurf der CDU und der FDP setzt dieser auf die Grundprinzipien Chancengleichheit und Durchlässigkeit. Der integrative Bildungsgang soll an der Sekundarschule beibehalten werden.
Wenn man die Sekundarschule als wirklich gleichberechtigten Bildungsgang neben das Gymnasium stellen will, sodass ein fließender Übergang in die gymnasiale Oberstufe wirklich möglich wird, muss man zwangsläufig die Stundenzahl in der Sekundarstufe I entsprechend der des Gymnasiums erhöhen und an die KMK-Vorgabe zur Erlangung des Abiturs anpassen.
Eine stärkere Kooperation von Sekundarschulen, berufsbildenden Schulen und Gymnasien ist für uns selbstverständlich. Inwieweit und in welcher Form Unterrichtsabschnitte an berufsbildenden Schulen durchgeführt werden sollen und können, ist aus unserer Sicht fraglich. Betriebspraktika sind schon jetzt obligatorischer Bestandteil des Unterrichts.
Einer Überweisung des Gesetzentwurfs nebst Entschließungsantrag der PDS in den Ausschuss für Bildung und Wissenschaft werden wir zustimmen.
Im Übrigen, meine Damen und Herren, wird die SPD morgen auf ihrem Parteitag über einen Antrag der Arbeitsgemeinschaft für Bildung beraten, der auf der Basis von 20 Thesen unter anderem inhaltliche Reformvorschlä
ge im Bildungsbereich benennt. Auf dieser Grundlage werden wir in dieser Legislaturperiode inhaltliche Alternativen zum gegenwärtig von CDU und FDP eingeschlagenen Kurs aufzeigen und in die parlamentarische Debatte einbringen.
Denn eines, meine Damen und Herren, ist klar: Eine konservative Wende nach den Vorstellungen von CDU und FDP können wir in unserem Bildungssystem am allerwenigsten gebrauchen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS - Frau Liebrecht, CDU: Aber Ihr Bildungssystem! - Herr Schröder, CDU: Nach acht Jahren!)
Vielen Dank, Frau Mittendorf - Die Debatte wird mit dem Beitrag der FDP-Fraktion fortgesetzt. Ich erteile Herrn Dr. Volk das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Wenn wir heute über ein Neuntes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes, das die Fraktionen der CDU und der FDP einbringen, beraten, verdeutlicht dies, wie ernst wir es mit der Modernisierung des Schulwesens in Sachsen-Anhalt meinen.
Das Schulsystem ist ein äußerst komplexes Gebilde, das in seiner Gesamtheit betrachtet und reformiert werden muss. So ist es nur konsequent, dass wir nach der Grundschule und der gymnasialen Oberstufe auch die Sekundarstufe I und insbesondere die Sekundarschule reformieren wollen.
Dabei drückt die Reihenfolge der Gesetzesnovellen keine Bewertung aus; sie ist auch nicht bedeutsam; denn alle angestrebten Veränderungen sollen zu Beginn des nächsten Schuljahres wirksam werden. So bleibt einerseits genügend Zeit, die Vorbereitungen zu treffen; andererseits wird das Gesamtpaket nicht auf die lange Bank geschoben.
Ich denke, dass wir insbesondere das achte und das neunte Änderungsgesetz im Zusammenhang betrachten und diskutieren sollten, da beide in ihrer Gesamtheit der Modernisierung des Sekundarschulbereiches dienen und im Hinblick auf deren Umsetzung dem Respekt vor dem Wählerwillen geschuldet sind.
Als notwendiger Schritt wurden bereits mit einer Verordnung zur Änderung der Abschlussverordnung für die Sekundarstufe I erkennbare und deutschlandweit anerkannte Abschlussbezeichnungen eingeführt. Damit ist es für die Schüler aus unserem Land wieder möglich, sich in ganz Deutschland um eine Lehrstelle zu bewerben, ohne wegen unbekannter Bezeichnungen unter einen Rechtfertigungsdruck zu geraten. Mit der Gesetzesänderung geben wir jetzt den rechtlichen Rahmen für diese erkennbaren Bildungsgänge vor.
Wohl selten war der Begriff „Reform“ so angebracht wie bei dem vorliegenden Gesetzentwurf. Die vorgesehenen Regelungen geben der Schulform, die von der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler des Landes besucht wird, wieder eine erkennbare Struktur. Es handelt sich um eine echte Wiederherstellung und eine Reformierung im wörtlichen Sinne. Diesbezüglich gebe ich Ihnen Recht, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion.
Die Klassenverbände werden gestärkt, wobei der angestrebte Abschluss zum Kriterium für die Zusammensetzung der Klassen wird. Dadurch wird sichergestellt, dass die Schüler in den allermeisten Fächern in einer beständigen Zusammensetzung dem Unterricht folgen können. Verlässlichkeit bildet, wie in jeder Grundvorlesung zur allgemeinen Pädagogik zu hören ist, eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg des Unterrichts.