Protocol of the Session on March 15, 2002

(Herr Dr. Daehre, CDU: Vorsichtig!)

Wenn sich die Bevölkerung so entwickelt, wie es hier prognostiziert wird - Korrekturen wird es daran sicherlich geben -, dann kann ich überhaupt nicht verstehen, wie man entsprechenden Veränderungen der Gebietsstrukturen entgegenstehen kann. Dann steht man wirklich der Zukunftsfähigkeit dieses Landes entgegen.

(Beifall bei der SPD - Herr Dr. Bergner, CDU: Das ist unter diesem Gesichtspunkt überhaupt nicht berücksichtigt! - Zurufe von Herrn Dr. Daeh- re, CDU, und von Herrn Becker, CDU)

- Das ist doch auszurechnen. Ich sage jetzt einmal: Sie können meine Reden nachrecherchieren. Ich habe dies ganz bewusst immer als einen Grund für die Notwendigkeit der Kreisgebietsreform und der Gemeindegebietsreform mit genannt.

(Herr Dr. Bergner, CDU: Die regionalen Auswir- kungen sind überhaupt nicht prognostiziert!)

Ich habe ausdrücklich gesagt: Es geht nicht nur um die Frage, wer wann wo welche Aufgaben wahrnimmt. Das

ist vielmehr eine Frage der Zukunftsfähigkeit des Landes Sachsen-Anhalt.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Ministerin Frau Dr. Kuppe)

Insofern ist das alles unglaubwürdig, was Sie im Hinblick auf drohende Szenarien in der Bevölkerungsentwicklung sagen. Sie tragen diesen Themen nicht einmal in den Punkten Rechnung, über die wir schon jetzt entscheiden müssen, geschweige denn in denen, über die wir in zehn oder 15 Jahren zu entscheiden haben.

(Beifall bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, es gibt eine Anfrage des Abgeordneten Herrn Becker.

Ja, bitte.

Herr Becker, bitte.

Es wird nicht bestritten, dass Sie sich so geäußert haben, aber - das haben Sie vergessen hinzuzufügen - Sie haben mit uns gemeinsam im Jahr 1993 beschlossen, dass vor dieser Gebietsreform eine Verwaltungsreform kommt.

(Zustimmung bei der CDU)

Das haben Sie jetzt unterlassen zu sagen.

Herr Becker, ich möchte diese Schlachten jetzt nicht noch einmal führen, weil darüber schon häufig diskutiert worden ist. Ich sage es Ihnen jetzt aber einmal so: Ihr Szenarium, wie Sie sich das vorstellen, träumt davon, dass wir unendlich viel Zeit hätten. Wenn wir so handeln würden, dann hätten wir die Zeitpunkte, zu denen wir vernünftige Änderungen machen können, verschlafen. Wir verschlafen sie nicht. Schlafen Sie weiter.

(Zurufe von Herrn Becker, CDU, und von Herrn Dr. Daehre, CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will, weil dies eine große Rolle spielt, nunmehr zu dem Thema der kleiner werdenden Städte noch etwas sagen. In der Tat sind 20 % Wohnungsleerstand bedrückend. Ich will allerdings hinzufügen: Das ist genau der Wohnungsbestand, der in den letzten zehn bis zwölf Jahren aufgebaut worden ist. Dieser Wohnungsbestand ist jetzt, da die Bevölkerung eben nicht wächst und er auch wegen höherer Ansprüche nicht benötigt wird, ein Überhang.

Sie reden davon, dass der Abbruch eine Kapitalvernichtung wäre. Ich kann Ihnen nur sagen: Auch das ist Verschlafen. Die Kapitalvernichtung ist passiert, als mit üppiger Förderung zuviel Wohnraum entstanden ist.

(Zustimmung bei der SPD)

Die Kapitalvernichtung ist das Thema von gestern. Heute sind wir dabei, die Fehlentwicklungen, die es dabei

gegeben hat, nicht noch teurer werden zu lassen, als sie ohnehin schon geworden sind.

(Zuruf von Herrn Dr. Daehre, CDU)

Das heißt mit anderen Worten: Tun Sie nicht so, als würden wir jetzt Kapitalvernichtung betreiben. Wir betreiben jetzt eine Sanierung. Die Kapitalvernichtung ist passiert, als die Überkapazitäten geschaffen wurden. Das ist wirtschaftlich recht einfach nachzuvollziehen.

(Zustimmung bei der SPD - Herr Dr. Daehre, CDU: Ihr habt immer gesagt: Wir bauen! - Zuruf von Herrn Dr. Bergner, CDU)

Meine Damen und Herren! An dieser Stelle ist nun auch besonders eindrücklich nachzuvollziehen, dass es uns um eine nachhaltige Entwicklung geht. Es geht wirklich nicht nur um den Abriss, sondern es geht die Lösung einer Zukunftsaufgabe. Das Thema schrumpfender Städte werden wir nicht nur im Osten Deutschlands, sondern in Deutschland und in Europa bekommen.

(Herr Becker, CDU: Das stimmt!)

Die Tatsache, dass wir an dieser Stelle so konzeptionell vorangehen, wird die Zukunftsfähigkeit des Landes Sachsen-Anhalt stärken. Das wird es uns aber auch erlauben, Know-how, gewissermaßen unsere Erfahrungen, zu exportieren, wenn andere an dieser Stelle Probleme bekommen. Das, finde ich, ist auch ein guter Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft über Sachsen-Anhalt hinaus.

(Zustimmung bei der SPD und von der Regie- rungsbank)

Meine Damen und Herren! Es wird immer wieder gesagt, uns fehlte ein Leitbild für die Wirtschaft. An dieser Stelle kann ich nur sagen: Wer das behauptet, nimmt offenbar nicht wahr, was in diesem Lande passiert. Wir haben intensive Branchendialoge. Ich greife hierzu einen Bereich heraus, bei dem es für jeden nachvollziehbar wird, ohne dass ich noch Fakten liefern muss.

Unser Leitbild im Hinblick auf die chemische Industrie ist so attraktiv, dass andere Länder sich diesem Branchendialog anschließen. Wir haben gute Chancen, dass diese Region - ich habe es gestern bereits gesagt - auch in Europa ein entsprechendes Zentrum wird.

Es ist übrigens unser Konzept auch für die weiteren Bereiche unserer Wirtschaft, Leitbilder zu entwickeln, meine Damen und Herren, weil es eine Illusion ist zu denken, man könnte mit ein paar Wissenschaftlern oder am grünen Tisch Leitbilder entwickeln und die Wirtschaft würde dann sofort nur diese Leitbilder umsetzen.

Wer wirklich attraktive, anziehende Leitbilder entwickeln will, kann das nur im Dialog mit der Wirtschaft tun. Darauf setzen wir. Ich sage Ihnen: Daraus werden attraktive Leitbilder Schritt für Schritt deutlicher in ihren Konturen erkennbar. Wir lassen uns durch die Unsicherheiten, die gelegentlich verstreut werden, nicht davon abbringen. Dieser Dialog wird fortgesetzt und Sachsen-Anhalt hat und wird auch weiterhin Konturen in dieser Hinsicht bekommen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Minister Herrn Dr. Heyer und von Ministerin Frau Dr. Kup- pe)

Allerdings erlaube ich mir doch, den Bericht der Enquetekommission an einem Punkt etwas zu kritisieren. Ich habe mich zunächst darüber gefreut, dass wir Unter

stützung für unsere Konsolidierungspolitik bekommen haben. Die Neuverschuldung muss zurückgeführt werden. Übrigens wird die Diskussion um die Investitionsquote, wenn wir keine Neuverschuldung mehr haben, ohnehin ein bisschen gegenstandsloser, weil es dann nicht mehr um verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenzen geht. Vielmehr werden die Verschuldungsgrenzen dann durch ganz andere Rahmenbedingungen gezogen. Das empfand ich als eine gute Unterstützung.

Dann habe ich die anderen Kapitel gelesen, in denen Schwerpunktsetzungen gefordert werden. Das las sich wieder so, wie ich es aus allen Haushaltsberatungen kenne. Es gab die Wunschliste der Ressorts und den Deckel des Finanzministers. In diesem Punkte ist die Enquetekommission leider keinen Schritt über unsere jährliche Plage hinausgekommen. Ein bisschen mehr Schwerpunktsetzung wäre hilfreich gewesen.

Eine Schwerpunktsetzung allerdings ist andeutungsweise erkennbar. Die nehme ich gern als Rückenwind mit für das, was wir bisher gemacht haben. In den Bereichen Forschung, Entwicklung und Bildung - in den Themen, die man mit dem Begriff der Innovation umschreibt - einen Schwerpunkt zu setzen, und zwar unabhängig von der Frage, ob es in die formale Investitionsquote hineinpasst, halte ich für richtig. Das werden wir weiterhin machen. Den Rückenwind, den der Bericht der Enquetekommission uns bietet, nehmen wir gern auf. Ich bin mir ganz sicher, dass das Investitionen in die Zukunft sind, die sich auszahlen werden.

(Zustimmung bei der SPD und von der Regie- rungsbank)

Freilich - das kann ich überhaupt nicht bestreiten - ist damit auch ein Wermutstropfen verbunden, den SachsenAnhalt wie kein anderes Land in seiner Entwicklung bemerkt. Wir haben nicht nur den Umbruch von der, wie man so schön sagt, sozialistischen Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft oder zur sozialen Marktwirtschaft hinter uns bringen müssen, sondern wir haben in den 90er-Jahren auch einen Technologiesprung erlebt, der dazu führt, dass mit wesentlich weniger Arbeitskräften wesentlich mehr produziert wird.

Die Arbeitsproduktivität ist nicht umsonst in SachsenAnhalt die höchste. Das heißt, wer auf solche Innovationen setzt, muss sich darüber im Klaren sein, dass wir damit den Bereich hochproduktiver Arbeit in besonderer Weise fördern. Damit bleibt uns die Frage, wie Arbeitsplätze in anderen Bereichen als in diesem rein produktiven Gebiet entstehen, weiterhin als eine Zukunftsaufgabe. Ich jedenfalls teile nicht den Glauben, dass die nächste Konjunkturerholung automatisch die Arbeitslosigkeit beseitigt.

Damit wird nur angedeutet, dass über die Frage der Zukunftsfähigkeit unserer Welt über Sachsen-Anhalt hinaus noch viel wird gearbeitet werden müssen, ehe wir Perspektiven entdecken, die uns wirklich mit gutem Gewissen sagen lassen, dass wir den Globus als Ganzes für unsere Kinder und Enkel bewahren können. Darüber allerdings nachzudenken, daran zu arbeiten und dazu auch mit eigener Politik im Land beizutragen, nach dem Motto „Global denken - lokal handeln“, halte ich für lohnenswert. Daran hat sich die Enquetekommission beteiligt. Darum kam mein Dank für alle Beteiligten von Herzen. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS und von der Regierungsbank)

Danke schön, Herr Ministerpräsident. - Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen.

(Herr Dr. Bergner, CDU: Herr Köck hat sich ge- meldet!)

- Herr Dr. Köck, Sie haben noch zweieinhalb Minuten Redezeit. Aber Sie hätten zudem noch die Möglichkeit zu reden, nachdem die Landesregierung gesprochen hat.

Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, noch einmal zu reden. Aber ich möchte mich einmal persönlich an Herrn Fikentscher wenden. Sie sind der Vorsitzende der SPDFraktion. Ich nehme an, dass solch gewichtige Themen wie die Formulierung der Aufgaben einer Enquetekommission, die Entscheidung über die Einsetzung einer Enquetekommission mit dieser Tragweite über Ihren Tisch gegangen sind.

Ich bin im Nachhinein froh, dass dieser Vorschlag nicht von der PDS-Fraktion unterbreitet wurde, dass die SPDFraktion in dem Wettrennen damals schneller war als wir. Wir als Mitglieder der Enquetekommission haben jedenfalls versucht, unsere Fraktion auf dem Laufenden zu halten und in die Erarbeitung des Abschlussberichtes einzubeziehen.

Ihre heutige Rede, Herr Fikentscher, hätten Sie vor einem halben Jahr vor Ihrer Fraktion halten müssen. Ich denke, dann wäre es gelungen, aus diesem Nebeneinander und teilweise sogar aus diesen Widersprüchen, die der Herr Ministerpräsident eben zu Recht moniert hat, das tatsächlich fehlende verbindende Dach an Leitlinien und Zielen zu knüpfen, die dann die Widersprüche hätten berücksichtigen müssen.

Ihre Einschätzung gipfelte in dem kleinen Bonmot, vielleicht werde der Landtag der vierten Legislaturperiode ein Rat für Zukunftsfähigkeit sein. Haargenau das waren die Argumente, mit denen die CDU-Fraktion ihre Ablehnung der Enquetekommission begründet hatte. Wir sind ja alle so weise; wir brauchen keine Enquetekommission.