Protocol of the Session on November 15, 2001

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 65. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der dritten Wahlperiode. Dazu möchte ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste begrüßen. Gestatten Sie mir bitte eine Eingangsbemerkung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 18. November 1946, also nahezu auf den Tag genau vor 55 Jahren, trat der am 20. Oktober 1946 gewählte Landtag der Provinz Sachsen im Stadtschützenhaus zu Halle zu seiner Konstituierung zusammen. Die feierliche Eröffnung des ersten Landtages des faktisch entstandenen und bald auch so genannten Landes Sachsen-Anhalt erfolgte in durchaus denkwürdiger Weise. Alterspräsident war der Liberale Carl Delius, der sich in seiner Rede sehr eindrucksvoll zur Einheit Deutschlands bekannte und die Einhaltung der Demokratie anmahnte. Zum ersten Landtagspräsidenten wurde Bruno Böttge gewählt.

In einer gemeinsamen Erklärung bekannten sich alle Fraktionen zur Einheit Deutschlands und zu einem Staatswesen, das als dezentralisierter Einheitsstaat strukturiert sein sollte. - Heute wissen wir, dass es anders kam. Land und Landtag gingen im Jahr 1952 unter, weil für sie in den Staats- und Gesellschaftsvorstellungen der SED kein Platz mehr war.

Der Landtag wird Anfang 2002 an die Auflösung der Länder in der DDR vor 50 Jahren mit einer Veranstaltung in Halle erinnern.

Den ersten Landtag von Sachsen-Anhalt insbesondere hinsichtlich seines Platzes Ende der 40er-Jahre zu beurteilen, fällt auch heute noch schwer. Zu widersprüchlich sind die Befunde. Vielleicht trifft es deshalb die These von Richard Schröder, die er auf einer Veranstaltung des Landtages im Jahr 1996 äußerte, recht gut; er sagte, der Landtag habe sich zwischen einem demokratischen Anfang, der später im kalten Wind des Stalinismus erstarrte, und einer Scheindemokratie bewegt, in der die SED nach einem Ulbricht zugeschriebenen Wort alles in der Hand behalten musste, es aber trotzdem demokratisch aussehen sollte.

Wichtig ist mir allerdings, abseits geschichtswissenschaftlicher Befunde auch daran zu erinnern, dass sich im ersten Landtag zahlreiche Persönlichkeiten versammelt hatten, die bereits in der Weimarer Republik Verantwortung getragen hatten und in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt worden waren. Auch an sie sollte heute erinnert werden. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei allen Fraktionen und von der Regie- rungsbank)

Ich stelle nunmehr die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest. Ich komme zur Entschuldigung von Mitgliedern der Landesregierung. Die Landesregierung hat den Ältestenrat informiert, dass Herr Minister Gerhards sich wegen einer Sitzung des Finanzausschusses des Bundesrates für die heutige Sitzung entschuldigen müsse. Die Entschuldigung wurde zwischenzeitlich zurückgezogen. Herr Minister Gerhards wird also an der Landtagssitzung teilnehmen.

Der Ministerpräsident hat mich in einem Schreiben davon unterrichtet, dass heute, am 15. November 2001, im Deutschen Bundestag eine Aktuelle Stunde zum Thema

„Haltung der Bundesregierung zur beschleunigten industriellen Auszehrung der neuen Bundesländer angesichts der geplanten Schließung der Bombardier-Werke in Ammendorf“ stattfindet, an der der Ministerpräsident persönlich teilnehmen möchte. Er bittet zu entschuldigen, dass er die Landtagssitzung nach der Aktuellen Debatte zum gleichen Thema verlassen wird.

Wir kommen zur Tagesordnung. Die Tagesordnung für die 35. Sitzungsperiode des Landtages liegt Ihnen vor. Die Fraktionen der CDU und der FDVP haben fristgemäß je ein Thema für die Aktuelle Debatte angemeldet. Zum Thema „Zukunft des Waggonbaustandortes Ammendorf“ liegt Ihnen der Antrag der Fraktion der CDU in Drs. 3/5138 vor. Zum Thema „Gefährdung der inneren Sicherheit in Sachsen-Anhalt durch ungeprüfte Aufnahme von Flüchtlingen aus Problemländern“ liegt der Antrag der Fraktion der FDVP in Drs. 3/5141 vor. Ich schlage vor, diese Themen als Tagesordnungspunkt 0 auf die heutige Tagesordnung zu nehmen.

Gibt es weitere Bemerkungen zur Tagesordnung? - Das ist offenbar nicht der Fall. Dann können wir so verfahren.

Noch eine Bemerkung zum Ablauf der heutigen 35. Sitzungsperiode. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle Fraktionen haben sich im Ältestenrat darauf verständigt, die Tagesordnung am heutigen Sitzungstag abzuarbeiten. Zugleich möchte ich daran erinnern, dass im Anschluss eine parlamentarische Begegnung mit dem Verein Deutscher Ingenieure im Raum B 0 05 stattfindet. Mit Blick auf den Zeitplan der 35. Sitzungsperiode bitte ich die Redner, hinsichtlich der vereinbarten Redezeiten eine gewisse Disziplin zu wahren.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 0 auf:

Aktuelle Debatte

In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit je Fraktion und Thema zehn Minuten. Die Landesregierung hat ebenfalls zehn Minuten Redezeit.

Bevor ich das erste Thema aufrufe, können wir Kolleginnen und Kollegen aus Ammendorf im Haus begrüßen. Etwa 20 von ihnen sitzen auf der Tribüne; weitere ca. 80 Kolleginnen und Kollegen aus Ammendorf verfolgen die jetzige Aktuelle Debatte in den Räumen des Landtags vor einem Bildschirm.

(Beifall im ganzen Hause)

Des Weiteren begrüßen wir ein Studentenkolleg der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Seniorinnen und Senioren aus Wanzleben.

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Dr. Daehre, bitte.

Herr Landtagspräsident! Meine Damen und Herren! Bei den Entschuldigungen vermisse ich eine Bemerkung hinsichtlich des Fernbleibens der Wirtschaftsministerin. Ich weiß nicht, ob sie auf dem Weg ist oder ob sie heute gar nicht kommt. Ich denke, es wäre mehr als wünschenswert, wenn die Frau Wirtschaftsministerin an der Debatte teilnähme.

(Zustimmung bei der CDU, bei der DVU und bei der FDVP)

Herr Dr. Daehre, Frau Ministerin Budde ist nicht entschuldigt und ist auf dem Weg zu uns.

Ich rufe das erste Thema der Aktuellen Debatte auf:

Zukunft des Waggonbaustandortes Ammendorf

Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 3/5138

Es wird vorgeschlagen, dass die Redner in folgender Reihenfolge sprechen: CDU, PDS, FDVP, SPD und DVU. Zunächst hat der Antragsteller, die CDU-Fraktion, das Wort. Herr Dr. Bergner, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU-Landtagsfraktion hat diese Aktuelle Debatte vor allem auch deshalb beantragt, weil sie auf ein gemeinsames Signal dieses Hohen Hauses setzt. Bei allem Streit, den wir um der Sache willen führen müssen, sollte dieses Signal am Anfang stehen. Das Signal sollte lauten: Der Landtag von SachsenAnhalt, das frei gewählte Parlament unseres Landes, ist nicht bereit zu akzeptieren, dass der Bombardier-Vorstand den Waggonbau Ammendorf schließen will.

(Beifall im ganzen Hause)

Noch ist die Entscheidung nur eine Entscheidung von Vorstandsetagen und sie trägt noch keinen Beschlusscharakter. Die Gremien und der Aufsichtsrat haben noch darüber zu befinden. Wir haben also noch eine Chance, die wir unbedingt nutzen müssen. Wir haben aber nicht mehr viel Zeit.

Die CDU-Landtagsfraktion tritt jedenfalls mit allem Nachdruck für den Erhalt des traditionsreichen Hallenser Industriebetriebes Waggonbau Ammendorf ein.

(Zustimmung bei der CDU, bei der DVU und bei der FDVP)

Wir haben in Zeiten, in denen wir Regierungsverantwortung trugen, den Waggonbau Ammendorf unterstützt, indem wir Hermes-Bürgschaften in Milliardenhöhe mobilisierten. Auf diese Weise konnte zur Sicherung der Auftragslage beigetragen und dem Unternehmen die Gelegenheit gegeben werden - die es erfolgreich genutzt hat -, sich auf neue Märkte zu orientieren. Es erscheint heute fast wie ein Witz: Mit den in Ammendorf erarbeiteten Gewinnen aus Hermes-verbürgten Aufträgen konnten wichtige Waggonbaustandorte in Ostdeutschland modernisiert werden.

Wir fühlen uns aber auch als Opposition dem Erhalt dieses Standortes verpflichtet. Wir wollen mit den uns heute zur Verfügung stehenden Mitteln zur Sicherung des Ammendorfer Werkes beitragen. Ein Verlust des zweitgrößten Metallverarbeitungsbetriebes Sachsen-Anhalts hätte nicht nur für die Belegschaft und ihre Angehörigen, sondern auch für die Stadt Halle und für die Region, ja für unser gesamtes Land katastrophale Folgen.

(Beifall bei der CDU, bei der DVU und bei der FDVP - Zustimmung bei der PDS und von der Regierungsbank)

Der Waggonbau Ammendorf ist eine moderne, leistungsfähige Produktionsstätte. Sie aufzugeben hieße, erhebliche Investitionen und Fördergelder, die in den 90er

Jahren am Standort erfolgreich eingesetzt wurden, einfach in den Wind zu schreiben. Meine Damen und Herren! Die Schließung von Ammendorf hieße, ein Stück erfolgreichen Aufbau Ost zu liquidieren. Und dies wollen wir nicht.

(Beifall bei der CDU, bei der DVU und bei der FDVP - Zustimmung bei der SPD, bei der PDS und von der Regierungsbank)

Wir sehen uns als Opposition um der Sache willen aber auch in der Pflicht, darüber zu wachen, dass die Landesregierung ihrer Verantwortung für den Standort gerecht wird. Wir fühlen uns deshalb auch in der Pflicht, unbequeme Fragen zu stellen - nicht weil es uns um einen parteipolitischen Schlagabtausch geht, sondern weil ohne die Beantwortung dieser unbequemen Fragen auch die Probleme der Zukunft nicht gelöst werden können.

(Zustimmung bei der CDU, bei der DVU und bei der FDVP - Herr Sachse, SPD: Hoffentlich haben Sie auch eine Lösung!)

Meine Damen und Herren! Wenn wir uns dabei das Konzept von Bombardier anschauen, dann machen uns die Zahlen bezüglich der Standorte nachdenklich. In Görlitz sollen 410, in Bautzen 300 und in Aachen 320 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. In Hennigsdorf soll der in der Vergangenheit mit Untergangsprophezeiungen belastete Standort mit immerhin 2 000 Arbeitsplätzen erhalten werden. In Sachsen-Anhalt hingegen sollen in Ammendorf 900 hochmoderne Arbeitsplätze vollständig und ersatzlos liquidiert werden.

Wen diese Zahlen nicht nachdenklich machen, der sollte sich an Diskussionen um den Standortwettbewerb zukünftig nicht beteiligen; denn diese Zahlen sind für uns auch deshalb bitter, weil Sachsen-Anhalt bereits den Waggonbau Dessau der deutschlandweiten Standortbereinigung opfern musste.

Wir sind uns einig, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Standort Ammendorf

(Zuruf von Frau Kauerauf, SPD)

ein moderner Standort ist, dessen betriebswirtschaftliche Leistungsparameter im weltweiten Wettbewerb bestehen können. Wenn das so ist - und das ist so -, dann muss es für die Entscheidung der Vorstandsetage von Bombardier zulasten von Ammendorf Gründe gegeben haben, die nicht in der Leistungsfähigkeit dieses Unternehmens und dieses Standortes liegen.

(Zustimmung bei der CDU, bei der DVU und bei der FDVP)

Deshalb sind wir im Interesse der Sache daran interessiert, dass unsere Landesregierung Auskunft darüber gibt, was sie getan hat, um die Stellung Ammendorfs im Standortwettbewerb zu stärken. Ich formuliere fünf Fragen:

Erstens. Herr Höppner, haben Sie wirklich ausreichend dafür gesorgt, dass Aufträge öffentlicher Unternehmen an Bombardier mit Standortauflagen zugunsten von Ammendorf konditioniert wurden? Die einsilbige Antwort auf meine Kleine Anfrage in der Drs. 3/5054, die in Kürze ausgeteilt werden muss, und die aktuelle Diskussion um den jüngsten 90-Millionen-DM-Auftrag für Niederflurwagen der Havag, die vom Land gefördert werden, lassen diesbezüglich Zweifel aufkommen.

Zweitens. Von August 2000 bis April 2001 lag das Fusionskonzept von Adtranz und Bombardier zur Prüfung

bei der Wettbewerbskommission in Brüssel. Nach mir vorliegenden Informationen hat zum Beispiel das Land Brandenburg dieses Prüfverfahren zur Intervention im Interesse eigener Standorte genutzt. Ich frage die Landesregierung: Wie sind Sie mit dieser Möglichkeit umgegangen? Ich habe bisher jedenfalls von keiner Einflussnahme durch das Land Sachsen-Anhalt gehört.