Protocol of the Session on January 26, 2001

Das gilt beispielsweise für die öffentlich-rechtlichen Anstalten der Medien und auch für solche Einrichtungen wie Stadtwerke, die sich herausgebildet haben. Das alles sind Elemente, bei denen wir sorgfältig überprüfen müssen, ob nur europäische Wettbewerbsgesichtspunkte gelten dürfen oder die Unterschiedlichkeit, die Vielfalt der Kulturen und Traditionen in Europa erhalten bleiben sollte. Ich glaube übrigens, dass die Anerkennung dieser Vielfalt eine Voraussetzung für den Erfolg des gesamten europäischen Projektes ist.

(Zustimmung bei der SPD)

Wer es so anlegt, meine Damen und Herren, dass es zu einer Nivellierung der unterschiedlichen regionalen Strukturen und Kulturen kommt, der wird den europäischen Prozess nicht so gestalten können, dass die Menschen ihn tatsächlich annehmen.

Meine Damen und Herren! Es gab einen zweiten Punkt, den die Länder intensiv ins Gespräch gebracht haben. Auch der hat etwas mit unserer alltäglichen Politik zu tun. Das ist nämlich die Frage, welche Kompetenzen bei der Europäischen Kommission, beim Europäischen Parlament liegen und welche Kompetenzen besser etwa in den Nationalstaaten, in den Landesparlamenten - in Europa würde man wahrscheinlich „in den Regionen“ sagen - wahrgenommen werden sollten.

In dieser Hinsicht muss eine Grundregel gelten, nämlich die, dass auf europäischer Ebene nur das entschieden und über das bestimmt wird, was wirklich von europäischer Bedeutung ist, was das Zusammenleben der europäischen Staaten tatsächlich wesentlich beeinflusst. Das geht bis hin zu der Frage der Wettbewerbskontrolle.

Ich glaube, dass es nicht richtig ist, wenn in Europa alles kontrolliert wird, was Wettbewerbsangelegenheiten betrifft. Man kann sich in Europa darauf beschränken, die Dinge zu kontrollieren, die für die europäische Wirtschaft insgesamt von Bedeutung sind, und man kann den Ländern die Freiheit lassen, dort zu entscheiden, wo man es vor allen Dingen mit regionalen Problemen zu tun hat.

Diese Kompetenzabgrenzung war - das ist schon vorher klar gewesen - in Nizza noch nicht zu erreichen. Deswegen haben wir gesagt, dass es uns wichtig ist, dass in Nizza ein Prozess in Gang gesetzt wird, in dem wir über diese Kompetenzabgrenzung offen und ehrlich diskutieren.

In diesem Prozess müssten dann auch Dinge infrage gestellt werden können, die bisheriges Vertragswerk der EU sind. Man muss auch ein paar Dinge, die bisher in der Zuständigkeit Europas liegen, überprüfen und sehen, ob man sie in den Aufgabenbereich der Regionen zurückgeben kann.

Ich glaube, es ist ein wesentlicher Erfolg auch deutscher Verhandlungspolitik, dass unter dem Stichwort „Erklärung zur Zukunft der Union“ ein breiter Diskussionsprozess in Gang gesetzt wird, in dem insbesondere über solche Fragen geredet werden soll.

Es soll eine umfassende Debatte geben. Wir wünschen uns, dass an dieser Debatte nicht nur die Experten und die Kommission beteiligt sind, sondern dass mindestens - das ist auch bei der Grundrechtscharta der Fall gewesen - ein breiter Diskussionsprozess in Gang gesetzt wird.

Im Rahmen dieses Prozesses sollen solche Fragen behandelt werden wie die der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip.

Es muss in dieser Hinsicht dann auch der Status der in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte geklärt werden. Hierbei ist immer von dem Thema einer europäischen Verfassung geredet worden. Über die Frage, wie man bei den unterschiedlichen Verfassungstradi-tionen, die die einzelnen europäischen Länder haben, dieses Thema tatsächlich in einer europäischen Vereinbarung regelt, muss diskutiert werden.

Natürlich soll es auch um die Vereinfachung der Verträge gehen mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen. In dieser Hinsicht wird es einige Änderungen geben, die nicht unbedingt inhaltlicher Art sind.

Schließlich muss - es wird nicht anders gehen - auch die Rolle der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlamentes gründlich überdacht werden; denn nun kommt es nämlich darauf an, dass Europa tatsächlich transparent wird und dass das, was in Europa entschieden wird, auch eine demokratische Legitimation hat. Nur wenn das gewährleistet ist, wird Europa auch von den Bürgern akzeptiert werden.

Sie merken das daran, wie schwierig es ist, beispielsweise Wahlen für das Europäische Parlament vorzubereiten. In dieser Hinsicht gibt es derzeit noch eine so große Distanz, dass man kaum jemandem erklären kann, warum man in Europa wählen soll, weil keiner genau weiß, was eigentlich in der europäischen Agenda steht und was wie laufen wird, wenn man den einen oder den anderen wählt. Das ist aber die Voraussetzung dafür, dass Demokratie funktioniert und dass man ungefähr weiß, über welche Richtungen man tatsächlich entscheidet.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit Blick auf diesen eben angestoßenen Prozess noch zwei Dinge sagen. Es gibt dabei nämlich eine Gefahr: Es gibt in Europa auch Nationen, die an der Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Osten nicht so sehr interessiert sind und durchaus ein Interesse haben, diesen Prozess weiter hinauszuschieben. Nicht alle haben

die Nähe zu unseren osteuropäischen Nachbarn. Das sieht in Spanien und in Griechenland anders aus als in Frankreich oder in Großbritannien.

Bei allem Nachdruck, mit dem wir diesen Prozess vorantreiben müssen, darf es uns nicht passieren, dass die Konflikte dazu benutzt werden, den Termin für den Beitritt hinauszuschieben. Daran haben wir kein Interesse. Der Beitritt darf nicht sozusagen zur Geisel im Blick auf das werden, was bei den Reformen tatsächlich zu machen ist.

Andererseits müssen wir ehrlich bekennen, dass wir innerhalb der bisherigen EU einen großen Reformbedarf haben. Diesen müssen wir selber anpacken. Es gibt ein eigenes Interesse des bisherigen Europas, die Strukturen zu reformieren. Einige Dinge - das ist völlig klar - müssen in Zukunft europäisch gemacht werden. Ich erinnere nur an die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Meine Damen und Herren! Die Landesregierung wird weiter konsequent den Kurs verfolgen, eine starke Europäische Union zu schaffen, in der die Regionen ihre nötige und gute Selbständigkeit behalten. Ich glaube, wenn wir dieses Gleichgewicht schaffen, dann hat Europa in der Welt in Zukunft eine große Perspektive. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, es gibt zwei Fragewünsche von Herrn Gürth und von Herrn Dr. Bergner. - Bitte, Herr Gürth, stellen Sie Ihre Frage.

Herr Ministerpräsident, zwei Fragen, zum einen zur demokratischen Legitimation und zum anderen zur Handlungsfähigkeit der Union, unterstellt dass sich alle Demokraten darüber einig sind, dass ein einiges demokratisches Europa der Völker alternativlos ist und dass es unser Ziel sein muss, dies auch zu erreichen.

Erstens. Sie hatten viel Allgemeines gesagt, dem man gar nicht widersprechen kann. Jetzt etwas Konkretes zu den Vertragstexten von Nizza. Das betrifft die demokratische Legitimation und die Akzeptanz in der Bevölkerung, was für uns wichtig sein muss.

Bei der Stimmengewichtung im Ministerrat und bei der Abstimmung mit qualifizierten Mehrheiten ist Folgendes festgelegt worden: Bei einigen Staaten ist die Bevölkerungszahl berücksichtigt worden, bei anderen Staaten nicht. Vergleichen wir im Ergebnis von Nizza die Behandlung Tschechiens als Aufnahmekandidat mit der Belgiens, stellen wir fest, dass Tschechien, obwohl es eine größere Bevölkerungszahl hat, weniger Sitze im Parlament bekommen soll als Belgien. Wie beurteilen Sie diesen Umstand hinsichtlich der Akzeptanz auch in der Bevölkerung in Tschechien und in den anderen Nationen? Halten Sie das für gerecht und für vertretbar?

Wenn ich meine zweite Frage gleich anschließen darf; ich beziehe mich dabei auf den sehr wichtigen Punkt der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Sie sagten zu Recht, dass es das Ziel sein muss, von Einstimmigkeitsentscheidungen wegzukommen, damit die Union handlungsfähig bleibt. Im Ergebnis ist Folgendes herausgekommen: Je mehr Mitglieder die EU bekommt, desto höher wird die Hürde, um im Rat beschließen zu können.

Wie beurteilen Sie den Umstand, dass es künftig selbst bei Alltagsfragen fast drei Vierteln aller Stimmen bedarf, um Entscheidungen, die auch Handlungen zur Folge haben, treffen zu können? Das heißt, die Hürden werden umso höher, je größer die Mitgliederzahl in der Europäischen Union wird. Halten Sie das für einen Erfolg?

Ich glaube, ja. Das ist ein Beweis dafür, dass man auch bei schwierigen Fragen zu einem tragfähigen Kompromiss kommen kann. Denn wenn Sie sich so detailliert mit den Dokumenten beschäftigt haben, werden Sie sich - so hoffe ich jedenfalls - auch mit dem Entstehungsprozess dieser Entscheidung beschäftigt haben. Dann werden Sie wissen, dass da sehr unterschiedliche Kriterien aufgeführt worden sind. Und Sie werden feststellen, dass es dabei schließlich auch nicht nur um Zahlen geht, sondern auch um die Frage eines politischen Gleichgewichts der unterschiedlichen Staaten Europas. Ich finde, das, was dort ausgedacht worden ist, ist ein vernünftiger Kompromiss.

Im Grunde genommen zeigt sich das auch in Ihrer zweiten Frage. Sie fragen nach der Tragfähigkeit von Entscheidungen, wenn die Hürden höher werden. Das signalisiert schlicht und ergreifend, dass sich die Europäer auch darüber einig sind, dass es auf Dauer in Europa nicht geht, dass sich beispielsweise die Großen gegen die Kleinen durchsetzen, sondern dass wir in Europa, wenn es vorangehen soll, immer Prozesse brauchen, die einen größtmöglichen Konsens herstellen. Europa kann nur gelingen, wenn nicht ein Teil den Eindruck hat, von den anderen über den Tisch gezogen werden zu können.

Das heißt mit anderen Worten: Hierbei ist im Grunde genommen eine politisch offenkundig notwendige Tatsache in Zahlen gegossen worden. Wenn Sie wissen - das haben Sie durch Ihre zweite Frage dokumentiert -, dass solche Konsensprozesse nötig sind, dann werden Sie auch sofort feststellen, dass die Frage, ob da jemand eine oder zwei Stimmen mehr oder eine oder zwei Stimmen weniger hat, im Grunde genommen für die faktischen Entscheidungen relativ irrelevant ist. Sie kennen das doch aus der Arbeit unserer Ausschüsse. Oftmals ist es doch vor allem wichtig, dass Sie dabei sind. Wie viele Stimmen Sie im Einzelnen haben, ist bei vielen Sachen nicht entscheidend.

(Unruhe bei der CDU, bei der DVU-FL und bei der FDVP - Herr Büchner, DVU-FL: Aufhören!)

Sie können in solchen Konsensprozessen mit der Kraft Ihrer Argumente manchmal mehr bewegen. Deshalb sollten wir uns darauf konzentrieren, die Kraft unserer Argumente zu stärken.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der FDVP)

Herr Ministerpräsident, Herr Dr. Bergner hatte noch eine Frage. - Bitte, Herr Dr. Bergner.

Herr Höppner, wir sind uns einig hinsichtlich der Bedeutung des europäischen Einigungs- und Erweiterungsprozesses und auch hinsichtlich der Notwendigkeit der damit verbundenen Schaffung einer handlungsfähigen europäischen Staatlichkeit. Die Uneinigkeit, die ich bezüglich zukünftiger Schlussfolgerungen allerdings für be

deutsam halte, besteht in der Bewertung der Ergebnisse von Nizza. Sie war bei Ihnen ausgesprochen positiv.

Deshalb möchte ich Sie mit zwei Zitaten von Beobachtern der Konferenz aus dem Europäischen Parlament konfrontieren. Der Ihnen gut bekannte frühere Parlamentspräsident Herr Hänsch, stellvertretender sozialdemokratischer Fraktionsvorsitzender in Straßburg, bezeichnet den Vertrag von Nizza als den schlechtesten Vertrag, den es seit Jahrzehnten in der EU gegeben habe. Der Prozessbeobachter Elmar Brock schreibt in einem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ - ich darf zitieren -:

„In einer Verhandlungspause in tiefer Nacht rief ein sozialdemokratischer Regierungschef in seiner Hilflosigkeit: ‚Kann denn niemand den Kohl holen?‘“

(Heiterkeit bei der CDU und bei der FDVP - Un- ruhe bei der SPD)

Ich würde gern die Frage stellen, ob das Verhandlungsergebnis nicht auch ein Defizit an Staatsmännischkeit in der deutschen Verhandlungsführung zum Ausdruck gebracht hat und ob wir in der Zukunft nicht tatsäch- lich besser beraten sind, über Konventslösungen derartige Defizite, die offenbar in der Eigensucht des einen oder anderen Regierungschefs begründet sind, zu überbrücken. Dies führt hin zu der Frage der Abstim- mung und zu der Entscheidung darüber, ob wir uns auf den SPD-Antrag oder auf unseren Änderungsantrag beziehen.

Erstens. Ich bin fest davon überzeugt - das kenne ich auch aus den Diskussionen -, dass gerade die Vertreter des Europäischen Parlaments, die mit Nizza sehr hohe Erwartungen verbunden haben, mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen sind. Das verstehe ich. Auch wir - sowohl Herr Tögel als auch ich - haben in der Debatte auf die Defizite und auf die Aufgaben hingewiesen, die noch vor uns liegen.

Die Einschätzung hängt ein bisschen davon ab, welche Erwartungen man an solch ein Ergebnis realistischerweise haben kann. Ich hatte mich vorher sehr gründlich damit beschäftigt und deswegen kann ich das Ergebnis insgesamt als positiv bewerten.

Als Zweites will ich sagen: Ja, es ist ein Problem gewesen, dass Helmut Kohl an solchen Abenden immer wieder versucht hat, Probleme zulasten der deutschen Finanzkasse zu regeln. Wir bezahlen das heute.

(Zustimmung bei der SPD - Lachen bei der CDU - Zuruf von Herrn Dr. Daehre, CDU)

- Herr Daehre, ich bin in der Ministerpräsidentenkonferenz. Dort haben wir stundenlang über dieses Thema geredet. Diesbezüglich besteht unter den Ministerpräsidenten Einigkeit.

(Herr Dr. Daehre, CDU: Aber Europa und Helmut Kohl! Da stehen wir nicht ganz allein da!)

Übrigens hat Bundeskanzler Gerhard Schröder gleich zu Anfang etwas Aufregung ausgelöst, als er gesagt hat, dieser Weg, nämlich dass Deutschland im Grunde genommen das finanziert, ist für Deutschland in Zukunft nicht weiter gangbar. Und dazu stehe ich.

(Zuruf von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)

Ich weiß nicht, ob Herr Kohl entsprechendes Geld mitgebracht hätte, wenn er nach Nizza gerufen worden wäre. Aber wir haben es jedenfalls nicht.

(Beifall bei der SPD - Unruhe bei der CDU - Zuru- fe von Herrn Dr. Bergner, CDU, und von Herrn Scharf, CDU)

Meine Damen und Herren! Auf der Tribüne hat eine zweite Gruppe von Schülerinnen und Schülern des Raabe-Gymnasiums Magdeburg Platz genommen. Wir begrüßen sie.