Protocol of the Session on January 25, 2001

Meine Damen und Herren! Bevor ich den Tagesordnungspunkt 18 aufrufe, möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Würden Sie den Tagesordnungspunkt 19 noch heute abarbeiten wollen? - Gibt es eine prinzipielle Ablehnung, diesen Tagesordnungspunkt heute noch zu behandeln? Wer lehnt das ab? - Dann hat sich das er- ledigt. Wir behandeln ihn morgen.

(Unruhe)

- Herr Kollege Daehre und Herr Kollege Professor Böhmer!

Nachdem die notwendige Ruhe und Aufmerksamkeit wiederhergestellt ist, rufe ich den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung

Existenzgründungen an und aus Hochschulen

Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 3/4092

Der Antrag wird durch den Abgeordneten Herrn Professor Dr. Spotka eingebracht.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von Karl Kraus gibt es einen Aphorismus: Frisörgespräche sind der unwiderlegbare Beweis dafür, dass

die Köpfe nicht nur wegen des Haareschneidens da sind. Dies gilt auch für Abgeordnetenköpfe, und ich meine, wir haben das Recht und die Pflicht, von Zeit zu Zeit einmal nachzufragen, ob das, was wir oder die Landesregierung veranlasst haben, tatsächlich die erwünschten Wirkungen zeigt oder nicht.

Meine Damen und Herren! Im Jahre 1998 verabschiedete der Landtag auf Antrag der CDU-Fraktion den Beschluss, ein Förderprogramm „Junge Innovatorinnen und Innovatoren“ aufzulegen mit dem Ziel, die Gründungsdynamik an und aus den Hochschulen Sachsen-Anhalts zu erleichtern bzw. zu befördern, verbunden natürlich mit der Hoffnung, damit Beschäftigungseffekte auszulösen und eine Bindung gerade kreativer Köpfe bzw. Absolventen an unser Land zu bewirken.

Seither wurde meines Wissen dieses Anliegen im Landtag nicht wieder diskutiert. Zeit also, wieder einmal Zwischenbilanz zu ziehen und zu fragen, was hat sich in der Gründungsszenerie unserer Hochschulen bisher ereignet bzw. getan und verändert, und reicht das, was wir veranlasst haben, im Vergleich der neuen Bundesländer insgesamt aus, oder sollten wir neue Überlegungen anstellen bzw. neue, komplexere Förderansätze entwerfen.

Die Aktualität dieser Thematik wird durch folgende Entwicklungen verstärkt und sollte uns dafür sensibilisieren:

Erstens. Die Abwanderung der Absolventen sachsenanaltischer Hochschulen, insbesondere der ingenieur- und naturwissenschaftlichen Fachrichtungen hält unvermindert an.

Zweitens. Die Zahl der Absolventen in diesen Fächern ist aber seit dem Jahr 1990 dramatisch eingebrochen und liegt gegenüber dem Jahr 1990 bundesweit um ca. 70 bis 80 % niedriger. In Sachsen-Anhalt ist dies nicht anders.

Drittens. Die wenigen verfügbaren Absolventen dieser Studiengänge werden von den vielfach in Sachsen-Anhalt nicht ansässigen Großunternehmen mit den klassischen Karrierepfaden umworben und bereits auf Vorrat eingestellt, um absehbare Engpässe abzufedern. Beispielsweise wird schon heute jeder dritte Elektronikabsolvent deutscher Hochschulen allein von Siemens rekrutiert.

Viertens entwickelt sich zunehmend eine paradoxe Situation. In allen dynamischen Wirtschaftsbereichen bzw. innovativen Technologiefeldern entsteht trotz einer ausreichenden Zahl formal qualifizierter Personen ein Fachkräftemangel. Das heißt, ein großer Teil der am Arbeitsmarkt vorhandenen formal hoch qualifizierten Fachkräfte ist tatsächlich weder fachlich und mental für die Übernahme von Aufgaben in innovativen Technologiefeldern vorbereitet, noch für technologieorientierte Existenzgründungen geeignet.

Was für den IT-Bereich bereits beklagt wurde - 75 000 offenen Stellen stehen 60 000 bis 70 000 arbeitslose Naturwissenschaftler, Ingenieure und Informatiker, darunter viele frisch Ausgebildete unter 35 Jahren, gegenüber -, trifft genauso beispielsweise auf die Biotechnologie zu. Mehreren hundert offenen Stellen für Bioinformatik- und Managementstellen stehen über 4 000 arbeits-lose Hochschulabsolventen der Biologie gegenüber.

Offensichtlich ist das kein reines Mengenproblem, sondern auch ein Qualitätsproblem. Irgendetwas müssen wir an unseren Hochschulen und in der Weiterbildung falsch machen.

Die Folgen dieser Entwicklung sind fatal und stimmen nicht gerade optimistisch; denn der Pool, dem zukünftige Gründer entspringen könnten bzw. aus dem innovative kleine und mittlere Unternehmen kompetentes Personal rekrutieren könnten, verringert sich dramatisch. Die PDS spricht in ihrem wirtschaftspolitischen Programm zu Recht von einer Nachwuchsfalle, in die wir tappen.

Das bereits bestehende Defizit an kompetentem technischen Fachpersonal behindert nicht nur die Infor- mationstechnologien, sondern auch die Entwicklungsdynamik im Maschinenbau, in der Automobilindustrie, der Chemie, der Pharmaindustrie und im industriellen Dienstleistungssektor.

Eine Umfrage beispielsweise bei 483 Unternehmen in Nordrhein-Westfalen belegt: Während sich im Jahr 1996 etwa 30 % der Unternehmen durch Fachkräftemangel in der Umsetzung von Innovationen behindert sahen, waren es im Jahr 1998 bereits 48 %. Bei der Festlegung der Prioritäten bei relevanten Innovationsproblemen im Jahre 1999 stand der Fachpersonalmangel an erster Stelle, und das bei ca. vier Millionen Arbeitslosen.

Diese Mangelerscheinungen, meine Damen und Herren, werden besonders hart die Gründungsszenerie und die innovative klein- und mittelbetrieblich strukturierte Unternehmerlandschaft treffen, da, wie ich bereits sagte, die vorhandenen Fachkräfte zwecks Vorratsbildung mit attraktiven Stellenangeboten auf die klassischen Karrierepfade der Großunternehmen gelockt werden. So gerät beispielsweise die so hoffnungsvoll gestartete BiotechGründungsszene genau aus diesen Gründen bereits wieder ins Stocken.

Angesichts dieser Trends darf berechtigterweise die Frage gestellt werden: Reichen die gegenwärtigen Bemühungen aller Ebenen, von der Landesregierung über Kommunen bis hin zu Kammern, Verbänden usw., zur Herausbildung einer Gründermentalität, zur Erreichung einer befriedigenden Gründerquote, zur Lösung der Lückenproblematik und zur Erleichterung des Übergangs in die unternehmerische Existenz an unseren Hochschulen aus?

Reichten und reichen diese Bemühungen aus, um angesichts der aufgezeigten Entwicklungen die Verfügbarkeit kompetenter Personen für die innovationsorientierte Gründerszene am Standort Sachsen-Anhalt überhaupt noch sicherzustellen?

Eine grobe Bestandsaufnahme zeigt, dass der Anteil der Existenzgründungen direkt an und aus den Hochschulen heraus in ganz Deutschland - für Sachsen-Anhalt sind mir die Zahlen leider nicht bekannt - unter 1 % liegt, in den USA bei 17 %. Dabei sind ist es gerade die Gründungen, die die effektivste Art und Weise des Wissenstransfers, des Strukturwandels und des Auslösens von Beschäftigungseffekten darstellen.

(Zustimmung bei der CDU)

Angesichts dieses Aufholbedarfs und der diagnostizierten Entwicklungen müssten die Aktivitäten zur Erleichterung und Förderung von Existenzgründungen so durchschlagend und umfänglich an unseren Hochschulen greifen, dass die selbständige Existenzgründung tatsächlich eine viel genutzte Alternative und Einstiegsmöglichkeit in das Berufsleben wird.

Dabei ist uns natürlich allen klar, dass es mit der Auflage eines Förderprogramms, mit einer öffentlichen Eigenkapitalspritze oder mit der Prämierung nicht am Markt, sondern nur vor Auswahlgremien bewährter Business

pläne allein nicht getan ist. Zur Anwendung kommen müsste ein komplexer Ansatz, oder, wie Herr Minister Gabriel so häufig zu Recht betont, ein ganzer Instrumentenkasten, der folgende Zielrichtungen zum Inhalt hat:

Erstens die Ausbildung zur Selbständigkeit von der Schule zur Hochschule. Der brandenburgische Innen- minister Steffen Reiche hat dazu auf einem Dresdener Symposium interessante Ausführungen gemacht. Das wäre ein eigenes Thema.

Zweitens die Ausprägung einer neuen Finanzierungskultur bzw. eines Frühphasenbeteiligungs- und Risikokapitalmarktes.

Drittens die Zusammenführung aller Partner, insbesondere der Hochschulen, zu einer breiten inhaltlichen und infrastrukturellen Kooperation, zur Schaffung einer kritischen Masse an Gründerszene und zur Nutzung von Synergieeffekten.

Viertens die Bereitstellung handlungsfähiger Organisationsformen und technischer Faszilitäten, also Unterstützungspotenziale wie Gründer-Hotline, virtuelle Existenzgründerzentren, Gründerdatenbanken und vieles andere mehr.

Ich habe mir einmal aus Bayern und aus Niedersachsen, die jetzt gerade den Wettbewerb „Die gründerfreundliche Hochschule“ beendet und daraus Schlussfolgerungen gezogen haben, aus Thüringen von Frau Professor Schipanski und aus Nordrhein-Westfalen die entsprechenden Materialien kommen lassen. Ein Blick auf andere Bundesländer zeigt, dass es in diesen Ländern gegenwärtig erheblich verstärkte Anstrengungen in dieser Hinsicht gibt.

Natürlich hat auch Sachsen-Anhalt mit seiner Existenzgründeroffensive „ego“ einen solchen Instrumentenkasten bereitgestellt. Es ist an der Zeit zu fragen: Wie durchgreifend wirkt dieser Instrumentenkasten in die Hochschulen hinein und mobilisiert dort tatsächlich das Gründungsgeschehen?

Es betrifft die Frage der so genannten Anreizkompatibilität des Instrumentariums. Tragen die Anreizmechanismen und Handlungsbedingungen der Spezifik der Gründungsszenen an den Hochschulen überhaupt ausreichend Rechnung? - Das, Herr Minister, bezweifele ich etwas. Ich habe zwei Diplomanden betreut, die sich selbständig gemacht haben, und ich habe vielfach den Eindruck gehabt, dass sie sehr allein gelassen worden sind.

Des Weiteren: In welcher Weise wird das Kultusministerium in diese Initiative überhaupt eingebunden? Des Weiteren: Wie ist das Gründungsgeschehen an unseren Hochschulen qualitativ und quantitativ einzuschätzen? Gibt es seit der Einführung von „ego“ tatsächlich eine Trendumkehr in dieser Hinsicht?

Des Weiteren: Was ist aus dem ihm Jahr 1998 vom Landtag einstimmig beschlossenen Programm „Junge Innovatorinnen und junge Innovatoren“ geworden? Mit welcher Wirksamkeit wurde es umgesetzt, wie viele Förderfälle gab es? Wenn ich richtig informiert bin, überhaupt keine. Aber das wäre im Ausschuss zu klären.

Des Weiteren: Welche organisatorischen und infrastrukturellen Voraussetzungen wurden mittlerweile geschaffen? Und so weiter.

Meine Damen und Herren! Das Thema ist, wie der Blick in die anderen Bundesländer zeigt, hoch aktuell und von solcher Wichtigkeit, dass sich der Bildungsausschuss -

federführend - und der Wirtschaftsausschuss - mitberatend - wieder einmal mit diesem Thema beschäftigen sollten. Ich bitte Sie deshalb um unmittelbare Annahme dieses Antrags. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Danke für die Einbringung. - Meine Damen und Herren! Es ist eine Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion in der Reihenfolge PDS, DVU-FL, SPD, FDVP und CDU vereinbart worden. Als Erstem erteile ich jedoch Herrn Minister Dr. Harms für die Landesregierung das Wort.

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Professor Spotka, die Zitate in Ihrer Rede, bei der Sie von der PDS über die SPD und dann von Bayern bis Nordrhein-Westfalen die ganze Breite des Spektrums bemüht haben, machten deutlich, dass es sich hierbei um kein parteipolitisches Thema handelt, sondern eher um eine Frage der pragmatischen Diskussion miteinander. Ich kann Ihnen signalisieren, dass ich zu Ihrer gesamten Rede nur Zustimmung äußern kann.

(Beifall bei der CDU)

Wissenschaft und Forschung sind wesentliche Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung. Ausgründungen aus Hochschulen - das zeigt sich in zunehmendem Maße; das von Ihnen zitierte US-amerikanische Beispiel macht dies ebenfalls deutlich -, Existenzgründungen junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die damit zusammenhängende Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen im Umfeld wissenschaftlicher Einrichtungen sind ein wesentliches Entwicklungspotenzial.

Auch mir liegen derzeit die Daten nur für die Bundesrepublik vor, nicht für Sachsen-Anhalt. Aber man kann sagen, dass im Jahr 1997 650 und im Jahr 2001 geschätzte 850 Unternehmen im Umfeld von wissenschaftlichen Einrichtungen mit starker Technologieorientierung als so genannte Spin-offs gegründet wurden. Das zeigt: Wir haben hier eine steigende Tendenz. Aber ich glaube mit Ihnen, dass wir dieses Potenzial bei weitem nicht ausschöpfen.

Die Landesregierung ist der Auffassung, dass diese herausragende Aufgabe nur zu bewältigen ist, wenn die Wirtschaftsseite und die Wissenschaftsseite konstruk- tiv zusammenarbeiten und wenn wir hierbei in der Tat an einem Strang ziehen. Dafür brauchen wir Voraussetzungen.

Die erste Voraussetzung, die wir brauchen, ist eine mentale, das heißt eine Kultur der Selbständigkeit oder ein Verständnis dafür, dass die Tätigkeit im öffentlichen Dienst nicht die einzige mögliche Karrierevorstellung für junge Akademikerinnen und Akademiker ist. Wir brauchen ein Verständnis dafür - das beginnt in den Schulen -, dass Ausgründungen, dass selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ein wesentlicher Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung ist.

Da beginnt die von Ihnen zitierte Existenzgründeroffensive, die in der Tat ein Gemeinschaftsprodukt des Wirtschaftsministeriums, des Arbeitsministeriums und des Kultusministeriums ist, in den Schulen mit Aufklärung. Dabei versuchen wir auch, über die Information von Lehrerinnen und Lehrern diese Bereitschaft zu stärken.