Protocol of the Session on April 7, 2000

(Herr Sachse, SPD: Jetzt können wir die Zeit wieder reinholen!)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die rasante Entwicklung in Naturwissenschaft und Technik stellt auch an den Wirtschaftsstandort SachsenAnhalt hohe Anforderungen. Um in diesem verschärften globalen Wettbewerb bestehen zu können, benötigen wir vor allem ein Klima der Innovationsbereitschaft sowie eine Orientierung auf moderne und neue Techniken und Technologien. Einiges ist hierzu bei der Beratung über den vorausgegangenen Tagesordnungspunkt gesagt worden.

Hierbei kommt der Informations- und Kommunikationstechnik eine entscheidende Bedeutung zu. Sie ist die Schlüsseltechnik des 21. Jahrhunderts und bietet Wachstumsimpulse für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung und die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze.

Meine Damen und Herren! Während die sogenannten Halbwertszeiten in den vielfältigen Entwicklungsgebieten der Informationstechnik sich immer mehr verkürzen, werden die diesbezüglichen Entscheidungsprozesse der Politiker immer länger. Ein typisches Beispiel: 1996 löste der Ministerpräsident von Niedersachsen Schröder die Studiengänge Informatik und Wirtschaftsmathematik an der Hochschule Hildesheim auf, was an diesem Standort das Aus für 700 Stellen bedeutete.

(Herr Scharf, CDU: Das ist wegweisend!)

Eine ähnliche zögerliche Haltung zu IT wurde auch noch in der ersten Hälfte der 90er Jahre von der Wirtschaft eingenommen. Das hatte Einfluß auf die Studierbereitschaft in ingenieurwissenschaftlichen Fachrichtungen und bewirkte einen gravierenden IT-Fachkräfte-Mangel.

Europaweit fehlen in der Informations- und Kommunikationsbranche derzeit angeblich weit über 500 000 Fachkräfte. Die europäischen Länder und auch deutsche Bundesländer haben die studentische Ausbildung sowie die vielfältigsten Formen der Weiterbildung ausgeweitet und zwangsläufig verstärkt.

Meine Damen und Herren! Nach diesem vergleichenden Exkurs nehme ich Bezug auf den vorliegenden Antrag der CDU-Fraktion, in dem eine Bestandsaufnahme durch die Landesregierung zur Entwicklung der Informationstechnologie in Sachsen-Anhalt gefordert wird. Damit soll auch zur Versachlichung der laufenden Diskussion beigetragen werden.

Im Mittelpunkt stehen dabei unter anderem folgende Fragen: Wie hoch ist der Bedarf an qualifizierten Fachkräften der Informationstechnologie in der sachsenanhaltischen Wirtschaft? Wie wirkungsvoll, flexibel und standortangepaßt sind die Rahmenbedingungen, um das Angebot an ausgebildeten IT-Fachkräften am Bedarf der Wirtschaft unseres Landes zu orientieren bzw. diese

mit hohem Interesse an unseren Unternehmen und Dienstleistungseinrichtungen einzubinden? Wie groß ist also zur Zeit die Diskrepanz zwischen Angebot und Bedarf, und wie ist der Handlungsbedarf jetzt sowie für die weitere wirtschaftliche Entwicklung SachsenAnhalts?

Diese Fragen stehen aus aktuellem Anlaß, und wir müssen uns ihnen konsequent stellen. Dabei weise ich darauf hin, daß die CDU-Fraktion bereits zu dem Komplex „Ingenieurbedarf für die Wirtschaft Sachsen-Anhalts“ am 6. Juli 1999 eine umfangreiche Anhörung durchführte, die im Ergebnis unserer parlamentarischen Initiative dann am 22. März 2000 im Wirtschaftsausschuß wiederholt wurde. Hier konnten erste Erkenntnisse auch zur ITBranche gewonnen werden.

Diese Problematik erhielt aber eine zusätzliche Brisanz, als Bundeskanzler Schröder anläßlich seines CebitBesuchs am 24. Februar dieses Jahres vollmundig der Wirtschaft versprach, 30 000 ausländische Computerspezialisten aus nichteuropäischen Ländern über eine sogenannte Greencard nach Deutschland zu holen. Schröder orientierte dabei auf eine Begrenzung des Arbeitsaufenthalts dieser Spezialisten auf bis zu fünf Jahre.

Meine Damen und Herren! Das war abermals ein Versuch der Anbiederung an die Wirtschaft.

(Frau Budde, SPD, lacht)

Im Ergebnis blieb es bei einem typischen schröderschen Schnellschuß, wie wir ihn schon oft erlebt haben. Erst danach begann man, sich über die Folgen Gedanken zu machen.

Die Wirtschaft braucht sich um die Umsetzung jedoch keine Gedanken zu machen und hatte daher keine Probleme, diese Aktion entsprechend zu begrüßen. Sie schätzt den Fachkräftebedarf für die Bundesrepublik Deutschland auf 75 000 IT-Stellen. Frau Ministerin Bulmahn geht ebenfalls aufgrund von Schätzungen sogar von einem ungedeckten Bedarf von 100 000 Stellen aus.

Hingegen errechnete die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit Zahlen, die weitaus niedriger liegen. Danach registrierte die Bundesanstalt im März des Jahres 12 600 offene IT-Stellen, denen immerhin 31 900 arbeitslose EDV-Fachkräfte bei zugleich 37 000 Personen, die sich zur Zeit in einer Umschulung im IT-Bereich befinden, gegenüberstehen.

In diesem Zusammenhang ist das Pilotprojekt einer bundesweit durchgeführten telefonischen Betriebsbefragung durch die Arbeitsämter bei mehr als 50 000 Unternehmen interessant. Daraus ergab sich für ganz Deutschland im Zeitraum von Oktober 1999 bis April dieses Jahres ein Bedarf zur Einstellung von 28 000 Informatikfachkräften. Der größere Anteil entfiel auf kleine und mittlere Unternehmen.

Da sich der Boom in der Informationstechnik vor allem in den alten Bundesländern vollzieht, spielt die Nachfrage nach IT-Fachkräften in den neuen Ländern noch eine untergeordnete Rolle. Während im Rahmen des genannten Pilotprojektes in Baden-Württemberg 5 600 Fachkräfte nachgefragt wurden, waren es in Sachsen-Anhalt und in Thüringen etwa 200 Arbeitskräfte. Darin spiegelt sich die noch geringe technologische Leistungsfähigkeit hier in den neuen Bundesländern wider.

Einer Mitteilung des Landesarbeitsamtes Sachsen-Anhalt/Thüringen zufolge beträgt der gegenwärtige Stand an gemeldeten Fachkräftestellen für Januar und Februar dieses Jahres 158 Stellen bei insgesamt 1 486 arbeitslosen Fachkräften aus dieser Branche. Davon sind immerhin 25 % unter 30 Jahre alt. Jedoch verlassen jährlich etwa 100 bis 150 Absolventen der Studienrichtung Informatik die sachsen-anhaltischen Fachhochschulen und Universitäten. Im Jahr 1999 waren es 143 bei immerhin 96 Abbrechern; das sind 70 %. Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, und man muß die Ursachen dafür prüfen.

Meine Damen und Herren! Die dadurch bereinigten Bedarfszahlen legen den Schluß nahe, daß der Fachkräftemangel allein durch den eigenen Nachwuchs behoben werden könnte. Legt man nun diese Zahlen zugrunde, wird auch die von vielen an der GreencardAktion des Bundeskanzlers geübte Kritik verständlich. Zudem dämpfen die Vertreter der Wirtschaft die Erwartungen mit dem Hinweis auf die allzu bürokratischen Vorschriften. Die Handwerkskammern Sachsen-Anhalts sehen im Gegensatz zum Zentralverband des deutschen Handwerks ohnehin keinen Bedarf an ausländischen Arbeitskräften.

Die Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall und die ÖTV, verfolgen diese Aktion sehr kritisch. Ähnlich kritische Stimmen vernimmt man aus dem Bildungssektor. So erklärt Professor Evers von der TU Berlin:

„Die Unternehmen stiegen in den 90er Jahren aus der Beschäftigung von Ingenieuren und Informatikern aus. Jetzt glauben sie ein wohl gefülltes Lager von Absolventen vorzufinden.“

Deutschland brauche auf Dauer junge qualifizierte Menschen aus aller Welt, aber keine Lückenbüßer durch Greencards. - Soweit, meine Damen und Herren, zur laufenden Diskussion.

Inzwischen schränkte der Bundeskanzler Schröder seinen spontanen Cebit-Vorschlag wieder ein. Jetzt sollen statt 30 000 nur noch 10 000 ausländische IT-Spezialisten nach Deutschland kommen. Dafür müsse die Wirtschaft aber ihre Ausbildungsbereitschaft verstärken. Eine entsprechende Zusage wurde gegeben. Die Bereitschaft zur Weiterbildung arbeitsloser IT-Fachkräfte und Ingenieure wurde von der Bundesanstalt für Arbeit erklärt.

Ich frage, warum sich die Wirtschaft und die Bundesanstalt für Arbeit erst jetzt bereit erklären, arbeitslose Ingenieure und Informatiker in diesem Umfang weiterzubilden sowie die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen.

Für die CDU-Fraktion, meine Damen und Herren, ergeben sich aus dem Greencard-Angebot für die sachsenanhaltische Wirtschaft folgende Konsequenzen:

Erstens. Aktionen und Angebote, wie die Greencard, müssen rechtzeitig mit den Sozialpartnern und der Politik abgestimmt werden. Der Greencard-Vorstoß des Bundeskanzlers ist einer der Schnellschlüsse, die in dieser Form ungeeignet sind, Antworten auf Herausforderungen moderner Technologien und Entwicklungen zu finden.

(Zustimmung von Herrn Dr. Daehre, CDU)

Zweitens. Durch eine ausreichende Informationspolitik im Vorfeld von derartigen Entscheidungen müssen durch die Bundesregierung Fehldeutungen und falsche Signale vermieden werden. Beispielsweise wird eine Befristung

des Aufenthalts und der Arbeitserlaubnis für ausländische Computerspezialisten kaum umsetzbar sein. Ebenso sind integrationspolitische Folgen zu bedenken.

Drittens. Es muß eindeutig abgeklärt werden, ob für weitere Branchen eine analoge Fachkräftezuführung erfolgen soll. Das wäre, meine Damen und Herren, ein Vorgehen nach dem Motto: Laßt die anderen Länder für uns ausbilden.

Viertens. Das bereits vorhandene gesetzliche Instrumentarium reicht aus, wenn sich die Verwaltung flexibel verhält. So kann ein Einsatz von dringend benötigten ITFachkräften schon jetzt gewährleistet werden. Dieser Einsatz wäre dann jährlich neu festzuschreiben. Eine zusätzliche Greencard für Sachsen-Anhalt scheint unter diesen Bedingungen nicht erforderlich zu sein.

(Zuruf von Herrn Dr. Daehre, CDU)

Fünftens. Auch Sachsen-Anhalt muß durch ausreichende Rahmenbedingungen Voraussetzungen schaffen, damit wenigstens mittelfristig ehemalige IT-Fachkräfte aus Sachsen-Anhalt in unser Land zurückkehren.

Sechstens. Ein Einsatz ausländischer IT-Hochschulabsolventen darf nur erfolgen, wenn ein dringender Bedarf besteht.

Siebentens. Unser Land muß alle Reserven und Chancen nutzen, um eine umfassende, dauerhafte HightechOffensive zu starten. Dazu bieten wir unsere Mithilfe an.

Eine Hightech-Offensive sollte zum Beispiel auch ein umfassendes Weiterbildungsprogramm sowohl für junge Absolventen unseres Landes als auch für arbeitslose Informatiker und Ingenieure beinhalten. In diese Wettbewerbsinitiative sind die Unternehmen und die Hochschulen entsprechend einzubinden.

Die bisherigen Kooperationsprojekte des Landes mit Microsoft, Cisco, IBM, der Telekom sowie wissenschaftlichen Einrichtungen sind aus der Sicht des gegenseitigen Angebots zu begrüßen, ebenfalls die intensive Beteiligung unseres Landes am Sonderprogramm „Informationsgesellschaft“ der Europäischen Union, das für unseren Mittelstand wirksam werden soll.

Aber das kann nur ein Anfang sein. Wir brauchen dringend auch eine Hightech-Industrie mit den entsprechenden Produzenten.

Achtens. Das Interesse für ein Informatikstudium ist zu wecken. Hierzu müssen die Schüler in den allgemeinbildenden Schulen unseres Landes für technische Fachrichtungen gewonnen werden.

Herr Minister Harms, machen Sie zusammen mit Ihrer Fraktion die notwendigen Hausaufgaben. Ich erinnere Sie an die TIMMS-Studie. Halten Sie dagegen, wenn die Light-und-easy-Welle Ihres Vorgängers die Leistungs- bereitschaft unserer Schüler vermindert.

Neuntens. Die Ausbildung an den Universitäten und den Fachhochschulen Sachsen-Anhalts in den Fachrichtungen zur Informatik und in den technischen Fachrichtungen muß zahlenmäßig und qualitätsseitig am Bedarf orientiert werden.

Die Novellierung des Hochschulgesetzes darf nicht zu Lasten der Informatikausbildung gehen. Die materiellen und personellen Voraussetzungen hierzu müssen abgesichert werden. Die hohen Abbruchraten in Informatikstudiengängen müssen vermieden werden.

Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, unserem Antrag und damit einer Überweisung des Themas in die im Antrag genannten Ausschüsse zuzustimmen. Ich schlage vor - es liegt ein Änderungsantrag der SPD vor -, daß über diesen Änderungsantrag ebenfalls in den Ausschüssen beraten werden sollte. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Büchner, DVU-FL)

Meine Damen und Herren! Bevor ich die Debatte eröffne, freue ich mich, Schülerinnen und Schüler der Kästner-Sekundarschule Halle in unserem Hohen Hause herzlich begrüßen zu dürfen.

(Beifall im ganzen Hause)

Im Ältestenrat ist eine Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion vereinbart worden. Die Fraktionen sprechen in der Reihenfolge FDVP, PDS, DVU-FL, SPD, CDU.

Als erstem erteile ich Herrn Minister Gabriel für die Landesregierung das Wort. Herr Minister, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie die hohe Ehre haben, in dieser Diskussion ausschließlich von weiblichen Rednerinnen begleitet zu werden.

(Heiterkeit)