Protocol of the Session on January 20, 2000

Die Belastungen, die mit dem ungesicherten und entwürdigenden Leben der Landfahrer, Stadtstreicher oder Berber verbunden sind, haben bei längerer Dauer körperliche und psychische Schäden sowie vorzeitige Alterung zur Folge und verringern die Lebenserwartung deutlich. Armut, Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit sind für den einzelnen und für die Gesellschaft um so folgenschwerer, je länger sie andauern. Denn bei Menschen, die über langer Zeit oder auf Dauer in Mangellagen leben müssen, verschlimmern und verfestigen sich die psychischen und sozialen Folgen.

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.

Ich komme sofort zum Schluß. - Wie wir alle wissen, zeichnet sich Sachsen-Anhalt durch die höchste Arbeitslosenquote - über 20 % - unter allen 16 Bundesländern

aus. Mehr als jeder fünfte arbeitsfähige Einwohner ist erwerbslos. Damit ist auch jeder fünfte Mensch mittelfristig zumindest in der Gefahr, der Obdachlosigkeit ausgesetzt zu werden.

Meine Damen und Herren! Ich habe hier nicht die Meßlatte für eine vernünftige Regierungspolitik anzulegen.

Frau Kollegin, bitte nehmen Sie meine Mahnung ernst.

Letzter Satz. - Ich fordere aber die landesrechtliche Verankerung einer Wohnungsnotfallstatistik als Grundlage zur Bekämpfung der eklatantesten Auswüchse von Armut in unserem Bundesland, der Wohnungslosigkeit. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der DVU)

Danke für die Einbringung. - Meine Damen und Herren! Es ist eine Fünfminutendebatte in der Reihenfolge CDU, PDS, SPD und DVU vorgesehen. Als erster erteile ich für die Landesregierung Ministerin Frau Dr. Kuppe das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, mit Ihrem Einverständnis gebe ich meine Stellungnahme zu Protokoll.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

(Zu Protokoll:)

Mit der GISS-Studie „Wohnungslosigkeit in SachsenAnhalt“, die im Herbst 1997 von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung im Landtag präsentiert worden ist, konnten zum erstenmal der Umfang und die Struktur von Wohnungslosigkeit in einem ostdeutschen Bundesland und Strategien zu ihrer Vermeidung und Behebung dargestellt werden. Zu den Empfehlungen der Studie gehörte eine Wohnungsnotfallstatistik.

Der übergreifende Arbeitskreis „Wohnungslosigkeit“ kam seinerzeit nach Erörterung mit dem Statistischen Landesamt zu dem Ergebnis, daß die Einrichtung einer Wohnungsnotfallstatistik mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden wäre. Vor diesem Hintergrund sehe ich für die Einführung einer Wohnungsnotfallstatistik in Sachsen-Anhalt - jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt - keinen Raum.

Ich muß trotzdem fragen: Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. Die Frau Ministerin gibt ihre Rede zu Protokoll.

Für die CDU-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Herr Dr. Daehre.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe eben zugestimmt, daß die Frau Ministerin ihre Rede zu

Protokoll gibt. Damit weiß ich natürlich nicht so richtig, was sie sagen wollte. Ich sage aber hier im Namen der CDU-Fraktion folgendes:

Das Thema der Statistik ändert das Problem überhaupt nicht, verehrte Frau Wiechmann. Ich denke, das ist ein kommunales Problem, das wir auch auf kommunaler Ebene lösen sollten.

Wir stimmen sicherlich alle darin überein, daß Obdachlosigkeit eine furchtbare Sache ist und daß sie so gering wie möglich gehalten werden muß. Aber eine zusätzliche Statistik gerade zu diesem Problem einzuführen, obwohl wir alle geneigt sind, Bürokratie abzubauen, ist der falsche Weg. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß die Obdachlosigkeit so gering wie möglich gehalten wird.

Zum Wohnungsnotstand. Meine Damen und Herren! Im Jahr 1990 hatten wir die Befürchtung, daß es einmal einen Wohnungsnotstand geben könnte. Inzwischen haben wir eine andere Situation. Es gibt mehr Wohnungen, als wir vermieten können. Deshalb richte ich den Appell an alle Kommunen: Kümmert euch um die Obdachlosen. Ich denke, das ist der richtige Weg. - In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der CDU und bei der PDS)

Die PDS-Fraktion und die SPD-Fraktion verzichten auf einen Redebeitrag. Für die DVU-Fraktion hat noch einmal die Abgeordnete Frau Wiechmann das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Damen und Herren von der PDS-Fraktion und von der SPD-Fraktion, ich bin nicht erstaunt, daß Sie sich an dieser Stelle nicht zu Wort melden. Es wäre vielleicht auch ein recht peinliches Thema geworden.

(Ach! bei der SPD)

Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen. Ich kann nur eine geringe Ahnung haben. Ich schließe natürlich daraus, daß Sie sich aus diesen Gründen nicht zu Wort melden.

Ich habe in meinem Redebeitrag zur Problematik der Obdachlosen und Wohnungslosen versucht, die Gründe und die Ursachen für die Armutserscheinungen in unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Ich bin auch auf die spezielle physische und psychische Verfassung, das heißt auf typische Krankheitsbilder dieser Menschen eingegangen. Ich habe auch gesagt, daß in Sachsen-Anhalt die Zahl der Obdachlosen - das ist eine zuverlässige Schätzung - auf 15 000 Personen geschätzt wird.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal versuchen, einigen Vorurteilen zu begegnen, die im Zusammenhang mit der Obdachlosenproblematik existieren. Ich sage das auch, um zum Beispiel bei Ihnen, meine Damen und Herren von den beiden Fraktionen, die in diesem Hause links sitzen, eine größere Akzeptanz für das Problem zu erreichen.

Es wird geschätzt, daß ca. 60 % der auf der Straße lebenden Menschen stark alkoholabhängig sind. Aber es wird auch geschätzt, daß ungefähr 50 % der auf der Straße lebenden Menschen aufgrund gravierender psychischer und sozialer Probleme erst alkoholabhängig wurden. Oftmals machen der Alkohol oder andere Drogen das Elend, die Not und den Frust, gepaart mit aku

ten gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Depressionen, Schizophrenie oder chronischen Krankheiten, wenigstens zeitweise erträglich.

Ein anderes Vorurteil gipfelt in der Auffassung, die Betroffenen seien alle selbst schuld. Es wird jedoch geschätzt, daß lediglich 5 % der Obdachlosen „glücklich und zufrieden“ mit ihrem Leben auf der Straße sind, das heißt, ein Leben auf der Straße vorziehen. Der Großteil dieser Menschen wäre froh - das wissen Sie wahrscheinlich auch -, wenn er wieder ein festes Dach über dem Kopf hätte.

Meine Damen und Herren! Eine weitere Auffassung ist, es könne doch gar nicht sein, daß es in unserem Lande so etwas wie Wohnungslosigkeit gebe; schließlich gebe es die Sozialhilfe und Sozialwohnungen. Aber wie schwierig es ist, seitenlange Formulare auszufüllen, das wissen Sie alle. Am besten wissen es diejenigen, die schon einmal in diese Situation geraten sind.

Ich habe auch darauf hingewiesen, daß immer mehr Sozialbindungen abreißen, je länger man obdachlos ist. Die Betroffenen haben Rückzahlungen für Kredite zu leisten. Die latente Verarmung der Bevölkerung durch die Arbeitslosigkeit, die Sozialhilfeabhängigkeit und schließlich Obdachlosigkeit nimmt zu. Dieser Entwicklung, meine Damen und Herren, muß sozialpolitisch entgegengesteuert werden. Deshalb will ich noch einmal die Ursachen zusammenfassen und einige Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.

Erstens. Warum wollen wir diese Wohnungsnotfallstatistik unbedingt haben? Es gibt tatsächlich objektive Schwierigkeiten hinsichtlich der relevanten Erforschung und Erfassung von Daten über Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit. Die diesbezügliche sozialwissenschaftliche Forschung steckt hierzulande noch in den Kinderschuhen.

Zweitens wirkt sich die seit einigen Jahren zu verzeichnende Krise der öffentlichen Kassen natürlich negativ auf die Bekämpfung des Armutsproblems aus.

Drittens. Die Politiker, insbesondere die Bundespolitiker, zeigten sich noch vor gar nicht langer Zeit erschreckt und konsterniert darüber, daß es in Deutschland überhaupt Obdachlosigkeit oder gar Wohnungslosigkeit gibt. Im Jahr 1996 waren fast eine Million Menschen mittelbar oder unmittelbar wohnungslos.

Viertens. Das Thema ist politisch unbeliebt, läßt es doch fehlende sozialpolitische Verantwortung erkennen und eignet sich auch nicht als Wahlkampfthema.

(Zuruf von Frau Krause, PDS) Fünftens fehlt es den Parteien ganz allgemein am politischen Änderungswillen. Meine Damen und Herren! Wenn gerade wir als DVUFraktion die Behandlung des Wohnungsnotfallproblems forcieren und verstärkt verlangen und die Einführung einer Wohnungsnotfallstatistik fordern, dann entspricht das einer unserer sozialen Forderungen nach der Schaffung eines sofortigen Notprogramms gegen Obdachlosigkeit und Verarmung. Das haben wir an dieser Stel-le schon mehrfach eingebracht. Deswegen bitte ich Sie nochmals um Unterstützung für unseren Antrag. Wir sind auch bereit, diesen Antrag konkreter oder weitergehend zu formulieren. Das kann nur im Ausschuß geschehen. Deswegen bitte ich Sie, einer Überweisung in den Ausschuß für Arbeit, Gesundheit und Soziales zuzustimmen. Ich denke, das kann nur im Interesse der Ärmsten in dieser Gesellschaft sein. Auch für diese Menschen sind die Politiker in unserem Land da. - Ich danke Ihnen. (Beifall bei der DVU)

Meine Damen und Herren! Wir sind am Ende der Debatte und kommen zum Abstimmungsverfahren zur Drs. 3/2539.

Von der Kollegin Wiechmann wurde eine Überweisung des Antrages in den Ausschuß für Arbeit, Gesundheit und Soziales beantragt. Wer folgt diesem Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag auf Überweisung ist abgelehnt worden.

Ich lasse über den Antrag selbst abstimmen. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Bei einer Enthaltung ist dieser Antrag mehrheitlich abgelehnt worden.

Meine Damen und Herren! Die DVU-Fraktion informierte mich vorhin darüber, daß sie den Tagesordnungspunkt 17, den Antrag auf Anhebung des substituierbaren Kindererziehungsgeldes, zurückstellt. Damit brauchen wir diesen Tagesordnungspunkt heute nicht zu behandeln. Er wird automatisch auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gesetzt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung

Errichtung geschlossener Heime für speziell straffällige und schwer therapiefähige Kinder und Jugendliche im Land Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der DVU - Drs. 3/2541

Änderungsantrag der Fraktion der CDU - Drs. 3/2610

Der Antrag wird durch die Abgeordnete Frau Wiechmann eingebracht.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits in der 32. Sitzung des Landtages im Dezember 1999 schlugen die Wogen hoch, als in der Aktuellen Debatte der Antrag der DVU-Fraktion zum Thema „Steigende Jugendkriminalität im Land SachsenAnhalt“ und in der gleichen Sitzung der Antrag meiner Fraktion zum Thema „Gegen Gewalt an Schulen“ beraten wurden.

Dennoch, meine Damen und Herren, bei aller Erregung, bei allen Unterschieden wurde in den dargelegten Meinungen eines deutlich: Die Gesellschaft, das heißt auch jeder Bürger dieses Landes, kann sich nicht mehr der Verpflichtung entziehen, gegen Gewalt und Jugendkriminalität vorzugehen und Zeichen zu setzen. Es kann nicht mehr resignierend registriert werden, daß diese Erscheinungen apathisch hingenommen werden.

In der Aktuellen Debatte zur Jugendkriminalität führte ich auch aus, daß jenen jugendlichen Tätern, denen jegliches Unrechtsbewußtsein und jegliche Reue hinsichtlich der Tat fehlt, auf fühlbare Weise die Grenzen ihres Tuns, auch des künftigen, gezeigt werden müssen und daß deshalb die Diskussion über geschlossene Heime für Jugendliche, die jetzt geführt wird, keineswegs mit einer Handbewegung weggewischt werden kann, sondern geschlossene Einrichtungen in diesem