Gleiches gilt für das Landesamt für Verfassungsschutz, das die Bitte der Thüringer, die Suche nach dem Trio in eigener Zuständigkeit zu übernehmen, abgelehnt hatte. Ihm lag zudem noch die Erkenntnis vor, dass das Trio auf der Suche nach Waffen sei und einen weiteren Überfall plane. Dieses Wissen und die Gefährlichkeit der Gesuchten wurde aus fadenscheinigen Gründen nicht an die sächsische Polizei weitergegeben, gleichwohl aber für die Beantragung von G10-Maßnahmen genutzt. Selbst verantwortlichen Mitarbeitern des Landesamtes für Verfassungsschutz, die im Jahr 2000 Observationen unter dem Namen „Terzet“ einleiteten, fehlten wesentliche Erkenntnisse aus diesen sogenannten Piatto-Hinweisen.
Zweitens. Rechtsextremer Terror wurde in Sachsen für undenkbar gehalten. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Untersuchung, dass Sachsen offenbar der perfekte Ort gewesen war, um als Rechtsterrorist unterzutauchen, da alle in Sachsen agierenden Behörden, Amtsträgerinnen und -träger und kommunalen Verantwortungsträgerinnen und -träger es für undenkbar hielten, dass sich rechtsterroristische Mörderinnen und Mörder ihren Rückzugsraum in Sachsen überhaupt suchen könnten. Man hatte sich schlicht nicht vorstellen können, dass untergetauchte Neonazis morden, ihren Lebensunterhalt mit Banküberfällen bestreiten und beim Untertauchen auf ein dichtes Netzwerk an Unterstützerinnen und Unterstützern zurückgreifen können. Wäre dies anders gewesen, wären wohl die Ermittlungen in Sachsen anders verlaufen.
Dass dieses Ausmaß an rechtsterroristischen Bestrebungen auch bei Polizei, Verfassungsschutz und in der Politik für undenkbar gehalten wurde, findet seine Grundlage darin, dass Rechtsextremismus gerade in Sachsen über Jahrzehnte unterschätzt, gar ignoriert, zumindest aber regelmäßig bagatellisiert wurde. Beim Landesamt für Verfassungsschutz war man ab dem Jahr 2000 der Auffassung, Rechtsterrorismus existiere nicht. Bei der Polizei fehlte spätestens nach der personellen Amputation der Soko „Rex“ ab dem Jahr 1998 der Blick für größere Zusammenhänge. So wurde bei laufenden Ermittlungen etwa im Blood-and-Honour-Umfeld die Suche nach dem Trio nicht mal berücksichtigt.
Erschreckend in diesem Zusammenhang war für mich die Vernehmung des Bürgermeisters von Johanngeorgenstadt. Dort ist eine Ignoranz gegenüber gefestigten lokalen rechtsextremen Strukturen zutage getreten, die ein erheb
liches Problem in Sachsen darstellte und bis heute darstellt. Die Gefährlichkeit rechtsextremer Strukturen in Sachsen wurde über Jahre auf nahezu allen staatlichen Ebenen und vor allen Dingen auf der kommunalen Ebene unterschätzt, und an diesem Befund, werte Kolleginnen und Kollegen, dürfte sich leider bis heute nichts geändert haben.
Dritte Feststellung. Auch das behördliche Handeln nach der Selbstenttarnung des NSU war von unbeteiligter Nachlässigkeit geprägt. Die Grenzen vom Dolus eventualis und grober Fahrlässigkeit waren dabei fließend.
Ein Schwerpunkt der GRÜNEN in diesem Untersuchungsausschuss lag darauf, die Fragen zu klären, was nach der Selbstenttarnung des NSU insbesondere mit den Akten passiert ist. Eine gezielte Aktenvernichtung konnte der NSU-Untersuchungsausschuss zwar nicht feststellen, jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass bis zur Anordnung der Vernichtungsverbote ab Mitte 2012 Akten mit NSU-Bezug vernichtet wurden. Jedenfalls löschte das Landesamt noch in den ersten sieben Monaten munter weiter. Ob darunter Akten oder Daten mit NSU-Bezug waren, konnte durch den NSU-Untersuchungsausschuss nicht mehr festgestellt werden.
Wir mussten teilweise feststellen, dass beispielsweise Lagefilme der Polizei in Zwickau offensichtlich in Unkenntnis des Vernichtungsstopps nach zwei Jahren regulär gelöscht wurden. Hinzu kam, dass das Löschmoratorium des Justizministeriums nur die Bereiche „Rechts- und Ausländerfeindlich“ umfasste, nicht jedoch Banküberfälle, sodass in einigen Bereichen der Strafverfolgung nicht auszuschließen ist, dass schlussendlich doch Akten mit NSU-Bezug in regulären Löschzyklen vernichtet wurden. Zudem hatten Zeugen, die von der Staatsregierung eigentlich als Verantwortliche für die Umsetzung des Löschmoratoriums benannt wurden, entweder davon keine Kenntnis oder sie meinten, es beträfe ihren Bereich nicht.
Aus diesen vorgenannten Feststellungen ergibt sich ein Mosaik des Scheiterns bei der Suche nach dem Trio. Es war die organisierte Verantwortungslosigkeit, die fehlende Kompetenz, die Unbeständigkeit und das Desinteresse beim Landesamt für Verfassungsschutz, was dazu führte, dass der NSU nicht gefunden werden konnte. Trotz konkreter Hinweise zur Gefährlichkeit des NSU und begangener Straftaten verharrte es in seiner geheimdienstlichen Kleinstaaterei und blieb auf seinem Wissen zum Schutz fragwürdiger Quellen sitzen.
Es waren sächsische Polizistinnen und Polizisten, die viel zu sehr ihren Dienst nach Vorschrift gemacht haben und daher nicht in der Lage waren, über den jeweiligen Tellerrand ihrer Ermittlungen hinaus zu blicken und in größeren Zusammenhängen zu denken, wie es aus heutiger Sicht wünschenswert gewesen wäre. Es war die Ignoranz und ein falsches Verständnis gegenüber Rechtsextremen in Sachsen, die eine Situation geschaffen haben, dass rechtsterroristische Mörderinnen und Mörder in
Werte Kolleginnen und Kollegen! Spätestens jetzt, mit Vorlage dieses Berichtes, ist es notwendig, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nach der Enttarnung des NSU gaben nahezu alle politisch Verantwortlichen ein Versprechen ab, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe. Dieses Versprechen konnte in Sachsen schon in den letzten Jahren nicht erfüllt werden. Erneut haben wir erleben müssen, wie mit der „Gruppe Freital“ unter den Augen der Behörden und einem ähnlichen Versagen wie beim NSU in Sachsen eine neue Terrorgruppe entstand. Es war letztendlich schlichtes Glück, dass es dieser Gruppe nicht gelang, Menschen zu töten, und dass wir es nicht mit demselben Ausmaß wie beim NSU zu tun haben.
Wir haben erneut erleben müssen, dass rechtsextreme Gewalt bagatellisiert oder ignoriert wurde, teilweise auch von der Staatsregierung. Wer nach wie vor nicht sehen will, wie stark vernetzt die rechte Szene ist und wie gut verankert sie ist, riskiert, neue Rückzugsräume für jene rechtsextremen Netzwerke zu schaffen, die man vorgibt zerschlagen zu wollen. Wir haben erneut erleben müssen, wie ausgerechnet der Verfassungsschutz zu einer der größten Hypotheken im Kampf gegen den Rechtsextremismus geworden ist.
Wer weiterhin stets überrascht ist, wenn etwas passiert, kaum luzide Kenntnis über die rechtsextremen Strukturen in Sachsen hat oder selbst vorhandenes Wissen nicht weitergibt, wenn es notwendig ist, hat aus unserer Sicht seine Daseinsberechtigung verloren.
LINKE haben im Ergebnis der Untersuchung 46 Empfehlungen formuliert, die sich für die Politik und für die Gesellschaft auf ein paar grundsätzliche Merksätze zusammenfassen lassen können.
Schaut hin! Widersprecht! Stellt euch jeder Form von Rassismus, Diskriminierung und Menschenverachtung entgegen! Dies gilt nicht nur in Parlamenten. Dies gilt auf den Straßen, in Behörden, an Stammtischen und in den Familien. Denn aus Worten des Hasses folgen Taten, die Menschen das Leben kosten und unsere gesellschaftliche Demokratie zerstören können. Auch das ist eine Lehre des NSU.
Der heutige Bericht ist kein Schlussstrich unter die Aufarbeitung. Gerade zum Unterstützernetzwerk des NSU in Sachsen bestehen noch erhebliche weiße Flecken, die wir aber mit den Mitteln des Untersuchungsausschusses nicht weiter klären können. Wir hoffen, dass die hier noch laufenden Ermittlungen des Generalbundesanwaltes
Untersuchungsausschuss stets als tiefe Verpflichtung gegenüber den Opfern des NSU und gegenüber allen Opfern rechtsextremer Gewalt verstanden. Ziel war es auch, Politik und Gesellschaft die Augen zu öffnen.
Rassismus, hingenommene Diskriminierung und relativierende Menschenverachtung bereiten den Boden für Rechtsextremismus, und Rechtsextremismus tötet.
Meine Damen und Herren! Uns ist hier ein Fehler unterlaufen: Herr Rohwer hatte als Ausschussvorsitzender gesprochen und wir haben noch nicht den Vertreter der CDU-Fraktion sprechen lassen. Ich bitte um Nachsicht. Herr Ittershagen; Sie sind sonst an erster Stelle, aber diesmal der krönende Abschluss. Herr Ittershagen, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gedanken sind heute und in dieser Plenardebatte bei den Opfern der NSU-Terroristen. Wir gedenken ihrer, und unsere Pflicht bleibt es deshalb, das Gebot der christlichen Nächstenliebe zu achten und als Bürger wachsam gegenüber den alltäglichen kleinen und großen Hassbotschaften zu sein, Stellung zu beziehen und Haltung zu zeigen.
Unsere Sächsische Verfassung sagt im Einklang mit dem Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Diese unsere Verfassungsgrundsätze binden nicht nur Regierung und Behörden im Freistaat Sachsen, sondern sie gelten für uns alle. Alle Behörden, alle mitwirkenden Beamten und Bediensteten handeln im Rahmen dieser Verfassungsgrundsätze. Ich möchte diese wichtige Aussage voranstellen, weil sie uns allen deutlich macht, dass wir in einem funktionierenden demokratischen Rechtsstaat leben.
Daher bin ich persönlich erleichtert, dass der Untersuchungsausschuss im Lichte der Beweisaufnahme feststellen konnte, dass es kein strukturelles Behördenversagen im Freistaat Sachsen gab und gibt. Alle Beteiligten verdienen für ihre Arbeit im Dienste unseres Rechtsstaates und damit für unsere Sicherheit hohen Respekt und unseren Dank. Ich danke allen, die an den Ermittlungen beteiligt waren und vehement und akribisch nach den Mördern gesucht haben. Deshalb ist es auch möglich gewesen, dass Beate Zschäpe heute als Mehrfachmörderin vor einem deutschen Gericht in einem rechtstaatlichen
Seien wir uns aber bewusst, dass unser demokratischer Rechtsstaat davon abhängig ist, dass wir uns alle gemeinsam – Politiker, zivilgesellschaftliche Akteure und alle Bürger – auf einen unverrückbaren Wertekonsens einigen. Dieser Wertekonsens setzt voraus, dass wir permanent Fehler und Schwächen identifizieren und beheben.
Das betrifft im Fall des NSU unter anderen die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes nach dem Entdecken des NSU. Es wäre falsch, diese Schwächen als ein systematisches und bewusstes Missachten der rechtsstaatlichen Grundsätze zu bezeichnen, im Gegenteil. Wir können heute feststellen, dass die Zusammenarbeit der sächsischen Sicherheitsbehörden untereinander und darüber hinaus mit denen der Bundesländer und dem Bund besser organisiert ist und reibungslos funktioniert.
Wir als politische Entscheider müssen stets dafür sorgen, dass die gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit der Ermittlungsbehörden auf der Höhe der Zeit sind. Das haben wir in den vergangenen Jahren und auch in dieser Legislaturperiode getan. Polizei, Verfassungsschutz und Justiz haben Maßnahmen getroffen, um alle Formen des Extremismus besser aufzuklären und die Zusammenarbeit der Behörden weiter zu optimieren.
In Bezug auf die in der aktuellen Medienöffentlichkeit diskutierten Fälle rechtsextremistischer Straftaten ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die Täter bzw. Tätergruppen, namentlich die „Gruppe Freital“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“ frühzeitig ermittelt wurden, Anschläge wurden durch die Sicherheitsbehörden verhindert und die Täter wurden bereits verurteilt oder stehen vor der Anklage.
Aus Sicht der CDU-Fraktion ist das Landesamt für Verfassungsschutz für zukünftige Herausforderungen gewappnet. In den kommenden Jahren werden die Gewinnung und Ausbildung sowie die Fort- und Weiterbildung von Beschäftigten die zentrale Aufgabe sein. Unser Ziel ist es, stets eine 360-Grad-Sicht auf die Lage zu haben, um die Feinde des demokratischen Rechtsstaates frühzeitig zu erkennen und sie mit der notwendigen gebotenen Härte zu verfolgen und zu verurteilen.
Es soll zukünftig ausgeschlossen werden, dass – wie im NSU-Fall geschehen – nicht nach allen Seiten ermittelt wird. So wurde ein möglicher Bezug zum Rechtsextremismus nicht erkannt. Die Bürger Sachsens haben ein Recht, dass der Freistaat in derartig gelagerten Fällen mit seinen Sicherheitsbehörden in alle Richtungen ermittelt.
Im Rahmen der Arbeit des 1. Untersuchungsausschusses sind Anpassungen und Modernisierungen der sächsischen
Sicherheitsstruktur festzustellen und heute hier zu benennen: erstens das Gemeinsame Bund-Länder-Extremismus- und Terrorabwehrzentrum, zweitens der Ausbau des Operativen Abwehrzentrums zum Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum und drittens die Zentralstelle Extremismus bei der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft. Notwendig aber bleibt das Anpassen und Nachschärfen der entsprechenden Gesetze an die digitale Welt. Dies betrifft zum Beispiel das Thema Quellen-TKÜ-Maßnahmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allein mit Maßnahmen der Staatsgewalt werden wir keine nachhaltige Wirkung erzielen. Auch das Wirken der Zivilgesellschaft ist entscheidend und wurde in der Arbeit des Untersuchungsausschusses beleuchtet. Wir haben festgestellt, dass sich im Sachsen der Neunzigerjahre, nach zwei totalitären Diktaturen, erst wieder eine neue Form des gesellschaftlichen Miteinanders entwickeln musste.
Deshalb ist und bleibt es Aufgabe der Politik, zivilgesellschaftliches Engagement zu fördern. Über das Programm „Weltoffenes Sachsen“ hinaus wurde beim Kultusministerium das Konzept „W wie Werte“ zur demokratischen Bildung im schulischen Kontext eingeführt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich abschließend zur Arbeit des Untersuchungsausschusses Folgendes resümieren: Als Politiker der demokratischen Mitte müssen wir uns stets die Frage stellen: Was können und müssen wir tun, damit Menschen daran gehindert werden, eine Geisteshaltung zu entwickeln, die Terrorismus und Totalitarismus verharmlost oder verherrlicht? Ich finde es schlicht unerträglich, dass es in unserer Demokratie Menschen gibt, die aufgrund ihrer eigenen Orientierungslosigkeit und Wertevergessenheit nicht mehr in unserer Gesellschaft ankommen. Noch unerträglicher finde ich es, dass es Menschen gibt, die dieses noch anheizen und für ihre eigenen Zwecke ausnutzen.
Es gilt daher, diese meist jungen Menschen auf den Boden der demokratischen Grundordnung zurückzuführen. Hierzu braucht es den engen Schulterschluss staatlicher und kommunaler Akteure mit den Akteuren der Zivilgesellschaft und ein festes Wertefundament, das es stets zu vermitteln und zu verteidigen gilt. Wir alle sind aufgefordert, Haltung zu zeigen, gegen Hetze und Hassbotschaften aufzutreten, wo immer wir ihnen begegnen, auch und insbesondere in den neuen Medien. Die Reaktion auf den Fall Lübcke bei Facebook und Co. zeigt, wie schnell zivilisatorischer Fortschritt aufgegeben wird.