Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Die Reihenfolge in der ersten Runde lautet NPD, CDU, DIE LINKE, SPD, FDP, GRÜNE und die Staatsregierung, wenn gewünscht. Ich erteile der einreichenden Fraktion das Wort; Herr Dr. Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen: Ja, wir wissen es, es ist ein Bundesthema. Sie wissen, in welchen politischen Gremien wir vertreten sind. Sie wissen genauso, dass man von der Landesebene aus auch auf die Bundesebene Einfluss nehmen kann. Ich will Ihnen damit ein gewisses Argument nehmen, das Sie uns dann wahrscheinlich wieder billig entgegenschleudern würden.
Meine Damen und Herren! Wir haben Ihnen hier einen Antrag vorgelegt, der ein Ziel verfolgt: die circa 80 Millionen türkischen Staatsbürger weder über einen direkten Beitritt der Türkei zur Europäischen Union noch durch die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorhandene Visumfreiheit zwischen der EU und der Türkei faktisch zu Mitgliedern der Europäischen Union zu machen.
Um es gleich vorweg zu sagen und damit ihrer gespielten Empörung die Spitze zu nehmen: Die NPD hat weder etwas gegen Türken noch gegen die Türkei.
Wir sind nur der Auffassung – wie übrigens auch die überwiegende Mehrheit der Deutschen und der anderen Europäer –, dass die türkischen Staatsbürger keine Europäer sind, dass die Türkei kein Teil Europas ist und dass für eine gedeihliche und kooperative Zukunft das Missverständnis EU-Beitritt der Türkei endgültig aus der Welt geschafft werden sollte.
Sowohl die NATO als auch die Europäische Union verstehen sich als eine Wertegemeinschaft, deren Gemeinschaftsgefüge eben nicht nur durch gemeinsame Interessen oder durch wechselhafte Koalitionen zusammengehalten wird, sondern durch historisch gewachsene, auf gemeinsamen religiösen, ethischen und politischen Vorstellungen basierenden Grundeinstellungen der Mitgliedsstaaten und ihrer jeweiligen Bevölkerung. Genau das ist bei der Türkei nicht festzustellen.
Ihre Aufnahme in die NATO, die Anlehnung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die spätere Europäische Union verdankt die Türkei lediglich der Frontstellung des Kalten Krieges. Es waren die USA, die die Türkei als traditionellen jahrhundertelangen Feind Russlands zur Sicherung der Südost-Flanke der NATO in das Bündnis integrieren wollten. Um den innenpolitischen
Druck des Bevölkerungswachstums von den jeweiligen türkischen Regierungen zu nehmen, übten die USA übrigens auch massiven Druck auf die Bundesrepublik aus, die 1961 förmlich dazu gezwungen wurde, neben Millionen anderer Gastarbeiter auch türkische in großer Zahl aufzunehmen.
zu dem seltsam weit gespannten Wertekanon innerhalb der NATO: Am 15. Juli 1974 putschte im NATO-Staat Griechenland eine Militärjunta und ernannte postwendend einen zypriotischen Griechen, der sich damit gebrüstet hatte, bei gewaltsamen Unruhen 1963 über 200 türkische Frauen und Kinder ermordet zu haben, zum Präsidenten Zyperns. – Das ist übrigens auch ein unglaublicher Vorgang. – Fünf Tage später überfielen türkische Einheiten die Republik Zypern unter dem markanten und allen Europäern in guter Erinnerung befindlichen Operationsnamen „Attila“. Bis heute gibt es für diesen kleinen Zwischenfall unter „Freunden“ keine befriedigende Lösung.
Im Gegensatz zu den anderen Gastarbeitern aus Südeuropa und Südosteuropa bleiben die meisten Türken selbst in der zweiten und dritten Generation ihrem Gastland Deutschland fremd, ja, in vielen Fällen sogar feindlich gegenüber. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur den Offenbarungseid der Deutschen Polizeigewerkschaft, die vergangenen Samstag feststellte, dass sie das Gewaltmonopol in deutschen Großstädten nicht mehr aufrechtzuerhalten vermag.
Dass dies so ist, ist zu einem großen Teil den integrationsunwilligen oder integrationsunfähigen jungen Türken und Arabern zu verdanken. Deren Gewaltbereitschaft erschreckt übrigens auch viele integrierte türkische Geschäftsleute, die selbst am lautesten fordern, Sozialtouristen und jugendliche Gewalttäter abzuschieben, damit ihre Stellung als Steuerzahler nicht in Verruf gerät.
Anstatt diesen Stimmen der Vernunft Gehör zu verschaffen, machen Sie das Gegenteil, ja, Sie versuchen seit 50 Jahren die bilateralen Rechtsverhältnisse zwischen Europa und dem Bosporus so zu gestalten, dass man demnächst keine Möglichkeit mehr hat, eine Einwanderungsflut zu verhindern.
1959 bewarb sich die Türkei um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 1963 wurde zwischen der Türkei und der EWG ein Assoziierungsabkommen abgeschlossen. 1987 hat die Türkei den ersten Aufnahmeantrag in die damalige Zollunion gestellt, der übrigens wenig später abgelehnt wurde. 1997 aber, als die sowjetische Bedrohung längst Geschichte war, signalisierte man Ankara, es käme für einen Beitritt infrage, und zwei Jahre später erhielt die Türkei den Status eines Beitrittskandidaten.
2005 wurden offizielle Beitrittsverhandlungen eröffnet, bei denen in einem Zeitraum von über 15 Jahren in 35 sogenannten Kapiteln die demokratische Reife des Kandidaten überprüft werden sollte. Anstatt nun das zentrale Problem – die Lösung des Zypernkonfliktes – anzugehen, wurden zunächst ausschließlich weiche Themen wie Statistiken, transeuropäische Verkehrsnetze oder Wissenschaft und Forschung debattiert. Erst ein Kapitel konnte abgeschlossen werden.
In der Zwischenzeit ist die von Kemal Atatürk 1923 erzwungene laizistische Staatsform der Türkei am Kippen. Seit der Regierungsübernahme durch Recep Erdoğan ist der Islam wieder deutlich auf dem Vormarsch. Kopftuch im Parlament und an Universitäten, minderjährige Zwangsehen, Koranschulen, missionarischer Eifer islamischer Prediger und die Unterdrückung christlicher Religionen sind deutliche Zeichen eines übrigens demokratisch durchaus legitimierten innenpolitischen Wandels.
Trotz aller Reformen haben sich in der Türkei zwei Kernelemente der politischen Kultur Europas nicht durchgesetzt: Gewaltenteilung mit starken Institutionen, ein Verständnis von Demokratie, die mehr sein will, als nur die Herrschaftsform der Mehrheit. Es ist zwar richtig, dass Länder wie die Türkei sich aus wirtschaftspolitischen Gründen zu Europa hingezogen fühlen. Diese sind aber nicht bereit, sich dafür auch aus ihrem kulturellen Kontext zu lösen. Dies wäre jedoch eine Grundvoraussetzung.
Die jahrzehntelange vorherrschende und als wesentlicher Grundpfeiler republikanischer Identitätsbildung angenommene Westorientierung der Türkei ist infrage gestellt. Die Türkei sieht sich inzwischen wieder als Zentrum einer eigenen Region und möchte in allen Turkregionen bis ins uighurische China hinein eine führende Rolle spielen, die der des Osmanischen Reiches wieder sehr ähnlich sehe.
Angesichts der Aufdeckung massiver Korruptionsfälle in höchsten Regierungskreisen Ankaras, der Entlassung von fast der Hälfte der Minister, der Verhaftung zahlreicher Familienangehöriger – auch aus Erdoğans Familie –, der massenweisen Versetzung von unbestechlichen, hochrangigen Polizeibeamten und Staatsanwälten, geplanter Gesetze, die die Justiz behindern sollen, lassen sich selbst ehemalige Befürworter eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union mit Zweifel anhören, ob dieses Land wirklich dafür reif ist.
Meine Damen und Herren! In Erdoğans Umfeld grassiert nicht nur die Korruption, sodass drei seiner Söhne vorübergehend festgenommen worden sind. Im Verlauf
weniger Tage wurden mehrere Dutzend Personen in fünf Provinzen aus dem Dunstkreis der AKP festgenommen. So weit, so gut.
Die Bürgerproteste wurden im Hagel von Gummigeschossen und Tränengas erstickt. Spätestens hier hat sich deshalb die Türkei außerhalb einer europäischen Wertegemeinschaft gestellt. Wirklich anzusprechen traut sich das allerdings in diesem Hause und auch im Bundestag wohl niemand – außer der NPD. Dieser Antrag der NPD soll diese Schweigespirale endlich durchbrechen und zu einer ehrlichen Debatte im Bundestag und im Bundesrat führen.
Seien wir uns und auch der Türkei gegenüber aufrichtig. Die Türkei ist in keiner Weise, weder geschichtlich noch mentalitätsmäßig, religiös, politisch, wirtschaftlich oder geografisch, ein Teil Europas. Ihre Bürger sind Teil einer geschichtsträchtigen Mittelmacht, und sie müssen ihren eigenen Weg zwischen Tradition und Moderne finden. Ein Beitritt zur Europäischen Union muss dabei allerdings ebenso ausgeschlossen bleiben wie die Visumfreiheit.
Meine Damen und Herren, ich meine, Ihnen genügend sachliche Argumente aufgezeigt zu haben, mit denen Sie sich ebenso sachlich und ohne Polemik auseinandersetzen sollten. Ich baue darauf, dass Sie sich in Ihrem demokratischen Anspruch auch einmal mit einer Debatte der NPD wirklich anständig auseinandersetzen.
Meine Damen und Herren Abgeordneten! Mir liegt noch eine Wortmeldung in der ersten Runde vor. Herr Schiemann, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Natürlich ist das Hauptanliegen des Antrages eine außenpolitische Frage. Es ist natürlich auch eine interessante europäische Frage. Die Fraktion, die hier die Europäische Union mit aller Macht bekämpft, setzt sich mit ihrem Antrag für Europafragen ins Bild. Das verwundert ein wenig.
Es wird – das will ich deutlich machen – der Eindruck erweckt, dass der Beitritt der Republik Türkei zur Europäischen Union und ein massiver Zuzug von türkischen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik Deutschland unmittelbar bevorstehen.
Diese Darstellung, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist in keiner Weise von der Realität gedeckt. Seit 1999 hat die Republik Türkei den Status eines Beitrittskandidaten. Seit dem 3. Oktober 2005 laufen die Beitrittsverhandlungen. Gegenstand der Verhandlungen zwischen
der Europäischen Union und der Republik Türkei ist der rechtliche Besitzstand der Europäischen Union.
Da sich die Türkei seit 2004 weigert, die vereinbarte Zollunion mit der Europäischen Union auch auf Zypern auszudehnen, blieben acht Verhandlungskapitel bisher ungeöffnet. Dieser Zustand besteht seit 2006. Es ist davon auszugehen, dass es in naher Zukunft keine substanziellen Fortschritte in den Verhandlungen geben wird, da ein konkretes Einlenken der Türkei in der Zypernfrage bisher nicht zu erkennen ist.
Zum Thema der Visafreiheit ist anzumerken, dass am 16.12.2013 ein Rücknahmeabkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei unterzeichnet wurde, mit dem sich die Türkei zur Rücknahme von Flüchtlingen verpflichtet, die rechtswidrig über die Türkei in die Europäische Union gereist sind.
Im Gegenzug haben im Dezember Verhandlungen über eine visafreie Einreise türkischer Staatsbürger nach Europa begonnen. Einen Automatismus zur Visafreiheit wird es aber nicht geben. Die Republik Türkei muss zunächst bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dabei sind Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilungsgrundsatz besonders zu beachten. Der Schutz von Minderheiten muss gewährleistet werden. Menschenrechte müssen in vollem Umfang auch in der Republik Türkei eingehalten werden. Die Europäische Union wird sich jedenfalls nicht von der Türkei unter Druck setzen lassen. So weit zur tatsächlichen Lage.
Ich möchte aber auch die Position der Landtagsfraktionen der CDU und der FDP zu dieser Frage deutlich machen. Den Beitritt der Türkei als Vollmitglied der Europäischen Union lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt ab.
Zum einen erfüllt die Türkei nicht die Voraussetzungen eines modernen Rechtsstaates. Nicht zuletzt haben gerade die Ereignisse der letzten Monate in der Türkei, die Proteste im Sommer, aber auch der Umgang mit der Korruptionsaffäre, um einiges anzusprechen, diese Auffassung eher verstärkt als abgebaut. Dies betrifft insbesondere auch die Einstellung zur Frage der Gewaltenteilung. Laut Medienberichten hat der türkische Ministerpräsident die Einschätzung gegeben, dass die Gewaltenteilung das Risiko berge, die Demokratie zu untergraben. Solche Aussagen tragen nicht zur Förderung des Vertrauens bei.
Zum anderen wäre die Europäische Union auch aufgrund der Größe und der Wirtschaftsstruktur der Türkei trotz des Aufholprozesses, der dort eingesetzt hat, aber auch trotz des Demokratieprozesses, der stattfindet, mit einem Beitritt überfordert. Der Dialog jedoch mit der Türkei muss aufrechterhalten und ausgebaut werden. Die Republik Türkei ist trotz aller Probleme im Zusammenhang mit der Achtung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ein wichtiger Partner der Europäischen Union und natürlich auch der Bundesrepublik Deutschland. Diese Beziehungen dürfen nicht abgebrochen, sondern sollten
auch jenseits eines Beitritts in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, auch unter Gesichtspunkten der Weiterentwicklung der Demokratie in diesem Land, vertieft und ausgebaut werden.