Protocol of the Session on September 27, 2012

Auch verschiedene NGO sowie der Menschenrechtskommissar beim Europarat haben diese Frage der Bildung entsprechender unabhängiger Kontrollstellen im Bereich der Polizeiarbeit angemahnt. Ich darf verweisen auf den im Jahr 2006 vom EU-Menschenrechtskommissar vorgelegten Bericht beim Ministerkomitee und der Parlamentarischen Versammlung über seinen Besuch in Deutschland im Oktober 2006.

In der entsprechenden Reflexion dieses Besuches kommt er zu folgender Feststellung: „Nach Auffassung des Kommissars muss die Polizei in einer demokratischen Gesellschaft bereit sein, ihre Maßnahmen überwachen zu lassen und dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Obwohl es moderne Mechanismen gibt, die sich mit Fällen mutmaßlichen Fehlverhaltens der Polizei in Deutschland befassen, ruft der Kommissar die deutschen Behörden auf, zu diesem Zweck unabhängige Beobachtungs- und Beschwerdegremien einzurichten. Die Unabhängigkeit dieser Beobachtungsgremien kann nur wirksam gewährleistet werden, wenn sie außerhalb der Polizei und der Ressortstrukturen angesiedelt werden.“ – So weit diese konkrete Aussage.

In einer weiteren Stellungnahme des Menschenrechtskommissars des Europarates zur unabhängigen, effektiven Untersuchung von Beschwerden gegen die Polizei aus dem Jahr 2009 werden ähnliche Defizite in dem jetzt gegebenen Beschwerdesystem festgestellt. In diesem Bericht heißt es: „Ein unabhängiges und effektives Polizeibeschwerdesystem ist von grundlegender Bedeutung für einen demokratischen und rechenschaftspflichtigen Polizeidienst. Eine unabhängige und effektive Unter

suchung von Beschwerden stärkt das öffentliche Vertrauen in die Polizei und stellt sicher, dass polizeiliches Fehlverhalten und Misshandlungen durch die Polizei nicht straflos bleiben. Ein Beschwerdesystem muss in der Lage sein, angemessen, verhältnismäßig mit sehr unterschiedlichen Vorwürfen gegen Polizei umzugehen und dabei die Schwere der Vorwürfe und Auswirkungen derselben auf den betroffenen Polizeibeamten zu berücksichtigen. Ein solches Beschwerdesystem sollte effizient und angemessen ausgestaltet sein und zu einer Entwicklung der Kultur der Verantwortlichkeit bei der Erbringung polizeilicher Dienste beitragen.“

Das ist der europarechtliche Auftrag, die europarechtliche Erwartung an die Bundesrepublik Deutschland und deren Länder, die uns veranlasst, in der Anlage dieses Gesetzentwurfes etwas weiter zu gehen.

Wir wollen für den Freistaat Sachsen eine Anlage, die die Frage der Einrichtung einer entsprechenden Polizeibeschwerdestelle, dieser Institution, auch verfassungsrechtlich regelt. Wir wollen, dass in dem Gesetz die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Laufe der bisherigen Rechtsprechung zu Beschwerden im Zusammenhang mit diesbezüglichen Verletzungen der EMRK, gestützt auf die Anforderungen der Artikel 2 und 3, entwickelten Grundsätze im Gesetz verankert werden: der Grundsatz der Unabhängigkeit, das Prinzip der Angemessenheit, der Unverzüglichkeitsgrundsatz, die

Öffentlichkeitsmaxime und der Grundsatz der Einbeziehung von Betroffenen.

Unter diesem Aspekt wollen wir – durchaus mit dem Eingeständnis, hier gesetzgeberisches Neuland zu betreten – eine Ausregelung der entsprechenden Institution, die sich in mancherlei Hinsicht an dem unabhängigen Datenschutzbeauftragten und dessen Stellung orientiert. Das beginnt demzufolge damit, im Gesetzentwurf die Konsequenz vorzusehen, dass die entsprechende Stelle verfassungsrechtlich verankert wird.

Wir wollen einen neu einzuführenden Verfassungsartikel 53a, der als garantierten Schutzbereich eine sogenannte unabhängige Polizei-Ombudsstelle als Hilfsorgan des Landtages einrichtet. Wir wollen, dass zur Gewährleistung der gebotenen Unabhängigkeit der Aufgabenwahrnehmung in organisatorischer, personeller und funktioneller Hinsicht einerseits und der erforderlichen Legitimität der Beschwerdestelle andererseits der unabhängigen Polizei-Ombudsstelle eine Leiterin bzw. ein Leiter vorsteht, der die Amtsbezeichnung Sächsische(r) Ombudsfrau/Ombudsmann führt und qua Verfassung in der Ausübung ihres bzw. seines Amtes unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ist.

Wir wollen weiterhin, dass die betreffende Person, also die Amtsinhaberin bzw. der Amtsinhaber, unmittelbar durch den Landtag gewählt wird, und zwar ähnlich wie beim Datenschutzbeauftragten mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder für eine Amtszeit von sechs Jahren. Wir wollen, dass in diesem Artikel 53a die entsprechenden Regelungen vorgesehen sind, die den

Bürgern bezüglich der Ansprechbarkeit dieser Stelle eine verlässliche Rechtssicherheit geben.

Bitte kommen Sie zum Schluss.

Ich komme zum Schluss. – Ich will jetzt nicht im Einzelnen weitere Regelungen aus dem Gesetz referieren. Sie sind für jedermann nachvollziehbar. Wir bitten Sie, ähnlich wie die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, um eine möglichst aufgeschlossene und interessierte Debatte zu diesem Gesetzentwurf.

Aufgrund der Tatsache, dass wir eine verfassungsrechtliche Regelung anstreben und quasi Europarecht umsetzen wollen, beantragen wir allerdings, den Gesetzentwurf an den Verfassungs-, Rechts- und Europaausschuss – federführend – und zur Mitbehandlung an den Innenausschuss

und an den Haushalts- und Finanzausschuss zu überweisen.

Danke schön.

(Beifall bei den LINKEN und der Abg. Eva Jähnigen, GRÜNE)

Ich darf es wiederholen: Das Präsidium schlägt vor, den soeben eingebrachten Gesetzentwurf an den Verfassungs-, Rechts- und Europaausschuss – federführend – sowie mitberatend an den Innenausschuss und an den Haushalts- und Finanzausschuss zu überweisen. Wer seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Danke. Wer ist dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Ich sehe Einstimmigkeit. Damit ist die Überweisung beschlossen und der Tagesordnungspunkt ist beendet.

Wir kommen zu

Tagesordnungspunkt 5

Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung

(§ 30 Abs. 1 und 2 Sozialgesetzbuch IX) für Kinder, die von einer

Behinderung bedroht sind oder die eine Behinderung haben

Drucksache 5/6324, Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,

und die Antwort der Staatsregierung

Es spricht zuerst die einbringende Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Danach folgen CDU, DIE LINKE, SPD, FDP, NPD und die Staatsregierung, wenn gewünscht. Frau Abg. Herrmann, bitte.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Komplexleistung Frühförderung ist zugebenermaßen ein sperriger Begriff und klingt wahrscheinlich nicht so spannend, wenn ich hier ins Auditorium schaue.

Was verbirgt sich dahinter? Zum konkreten Inhalt: Frühförderung bezeichnet ein komplexes System früher Hilfen für behinderte und für von Behinderung bedrohte Kinder von Geburt an bis zum Schuleintritt. Sie schließt die Bereiche Früherkennung, Frühbehandlung, Früherziehung und Beratung ein. Weil es dann später wichtig ist, nenne ich die Bereiche noch einmal: Früherkennung, Frühbehandlung, Früherziehung und Beratung. Sie basieren auf der fächerübergreifenden Zusammenarbeit von zum Beispiel Logopädinnen/Logopäden, Psychologinnen/Psychologen, Heilerziehungspflegerinnen und -pflegern, Physiotherapeutinnen und -therapeuten und Frühförderpädagoginnen und -pädagogen mit den Kindern und – das ist wichtig – mit den Eltern. Frühförderung wendet sich immer an das Kind und bezieht die Familie und das weitere Umfeld ein.

Zum rechtlichen Rahmen. 2001 hat der Bundesgesetzgeber in § 30 SGB IX die interdisziplinäre Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder neu

geregelt und 2003 die Leistungen in der Frühförderverordnung näher definiert.

Die Frühförderung ist ein verbindliches Hilfsangebot an Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten und an deren Eltern und ist als Rechtsanspruch, liebe Kolleginnen und Kollegen, gesetzlich verankert. Die konkrete Ausgestaltung wurde den einzelnen Ländern überlassen. Seitdem wurden in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Systeme zur Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung etabliert.

Für welchen Weg hat sich Sachsen entschieden? In Sachsen existiert die sogenannte Landesregelung Komplexleistung. Der Titel ist verwirrend, da das Land selbst an der Landesregelung gar nicht beteiligt ist. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Verwaltungsvereinbarung zwischen den Rehabilitationsträgern, den Verbänden der gesetzlichen Krankenkassen einerseits und den kommunalen Spitzenverbänden für die örtlichen Träger der Sozialhilfe andererseits.

Seit dem 01.01.2010 beteiligt sich das Land nicht mehr an der Finanzierung der Frühförderung und hält sich komplett heraus, und so fallen auch die Antworten auf unsere Große Anfrage aus. Häufig ist zu lesen: „Dazu liegen der Staatsregierung keine Daten vor.“ Nicht einmal verlässliche und vergleichbare Angaben zur Anzahl der Kinder, die Frühförderung als Komplexleistung erhalten, kann die Staatsregierung machen, auch nicht zu den Kosten, die den Kommunen für diese Leistung entstehen. Für die

Kommunen liegt vollständiges Zahlenmaterial erst ab 2010 vor, und die Angaben aus den Jahren zuvor sind unvollständig und machen keine Vergleiche möglich. In Anlage 3 können Sie dies sehen.

Die Angaben der AOK PLUS als Vertreterin der Krankenkassen zu den Kosten von Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung sind allerdings unglaublich. Waren es 2005 noch 11 210 Euro, so gab die Krankenkasse im Jahr 2010 schon 2,1 Millionen Euro aus. Der Bedarf ist in den letzten Jahren also ganz erheblich gestiegen. Dabei ist zu beobachten, dass ein größer werdender Anteil der Kinder in Familien aufwächst, die durch sozioökonomische und psychosoziale Probleme belastet sind. Die Eigeninitiative und die Ressourcen dieser Familien sind in der Regel beschränkt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Festzustellen ist aber auch, dass in Sachsen ein gut funktionierendes Netz von Angeboten zur Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder durch die interdisziplinären Frühförderstellen, sogenannte IFF, und die sozialpädiatrischen Zentren, SPZ, existiert, und – ich denke, dem schließen Sie sich an – diesen Einrichtungen gilt unser herzlicher Dank für ihr Engagement schon seit vielen Jahren für die Kinder,

(Beifall bei den GRÜNEN und der CDU)

ein Engagement trotz bürokratischer Hürden und finanzieller Unwägbarkeiten.

Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es Schwierigkeiten und Hemmnisse, die Eltern und Leistungserbringer beklagen und die auch aus Fachgesprächen bekannt sind. Diese Probleme werden auch durch die Große Anfrage bestätigt. Sie liegen nicht nur auf der Landesebene, sondern natürlich auch in der Konstruktion und Formulierung des Gesetzes an sich. Deshalb geht auch die Bitte an die Staatsministerin, sich auf Bundesebene für eine Novellierung einzusetzen, die ja schon lange im Gespräch ist.

(Beifall des Abg. Horst Wehner, DIE LINKE)

Aber Voraussetzung für das Agieren auf der Bundesebene ist natürlich auch, dass die Probleme im Land bekannt sind, und diese Anfrage sollte zur Erhellung beitragen. Zumindest wird jetzt klar, was alles nicht bekannt ist.

Einige konkrete Beispiele. Sie erinnern sich: Ich sagte, Früherkennung, Frühbehandlung und Einbeziehung der Eltern stehen im Gesetz. Schauen wir uns also einmal ganz exemplarisch den Zugang zu Komplexleistungen an, der vom Bundesgesetzgeber als niedrigschwellig gefordert wird. Wir haben in den Fragen II.7 und 8 sowie in V., Fragen 6 und 7, nach den Zugangswegen gefragt. Da werden unterschiedliche Wege genannt, aber entweder werden die Eltern selbst aktiv – auch durch Hinweise von Kitas usw. – oder sie werden vom Facharzt in eine entsprechende Fördereinrichtung überwiesen.

Gemäß § 8 Abs. 1 der Landesregelung Komplexleistung ist eine Überweisung durch einen niedergelassenen Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin oder einen Facharzt

für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie eine Voraussetzung zur Erbringung der Komplexleistung Frühförderung. Da im ländlichen Raum diese Fachärzte nicht bzw. nicht in ausreichender Zahl ansässig sind, ist der Zugang zur Komplexleistung Frühförderung erschwert. Lange Wegstrecken und/oder lange Wartezeiten verzögern den frühzeitigen Beginn dieser Fördermaßnahmen.

Nun sollen ja auch die Vorsorgeuntersuchungen Entwicklungsverzögerungen und -auffälligkeiten aufdecken.

Allerdings zielt die Diagnostik in den Untersuchungen – darüber haben wir auch im Zusammenhang mit dem Kinderschutz gesprochen – immer noch zu sehr auf bereits manifeste Entwicklungsauffälligkeiten; Risiken werden zumeist nicht erfasst. Gerade Auffälligkeiten in der sozialen und emotionalen Entwicklung lassen sich in den Untersuchungen sehr schwer feststellen. Und nun denken Sie an die zunehmende Zahl der Kinder, bei denen diese Probleme erst bei der Einschulungsuntersuchung auffallen. Offensichtlich gelingt der Zugang zur Frühförderung nicht für alle Kinder, die einen Rechtsanspruch hätten.

Nun liegt endlich doch eine ärztliche Überweisung in die Frühfördereinrichtung vor. Die Antworten auf die Fragen IV.10 und 11 zeigen, dass trotzdem noch nicht alle Hürden genommen sind. Manche Landkreise bzw. kreisfreien Städte schicken die Eltern erst noch zum Gesundheitsamt. Die Zeit läuft, und es kommt zu Wartezeiten, bis ein Termin gefunden ist – das ist die Frage IV.12 –, und dann wieder, bis der Förderantrag vom Gesundheitsamt bearbeitet ist, Frage 13; und denken Sie daran: Es heißt Frühförderung.

Endlich ist der Antrag vom Sozialhilfeträger genehmigt, die Frühförderung könnte beginnen. Allerdings arbeiten manche Sozialhilfeträger mit unterschiedlichen Formen der Fallzahlbegrenzung, Frage IV.7 und 8. Und die Frage VII.6 zeigt, dass das auch die Krankenkassen tun. Die Beschränkung von Fallzahlen durch die Kostenträger oder auch ein Ausschluss von Frühförderung parallel zum Besuch einer Integrations-Kita oder einer heilpädagogischen Kita sind nicht zulässig, aber dennoch gängige Praxis in Sachsen. Eltern dürfen nicht vor die Wahl gestellt werden: entweder Frühförderung oder Kita; denn damit werden Teilhabe und Inklusion verhindert.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Die Festlegung von Obergrenzen der zu behandelnden Kinder darf nicht zu einer Verzögerung des Leistungsbeginns führen. Das ist aber laut Anfrage derzeit in einigen Kommunen der Fall.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte wirklich Lust, mit Ihnen das Thema der Beteiligung der Eltern und Familien bzw. des Umfeldes – Sie erinnern sich, eingangs sagte ich: Elternbeteiligung gehört zur Komplexleistung, wie es der Bundesgesetzgeber vorgesehen hat – in gleicher Weise anhand der Großen Anfrage durchzugehen. Leider reicht dafür die Zeit nicht. Aber ich kann Ihnen