Protocol of the Session on November 12, 2009

Artikel 8 Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht später in weiteren Entscheidungen, besitzt einen besonderen Rang und enthält sowohl ein subjektives Abwehrrecht als auch eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung. Sie lautete in den 60 Jahren der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland – wiederholt auch betont vom Bundesverfassungsgericht – „im Zweifel zugunsten der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechts“. Das ist deshalb so, weil eine lebendige Demokratie auf Kommunikation zwischen der im Staat organisierten Gesellschaft, ihren Gruppen und Repräsentanten der öffentlichen Gewalt – sei es nun Regierung oder Opposition – angewiesen ist. Eine Möglichkeit des Anrufs der Verantwortlichen ist die Demonstration, sagen die maßgeblichsten Grundgesetzkommentatoren. Sie sagen, Versammlungen und Demonstrationen sind Zeichen einer demokratischen Gesellschaft, sind ihr dynamisches Element.

Weil es um derart herausragende verfassungsrechtliche Schutzgüter geht, ist es zumindest politisch höchst unsensibel und mit der Funktion eines Parlaments als Stätte öffentlicher Willens- und Meinungsbildung, als Ort, wo res publica – Öffentlichkeit – Grundprinzip sein muss, unvereinbar, einen derart gravierende Materie betreffenden Gesetzentwurf wie den des Gesetzes über landes

rechtliche Geltung des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge vom 29. Oktober 2009 an der Öffentlichkeit vorbei, ohne 1. Lesung im Parlament, ohne öffentliche Vorstellung seiner Grundzüge und seiner beabsichtigten Wirkungen so mir nichts dir nichts über den Präsidenten in aller Stille an die Ausschüsse verweisen zu lassen.

(Beifall bei der Linksfraktion und vereinzelt bei der NPD)

Es ist im Übrigen noch dreister, dass es dem Verfassungs-, Rechts- und Europaausschuss nicht einmal möglich war, eine annähernd angemessene Zeit bis zum Termin der Anhörung zu verhandeln, sodass es fast ausgeschlossen scheint, für die Anhörung tatsächlich herausragende Verfassungsrechtsexperten als Sachverständige heranzuziehen, weil diese selbstverständlich nicht in ihren Universitäten oder im Arbeitsalltag sitzen und darauf warten, dass der Sächsische Landtag innerhalb von zwei Wochen nach Dresden ruft. Wir haben bislang acht namhafte Verfassungsrechtsexperten angefragt und haben von sieben mit dem Blick in den Kalender Bescheid erhalten, dass sie den Termin nicht annehmen können.

(Zuruf des Abg. Johannes Lichdi, GRÜNE)

Genau so.

Ich will die Namen jetzt nicht ausdrücklich nennen, aber sie haben innerhalb von zwei Wochen keinen freien Termin. Ich behaupte, dass Sie unter Missbrauch Ihrer Mehrheit, meine Damen und Herren von der CDU- und von der FDP-Fraktion, diesen so unsäglich nahen Anhörungstermin bewusst so gesetzt haben – was ich nur vom Rundfunkstaatsvertrag so kenne –, weil Sie kalkuliert haben, dass die Masse der großköpfigen Experten in der Zeit nicht kann, und dass Sie sie deshalb nicht auf dem Balg haben, damit sie Ihnen nicht sagen können, dass das Schrott ist.

(Karl Nolle, SPD: Das würden die doch nie machen!)

Was ist nun in aller Kürze zu den Hauptschwierigkeiten dieses Gesetzentwurfes zu sagen? Da ist erstens die unsägliche und unseres Erachtens unzulässige Vermischung von Versammlungsfreiheit und Erinnerungskultur.

(Zuruf des Abg. Geert Mackenroth, CDU)

So gut wie das gemeint sein mag – das geht nicht. Ich kann nicht Versammlungsrecht mit Erinnerungskultur vermischen. Ich kann das Versammlungsrecht undenkbarerweise unter Bezugnahme und mit der Rechtfertigung des Verweises auf die Erinnerungskultur in seinem Kern beschränken. Das halten wir für den Ansatz, wie er im Grundgesetz war, nicht für hinnehmbar.

Zweitens. Sie setzen schon im Vorspruch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Relation zum Würdeschutz bzw. konstruieren einen solchen Gegensatz, um Ihr Bestreben, die unleidlichen – wie Sie es sagen – Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch Versammlungen von Rechtsextremisten und Gegende

monstrationen von Linksextremisten aus der Welt zu schaffen. Denken Sie nur einen Moment nach, meine Damen und Herren von der CDU-Fraktion und der FDPFraktion oder meinethalben auch im Konkreten Herr Staatsminister der Justiz: Selbst in den größten Spannungsperioden in der alten Bundesrepublik – siehe Achtundsechziger-Umbrüche, Studentenbewegung, Antiatomkraftbewegung – wäre es dem Bundestag nie im Traum eingefallen, Hand ans Versammlungsrecht zu legen, um die Dinge zu beherrschen.

Das hat sich die Bundesrepublik Deutschland in all den Jahren – erst in 40, 50 Jahren – nie angetan. Dazu brauchte es erst der deutschen Einheit und des Aufbruches in dieser Zeit. Das begreife ich nicht. Ich begreife es erst recht nicht im 20. Jahr nach der Wende.

(Beifall bei der Linksfraktion und der SPD)

Drittens benenne ich an dieser Stelle, dass Sie den Bundesgesetzgeber mit dessen bisherigem, unter Verfassungs- und Bürgerrechtlern ohnehin höchst umstrittenen Text des § 15 Abs. 2 Versammlungsgesetz des Bundes, der mögliche Versammlungsverbote und Auflagenerteilungen auf den Versuch rechtsextremistischer Parteien und Organisationen beschränkt, gerade an Orten für ihre Ideologie zu demonstrieren, die in besonderer Weise dem Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt und Willkürherrschaft gewidmet sind, deutlich übertreffen.

Mit Ihrem quasi zum Verfassungsgut erhobenen Totalitarismuskonzept, das Sie letztendlich mit Ihrem Gesetzentwurf „ver-versammlungsrechtlichen“, überholen Sie den Ansatz des Bundesgesetzes wie auch den Ansatz, den zwei oder drei Länder inzwischen gewählt haben – zum Beispiel Bayern und Niedersachsen – in puncto Einschränkung des grundrechtlich geschützten Versammlungsrechtes um Längen. Sie sind damit um Längen restriktiver als Bayern und als der Bund ohnehin.

Ich hebe als Viertes hervor, dass damit künftig an bestimmten Tagen und Orten im Freistaat Sachsen – einige Orte zählen Sie im Gesetz leitbildgebend bzw. als entsprechende Maßstäbe auf: das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, die Frauenkirche mit dem Neumarkt in Dresden am 13./14. Februar, die gesamte nördliche Altstadt und die südliche innere Neustadt in Dresden – das Versammlungsrecht für diese Orte bzw. Tage quasi prophylaktisch außer Kraft gesetzt wird. Sie setzen das Versammlungsrecht an diesen Orten bzw. zu diesen Zeiten prophylaktisch außer Kraft. Sie rufen dazu auf, dass jeder Kreis prüfen möge, ob er Ihren Redefallbeispielen noch weitere, die diesen Maßstab rechtfertigen, hinzufügt.

(Johannes Lichdi, GRÜNE: Jedem seinen herausragenden Ort!)

Jedem seinen herausragenden Ort und seine herausragende Zeit – je nachdem, was ich lokal für mich für besonders bedeutend halte.

Darüber hinaus legen Sie es fünftens allein in die Hand – das steht damit im Zusammenhang – lokaler Versamm

lungsbehörden – und damit der sächsischen Kreise und Kommunen –, nach ihrem Ermessen zu handeln. Nach welchem Weg und welchem Verfahren und welcher Bekanntmachungsform sie dies tun sollen, regeln Sie nicht: einfach Orte von historisch herausragender Bedeutung in ihrem Gebiet zu bestimmen, an denen nach dem in Ihrem Gesetzentwurf angelegten Totalitarismuskonzept Versammlungen ohne Weiteres oder mit leichter Hand beschränkt oder verboten werden können.

Dazu sage ich als Chemnitzer: Wieso sollen die Chemnitzer nichts machen, wenn es sich die Dresdner gestatten, am 13./14. Februar Demonstrationen nicht zuzulassen oder nur unter dem Vorbehalt, dass es die Regierung gutheißt? Warum sollen es die Chemnitzer nicht am 5. März tun? Das ist der Tag, an dem in Chemnitz die Bombardierung des Zentrums, das zu 85 % in Schutt und Asche gelegt wurde, begangen wird. Nähme jede Kommune in Sachsen diese Ermächtigung wahr, käme dies einem landesweiten Verbot von Versammlungen gleich. Es entstünde jedenfalls ein versammlungsrechtlicher Flickenteppich. Über dessen durchgreifende Verfassungswidrigkeit darf spätestens seit dem Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes überhaupt kein Zweifel mehr bestehen.

(Beifall bei der Linksfraktion und vereinzelt bei der NPD)

Der Redner kann sich die Beifallgebenden nicht aussuchen. Ich hätte mir von Ihnen, Kollege Piwarz, Beifall erhofft, da Sie das Urteil kennen.

(Beifall und Heiterkeit bei der Linksfraktion und der Abg. Sabine Friedel, SPD)

Dass Sie damit Folgenlast und Prozessrisiko der von Gesetzes wegen vorprogrammierten verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzungen um künftige Versammlungsbeschränkungen oder Verbote allein auf die Kommunen abwälzen, sei abschließend nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Das ist ein letzter guter Dienst, Herr Staatsminister Dr. Martens, gegenüber dem früheren Berufsstand. Die Anwälte, jedenfalls die Verwaltungsrechtler, werden heftig zu tun bekommen.

Wenn die Vernunft und der Sachverstand nicht mit dem Erringen der Mehrheit im Parlament und der Partizipation an Koalition bzw. Regierungsämtern enden, dann nehmen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der FDP – wobei ich insbesondere an Letztere und im Besonderen an meinen hoch geschätzten und nun zum Justizminister geadelten Kollegen Dr. Martens appelliere –, diesen Gesetzentwurf einfach zurück. Dies würde dem Landtag sinnlose Arbeit, dem Freistaat Sachsen Geld- und Ansehensverlust und der Koalition die aus unserer Sicht sichere Blamage des Scheiterns vor dem Verfassungsgerichtshof in Leipzig ersparen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der Linksfraktion und der NPD)

Vielen Dank, Herr Bartl. – Meine Damen und Herren! Aus den Reihen der Fraktionen liegen weitere Wortmeldungen vor. Zunächst spricht für die CDU-Fraktion Herr Schiemann.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich Folgendes feststellen: Nicht alles, was hier mit Überzeugung vorgetragen wird, muss der Wahrheit entsprechen. Dabei beginne ich natürlich bei meinem Vorredner. Ich habe nicht feststellen können, dass er zu dem von den Linken eingebrachten Antrag gesprochen hat.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der FDP)

Er hat zu einem Antrag gesprochen, einem Gesetzentwurf, der nach unserer Geschäftsordnung direkt an den Verfassungs-, Rechts- und Europaausschuss überwiesen worden ist und bei dem wir uns – nicht im Schweinsgalopp – verabredet haben, eine zügige Beratung durchzuführen. Diese zügige Beratung ist die Grundlage für das, wofür wir in dieses Hohe Haus gewählt worden sind.

(Beifall bei der CDU – Klaus Bartl, Linksfraktion, meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

Herr Schiemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein. – Deshalb bitte ich Sie, meine Damen und Herren, dass ich die Gelegenheit wahrnehmen kann, die Position der CDU-Fraktion zu dem von den Linken eingebrachten Antrag zumindest in Nuancen anzusprechen und das, was nicht der Wahrheit entsprechend dargelegt worden ist und auch in der Öffentlichkeit dargelegt wird, für meine Fraktion klarzustellen.

(Thomas Kind, Linksfraktion: Niemals!)

Sehr geehrter Herr Präsident! Mit der friedlichen Revolution des Jahres 1989 haben viele von uns Versammlungs- und Meinungsfreiheit als wichtige Rechtsgüter eingefordert und für sich in Anspruch genommen. Die friedliche Revolution hat gerade nach den Friedensgebeten in den Kirchen diese Rechtsgüter als Menschenrechte ins Land getragen. Nur deshalb können wir uns hier und jetzt im Freistaat Sachsen versammeln. Das dürfen wir niemals vergessen.

Wenn es nach der SED-Dikatatur gegangen wäre, die ja auch eine Verfassung und in deren Artikeln 27 und 28 nachlesbar Freiheit der Versammlung sowie das freie Wort zugelassen und außerdem hineingeschrieben hat, unter welchen Grundsätzen man sich versammeln kann... jeder von uns weiß, welche Farce das gewesen ist und dass sich niemals mehr wiederholen darf, was in dieser Zeit geschehen ist.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Tino Günther, FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Motto „Keine Gewalt!“ war der wichtigste Begleiter bei den

friedlichen Demonstrationen. Bei der Erarbeitung der Sächsischen Verfassung waren die Fragen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit nie strittig. Deshalb bleibt für die CDU das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit eine entscheidende Grundlage der Demokratie. Seit 1990 haben wir immer die Frage einer Bannmeile um den Sächsischen Landtag abgelehnt, Herr Lichdi.

(Johannes Lichdi, GRÜNE: Das ist auch gut so!)

Es wird auch mit dieser Koalition keine Bannmeile um den Sächsischen Landtag geben – damit auch diejenigen, die die Unwahrheit sagen, dies jetzt nicht mehr behaupten können.

Zum Versammlungsgesetz selbst. Nach Artikel 8 haben alle Deutschen im Sinne des Grundgesetzes und nach Artikel 23 Sächsische Verfassung das Recht, sich ohne Anmeldung und Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist sowohl für die Entfaltung der Persönlichkeit als auch für die Aufrechterhaltung der Demokratie von fundamentaler Bedeutung. Allerdings können von dem Gebrauch des Grundrechtes auch Gefahren für individuelle Rechtsträger und für die demokratische Ordnung ausgehen. Deshalb lassen das Grundgesetz und die Sächsische Verfassung Beschränkungen der Versammlungsfreiheit zu. Sie müssen aber eine gesetzliche Grundlage haben und dem hohen Rang der Versammlungsfreiheit Rechnung tragen. Die Versammlungsfreiheit darf deshalb nicht unverhältnismäßig beschränkt werden.

Der Grundrechtsschutz umfasst Inhalt, Ort, Zeit und Art der Versammlung. Inhaltsbezogene Beschränkungen der Versammlungsfreiheit kommen nur insoweit in Betracht, als sie den strengen Anforderungen genügen, die sich aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz ergeben.

(Eva Jähnigen, GRÜNE, steht am Mikrofon.)

Herr Schiemann, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?

Nein, eigentlich nicht.