Protocol of the Session on December 10, 2004

Kinder reicher Eltern haben eine fast sechsmal größere Chance, auf das Gymnasium zu kommen, als Kinder aus der unteren Mittelschicht. Die Bundesrepublik geht ihren fragwürdigen Weg weiter. Mit dem nötigen Geld der Eltern können Kinder alles erreichen.

Im Vergleich der 31 Industriestaaten versagt kein anderes Bildungssystem bei der schulischen Förderung von Kindern aus dem unteren Milieu so sehr wie das deutsche oder das bundesrepublikanische, denn Deutschland und die Bundesrepublik sind nicht identisch.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Gansel?

Nein, ich möchte meine Rede erst zu Ende führen. Selbst bei gleicher Intelligenz und gleichem Lesevermögen hat ein Zehnjähriger aus einem Akademikerhaushalt bundesweit eine dreimal größere Chance, auf das Gymnasium zu kommen, als ein Facharbeiterkind. In Bayern ist die Chance für das Arbeiterkind sogar sechsmal schlechter. Herkunftsbedingte Nachteile werden im Laufe der Schulzeit also nicht abgebaut, sondern weiter verschärft, was ein unhaltbarer bildungspolitischer Zustand in diesem Lande ist.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nein. – Das gilt auch für die Vertreter der anderen Fraktionen, dass ich meine Rede erst zu Ende führen möchte. Auch dann behalte ich mir die Entscheidung vor. Etwa 40 % der 15-jährigen deutschen Arbeiterkinder verlassen die Schule mit unzureichendem Vermögen in Lesen und Textverständnis. Sie zählen damit zur so genannten Risikogruppe auf dem Arbeitsmarkt. Die soziale Schieflage im deutschen Bildungssystem ist aber nicht erst seit den Pisa-Studien bekannt. Seit Mitte der sechziger Jahre gibt es handfeste empirische Beweise für den Niedergang der einst gerühmten deutschen Bildungslandschaft. Für die Gesellschaft, insbesondere für die Bildungspolitiker der etablierten Parteien, war dies offensichtlich ein Ärgernis, das lieber verdrängt wurde. Wir kennen es: Problemverdrängung statt Problemlösung – das verbindende Kennzeichen aller Kartellparteien.

Auch die neuen Pisa-Ergebnisse sind verheerend und animieren manchen vormaligen Blindgänger zum Mixen undurchdachter und damit unrichtiger Bildungskonzepte, die an der Realität oftmals zielsicher vorbeizielen. Statt Leistung zu fördern ist das Anspruchsniveau im Bildungswesen im Verlauf der Jahre immer weiter nivel

liert und oftmals abgesenkt worden. Die so genannte Rechtschreibreform, die de facto eine Schlechtschreibreform ist, bildet hier nur den vorläufigen Schlusspunkt einer verhängnisvollen Entwicklung und setzt der Bildungsmisere die Krone auf.

Hinsichtlich der Tatsache, dass die Lesekompetenz bei Schülern nur unzureichend ausgeprägt ist, muss das schwerfällige Schiff Bildungspolitik wieder an Fahrt gewinnen und vom Havariekurs abgebracht werden. Die angerührten Rezepte, die nun präsentiert werden, zeigen, dass die kurzschlüssige und kulturvergessene bundesrepublikanische Bildungspolitik selber die wichtigste Ursache der Misere ist, die ihre Vertreter hier und anderswo wortreich beklagen.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

(Prof. Dr. Cornelius Weiss, SPD, steht am Mikrofon.)

Nein, ich möchte meine Rede nach wie vor zu Ende führen; ich bitte um Verständnis. Ein großer Bildungsreformer schrieb: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker. Ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache.

(Rita Henke, CDU: Ihre Sprache ist Ihr Geist!)

Man kann sich beide nicht identisch genug vorstellen“, schrieb Wilhelm von Humboldt, der vielleicht aus entrückten Zeiten auch den einen oder anderen Bildungsreformer der etablierten Parteien noch anwehen mag.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, PDS)

Bitte zum Schluss kommen!

– Über Humboldt können wir uns an einer anderen Stelle mal gründlicher unterhalten, dazu habe ich auch einiges zu sagen, Herr Prof. Porsch. Die Verluderung der Sprache – erlauben Sie uns, dass die NPD-Fraktion nicht haarklein den Blick für das Große verliert und sich in Detailfragen etablierter Bildungspolitik verliert –; die Verluderung der Sprache, die Verluderung der Kultur und damit auch der Verlust des Gemeinschaftsgefühls, – –

Bitte zum Schluss kommen, Herr Gansel!

– der dann wiederum die Bildungschancen unabhängig von der sozialen Herkunft mindert, ist das Kernproblem der etablierten Bildungspolitik. Ich möchte schließen mit einer Grunderkenntnis, die in diesem Hause aber wenig verbreitet sein wird: Wo das Volk zerstört wird, wird die Gemeinschaft zerstört.

(Zuruf von der PDS: Was?)

Wo die Gemeinschaft zerstört wird, stirbt die Kultur, und wo die Kultur zerstört wird, stirbt letztendlich der Einzelne.

Jetzt ist aber Schluss mit der Diskussion!

(Beifall bei der NPD)

Ich erteile der Fraktion der FDP das Wort; Herr Herbst, bitte.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Pisa“ ist ja immer wieder – interessant – ein Auslöser für heftigste Diskussionen. Sie, Herr Flath, haben gesagt, „Pisa II“ bietet keinen Anlass zur Hysterie – da gebe ich Ihnen Recht. Hysterisch müssen wir nicht werden, weil so viel Neues darin nicht enthalten ist. Aber wenn ich in der Zeitung lese – na ja, keine Hysterie bedeutet, wir machen mal eine Politik der ruhigen Hand, ein bisschen was haben wir ja getan nach „Pisa“, jetzt warten wir mal sieben Jahre ab, denn in sieben Jahren haben wir vielleicht die Erkenntnis, ob es gewirkt hat. Da sage ich ganz klar: Es ist auch eine Erkenntnis aus „Pisa“, dass es eben nicht reicht, nur zu warten, bis eine Reform gewirkt hat, und vor allem dann nicht, wenn diese Reform nur halbherzig umgesetzt wurde. Das ist hier passiert und das steht auch so im Koalitionsvertrag. Es hilft, glaube ich, in der Diskussion wenig, sich nur um Schulstrukturen Schlachten zu liefern,

(Dr. André Hahn, PDS: Nicht nur, aber auch!)

weil Schulstrukturen nur ein Teil des Problems sind. Die richtigen Schlussfolgerungen aus „Pisa“ aber reichen nicht aus und ich sage ganz klar: Wir brauchen hier in Sachsen einen größeren Wurf und wir brauchen vor allem eine schnellere Realisierung. Wir haben ja gesehen, gerade in „Pisa II“, dass Länder, die beim letzten Mal noch im Mittelfeld lagen, mittlerweile in der Spitzengruppe sind. Die Welt um uns herum schläft nicht, auch nicht, wenn Sachsen der Meinung ist, wir schieben mal lieber eine ruhige Kugel.

Wir kommen nicht umhin, uns auch mit den sozialen Fragen des Bildungssystems zu beschäftigen. Wenn 10 % sächsischer Schulabsolventen keinen richtigen Abschluss haben, wenn weitere 5 bis 10 % Ergebnisse haben, die – das wissen wir – bei der heutigen Arbeitsmarktlage ihnen quasi null Chancen auf einen Ausbildungs- oder einen Studienplatz einräumen, dann kann uns das nicht egal sein. Die Bildungsschwachen von heute sind die Arbeitslosen von morgen – das gilt gerade in einer Wissensgesellschaft.

Deshalb müssen wir die Diskussion führen über Bildungschancen, aber ich sage es auch ganz klar: eben nicht nur bei den Schwachen. Wir müssen die Diskussion auch führen über Bildungschancen bei den Talentierten und bei denen, die mittlere Begabungen haben. Es ist ja kein Automatismus, dass ein Lernschwacher automatisch besser wird, wenn wir uns weniger um Lernstarke kümmern. Das Entscheidende ist doch, wie

viel Zeit und wie viel Ressourcen wir eigentlich in den Einzelnen investieren, wie viel Zeit wir haben, um auf Fähigkeiten, um auf individuelle Begabungen einzugehen, wie viel Zeit wir haben für die persönliche Betreuung von Schülern. Die ist heute kaum vorhanden; viele Lehrer sind überfordert, sie müssen oftmals auch den Reparaturbetrieb für Haushalte spielen, in denen Schüler eben von ihren Eltern nicht optimal in der Schule begleitet werden.

Wir haben das Problem Stundenausfall – weiterer Stress, weiterhin weniger Zeit – und wir haben ohnehin schon eine geringe Lernzeit, wenn man das beispielsweise mit Ländern wie Irland vergleicht. Dort wurde – ich will dahin nicht zurück – der Samstag wieder als zusätzlicher Schultag eingeführt; das ist aber vielleicht auch ein Erfolgsmodell.

Das sächsische Schulsystem allein ist kein Auslöser für soziale Benachteiligungen, aber das Problem ist: Es ist nicht in der Lage, soziale Benachteiligungen auszugleichen. Deshalb sagen wir ganz klar: Es geht hier nicht nur um persönliche Lebenschancen; es geht vielmehr bei dieser Frage auch um das Fundament des zukünftigen Wohlstandes in unserem Lande, und das werden wir in wenigen Jahren merken. Chancen schaffen, Fairness garantieren und nach Leistung streben – das sind unsere Prämissen für eine moderne Schulausbildung. Deshalb wollen wir, dass wir früher mit dem Lernen beginnen – mit einem kostenlosen und verpflichtenden Vorschuljahr. Da reicht uns nicht aus, was in der Koalitionsvereinbarung steht. Wir wollen auch Spätstartern eine Chance geben. Es ist in der Tat so und wir wissen es alle, dass mit dem derzeitigen Schulsystem viele, die sich später entwickeln, eben nicht mehr die Chance haben, die Durchlässigkeit nicht gegeben ist, ihre Talente zu entwickeln. Wir sagen deshalb: Gemeinsamer Unterricht bis Klasse 6 – das hilft individuell zu fördern, ohne Gleichmacherei zu betreiben.

Wir brauchen außerdem einen anderen Rahmen, in dem eben eine andere Lernkultur, wie Martin Dulig sagt, an Sachsens Schulen möglich ist. Das heißt Freiheit für die Schulen, Freiheit bei der Mittelverwendung, beim Thema Finanzen, größerer Einfluss bei der Lehrerauswahl und mehr Freiheiten bei der Methodik der Wissensvermittlung.

Schulen, meine Damen und Herren, dürfen nicht als Behörden betrachtet werden, sondern sie müssen als Bildungsdienstleister gesehen werden. Dazu gehört auch, dass wir Schülern nicht zumuten, eine Stunde oder länger mit Bussen zum Schulstandort zu fahren. Wir müssen uns mehr um Schulstandorte kümmern; wir müssen dafür sorgen, dass die Schüler ihre Zeit in der Schule und mit dem Lernen verbringen und eben nicht im Bus.

(Beifall des Abg. Holger Zastrow, FDP, und ganz vereinzelt bei der PDS)

Die Koalition hat einen Anfang gemacht, aber er reicht bei weitem nicht aus, das sage ich ganz klar. Wir brauchen auch nicht nur Modellversuche oder Prüfaufträge. Es ist doch klar, wir haben Erkenntnisse – glücklicherweise, sage ich – sowohl aus dem DDR-Schulsystem als auch aus den Siegerländern bei „Pisa“, und zwar nicht nur den skandinavischen, sondern weltweit. Warum soll

ten wir nicht mal den Mut haben, einen eigenen sächsischen Weg in der Bildungspolitik zu beschreiten,

(Beifall bei der FDP und der PDS)

der die Vorteile, die wir aus dem DDR-Schulsystem und aus der Lehrerausbildung kennen, und das, was wir aus modernen Erkenntnissen in der Wissensvermittlung wissen, kombiniert, und damit Vorbild und Modellland für Deutschland werden?

(Beifall bei der FDP und der PDS)

Ich erteile der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort; Frau Günther-Schmidt, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollten heute zu „Pisa“ sprechen. Wir haben einen Ausfall erlebt – ich bin schockiert, dass der Vorredner nicht darauf eingegangen ist. Liberale Gedanken sollten gerade hier dann auch empfindliche Antennen aufgebaut haben. Wenn das auch nur ansatzweise hier im Hause toleriert wird, keiner reagiert – die Zwischenfragen werden nicht zugelassen; das kann ich noch verstehen –, aber dass der nachfolgende Redner einer demokratischen, einer liberalen Partei nicht auf die Ausfälligkeit, die eben passiert ist, eingeht, das schockiert mich doch im höchsten Maße.

Ich möchte hier deutlich feststellen: Ich hoffe, dass die demokratischen Parteien meine Einschätzung teilen, dass wir solche Äußerungen, die wahrscheinlich nicht im strafrechtlich relevanten Bereich gelegen haben, aber von der Aussage her außerordentlich deutlich waren, hier nicht tolerieren können.

(Beifall bei den GRÜNEN, der PDS und der FDP)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ich gestatte eine Zwischenfrage.

Herr Herbst, bitte

Danke, Herr Präsident. – Sind Sie nicht auch der Meinung, dass, wenn so viel Blödsinn erzählt wird, der offensichtlich denjenigen, der ihn erzählt, entlarvt als jemanden, der von der Sache keine Ahnung hat, es gar nicht die Sekunde wert sein sollte, sich damit überhaupt auseinander zu setzen?

(Beifall bei der FDP und der Abg. Rita Henke, CDU)

Herr Herbst, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass man sich über Blödsinn und Kindereien nicht auseinander setzen sollte. Hier ist

meiner Einschätzung nach die Grenze zum Blödsinn deutlich überschritten worden.