Protocol of the Session on May 14, 2009

Tagesordnungspunkt 7

Einführung einer Kindergrundsicherung

Drucksache 4/15328, Antrag der Linksfraktion

Die einreichende Fraktion beginnt wie immer. Danach die gewohnte Reihenfolge. Herr Neubert spricht für die Linksfraktion. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe zu, dass ich nicht zu denjenigen gehöre, die sich regelmäßig und mit Begeisterung im Fernsehen Talkshows ansehen. Thematisch hat es in der letzten Woche jedoch gleich zweimal gepasst. Ich möchte daraus gern ein paar Dinge zitieren.

Am Dienstag ging es bei Sandra Maischberger wieder einmal um die Armut in der Gesellschaft. Das Thema lautete: „Lässt der Staat die Armen im Stich?“ – Einer der Gäste war die Schauspielerin Uschi Glas. Sie berichtete, wie sie zur Kenntnis nehmen musste, dass es in der reichen Stadt München Tausende hungernde Kinder in der Grundschule gibt, und wie sie selbst initiativ geworden ist, um persönlich auf karitativer Ebene etwas dagegen zu tun. So weit, so schlecht oder so gut.

Aber das eigentlich Interessante war, dass Uschi Glas ausführte, dass sie es, bevor sie es nicht von den Schulleitern bestätigt bekommen hat, nicht geglaubt hätte, dass es so etwas in der reichen Stadt München gibt.

Uschi Glas, bekanntlich bekennende CSU-Anhängerin, räumte in der Sendung ein, dass sie mit Entsetzen zur Kenntnis genommen habe, dass bis zu 30 % der Grundschüler hungrig in der Schule sitzen. Dabei fühlte ich mich an so manche Debatte zum Thema Kinderarmut in diesem Haus erinnert. Hunger gibt es in der Vorstellung der meisten Ober- und Mittelklasseangehörigen nur in der Dritten Welt, in der journalistischen Übertreibung oder in der Propaganda der Linken. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Folge der politischen Ignoranz in diesem Land.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Es bedurfte bei Uschi Glas eines besonderen Anstoßes, um die Realität zur Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen zu ziehen. Die Konsequenz war im konkreten Fall ein ehrenamtlicher Verein, der nunmehr die Kinder in vier Münchener Grundschulen mit Frühstück versorgt. Das ist ein lobenswertes persönliches Engagement, aber keine Lösung für ganz München, geschweige denn darüber hinaus.

Natürlich fehlte in dieser Maischberger-Runde die- bzw. derjenige nicht, der ebenso unbedarft wie altklug über den relativen Charakter der Armutsgrenze schwadronierte und damit versuchte, das Problem zu verniedlichen. In dieser Sendung war es Hugo Müller-Vogg, hier im Haus sind es

meistens die Kollegen der CDU-Fraktion, die diese Rolle übernehmen.

Meine Damen und Herren! Hungernde Kinder sind eine Realität in Deutschland, und das nicht nur in München – das war nur ein Beispiel –, sondern genauso in Dresden, in Leipzig, in Chemnitz, in Zwickau oder in Görlitz.

Ich berichte Ihnen über ein zweites Fernseherlebnis am Sonntagabend bei Anne Will. Auch dort ging es um das Ehrenamt – wir haben schließlich eine Themenwoche – und um Armut. Das Thema lautete: „Ehrenamtlich gegen Armut – machen Suppenküchen satt und bequem?“

Ich will gar nicht auf die Einzelheiten eingehen. Ich war nur schwer beeindruckt von unserer Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen – zur Erinnerung: CDU –, die wie immer mit dem alle gewinnenden Ursula-von-derLeyen-Kameralächeln erklärte: Selbstverständlich brauche man in Deutschland Ganztagsschulen für alle und selbstverständlich auch für alle Kinder ein kostenloses Mittagessen in der Schule. Dies sei bitter nötig.

(Dr. André Hahn, Linksfraktion: Ist es denn möglich?!)

Auf Nachfrage: Als Bundesministerin geht es ja leider nicht – die föderale Ordnung, Sie wissen schon. – Das war die Antwort. Sie ist leider nicht mehr dazu gekommen auszuführen, dass es in dieser föderalen Ordnung auf Landesebene und in den Kommunen sowohl für Ganztagsschulen als auch für ein kostenloses Mittagessen für alle Kinder Initiativen gab.

Vor allem konnte sie in der Sendung nicht ausführen, dass es die CDU und die von ihr geführte Koalition war, die dies jeweils ablehnten, so auch im Sächsischen Landtag, wo der wichtige und finanzierbare Gesetzentwurf der Linken zu diesem Thema abgelehnt worden ist.

Was Frau von der Leyen im Fernsehen als bitter nötig bezeichnete, hat die CDU im Sächsischen Landtag als Populismus der Linken denunziert. Wenn es in den Kommunen Versuche gab, wenigstens für die bedürftigsten Kinder ein solches Mittagessen zu sichern, dann war das in einigen Fällen erfolgreich, in anderen Fällen, zum Beispiel in Dresden, ist es wieder an dieser CDU gescheitert.

Sehr geehrte Damen und Herren! Das ist das Dilemma der deutschen Politik bei der Bekämpfung der Kinderarmut, wie hier am Beispiel des kostenlosen Mittagessens angesprochen: Entweder es besteht Realitätsverweigerung oder es gibt Lippenbekenntnisse. Nur verändern tut sich nichts. Das kann nicht sein!

DIE LINKE möchte Ihnen heute wieder einmal die Gelegenheit geben, von diesem Grundmuster abzuweichen und gemeinsam eine sinnvolle Initiative zu unterstützen und zu befördern. Die Initiative kommt diesmal nicht von uns, sondern von Vertretern der Familien- und Sozialverbände und der Wissenschaft, denen wir uns angeschlossen und diesen Antrag angehängt haben. Diese Initiative wartet mit einem Vorschlag auf, der bei den

unmittelbaren Geldtransfers an Eltern von Kindern ansetzt. An die Stelle des ungerechten Gestrüpps von Kindergeld, Kinderfreibeträgen und Hartz-IV-Bedarfssätzen für Kinder soll eine einzige Kindergrundsicherung treten.

Schauen wir uns die gegenwärtige Situation einmal an: Kinder von Erwerbstätigen mit unteren und mittleren Einkommen erhalten monatlich 164 Euro Kindergeld. Die Kinder von Gut- und Spitzenverdienern hingegen profitieren mit steigendem Einkommen von den steuerlichen Kinderfreibeträgen. Diese wirken sich aufgrund des progressiven Steuersystems bei den höchsten Einkommen am stärksten aus. Aktuell beträgt die maximale Entlastung aufgrund der Freibeträge rund 240 Euro im Monat. Zusätzlich können gerade Bezieher höherer Einkommen die steuersparende Absetzung ihrer Ausgaben für häusliche Kinderbetreuung und/oder für Privatschulen ausschöpfen. Demgegenüber wiederum profitieren Kinder aus Hartz-IV-Familien nicht einmal von einer Erhöhung des Kindergeldes, denn das wird ihnen bekanntlich bei Hartz IV komplett gegengerechnet. Der Bedarfssatz von 211 Euro im Monat ist nach höchstrichterlicher Entscheidung jedoch weder bedarfsdeckend noch verfassungsgemäß, aber dennoch nach wie vor unverändert.

(Zuruf des Abg. Dr. André Hahn, Linksfraktion)

Es muss doch mal erklärt werden, warum für ein armes Kind 211 Euro ausreichen sollen, während man für ein reiches Kind bis zu 500 Euro steuerlich geltend machen kann. Der im Raum stehende Vorschlag bedeutet nichts anderes, als alle Kinder gleich zu behandeln: 500 Euro Kindergrundsicherung, das heißt 320 Euro für sächlichen Monatsbedarf eines Kindes und 180 Euro zur Übernahme der Kosten für Bildung und Betreuung, solange diese noch nicht komplett kostenfrei sind. Die 320 Euro entsprechen dem heutigen Freibetrag für das sächliche Existenzminimum und die 180 Euro dem Freibetrag für die Betreuung und Erziehung bzw. Ausbildung. Gleichzeitig sind die 320 Euro näherungsweise der Wert, auf welchen der Sozialgeldbedarfssatz für Kinder nach Meinung der Experten mindestens angehoben werden müsste.

Da diese Kindergrundsicherung in dem Vorschlag auch der Besteuerung unterliegen soll, wäre gewährleistet, dass reiche Familien auch nach der Besteuerung immer noch das Gleiche für ihr Kind erhalten wie bisher, während Kinder aus ärmeren Familien erstmals das finanziell Nötige für gesundes Aufwachsen und ihre Bildung erhielten.

Natürlich wären die 320 Euro nicht fix, sondern müssten dem Lebenshaltungsindex angepasst werden. Die 180 Euro müssten demgegenüber nicht zwingend komplett ausgezahlt werden, sondern wären der finanzielle Rahmen für kostenfreie Kita, kostenloses Mittagsessen und für die tatsächliche Umsetzung der verfassungsmäßig garantierten Lernmittelfreiheit in der Schule, übrigens auch für die Übernahme von etwaigen Elternbeiträgen

von freien Schulen, damit diese nicht nur den Besserverdienenden offenstehen.

Für das Modell gibt es eine finanzielle Gegenrechnung, die Ihnen vorliegt. Es finanziert sich zum Ersten natürlich aus dem Wegfall aller bisherigen Leistungen, die dann in der Kindergrundsicherung aufgehoben wären, und zum Zweiten aus dem Verzicht auf das antiquierte Ehegattensplitting, welches zwar die Ehe, aber nicht die Familie fördert. Was netto an Mehrbedarf übrig bleibt, beziffern die Initiatoren auf circa 10 Milliarden Euro. 10 Milliarden Euro zur Überwindung der Kinderarmut sind geradezu ein Schnäppchen angesichts der Milliardenbeträge, die gegenwärtig für wesentlich weniger bedeutsame Dinge ausgegeben werden.

Leider können wir das in Sachsen nicht direkt beschließen; es muss bundesweit in Angriff genommen werden. Nichtsdestotrotz sollten wir uns nicht so billig aus der Verantwortung nehmen wie Frau von der Leyen am vergangenen Sonntag. Wir sollten nicht nur auf die Kompetenz anderer Ebenen verweisen, sondern ein deutliches Signal aus dem Sächsischen Landtag senden und im Folgenden vor allem unserer eigenen Verantwortung gerecht werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der Linksfraktion)

Das war die einreichende Fraktion. Die Aussprache beginnt die CDUFraktion mit Herrn Krauß; bitte.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bewundere die Kreativität der Linkspartei. Sie haben eigentlich jeden Monat eine neue Idee präsentiert. Im Januar durften wir mit dem kostenlosen Mittagessen beginnen. In der vorherigen Debatte, im März, haben Sie gesagt, man sollte die HartzIV-Sätze auf 351 Euro erhöhen, und heute sagen Sie, man brauche 500 Euro. Ich bin sicher, wir werden im nächsten Monat über 650 Euro diskutieren. Dafür haben Sie sicher wieder ein ganz neues Konzept, über welches wir dann sprechen können.

(Dr. André Hahn, Linksfraktion: Und Sie machen gar nichts! – Falk Neubert, Linksfraktion, steht am Mikrofon.)

Herr Krauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ich würde zunächst fortfahren. Danach kann man gern fragen. Aber so viel habe ich noch nicht gesagt, dass man jetzt schon fragen könnte.

(Zurufe von der Linksfraktion)

Dann darf der Herr Neubert gern fragen.

Also doch; Herr Neubert, bitte.

Herr Krauß, stimmen Sie mir zu, dass bei all diesen Anträgen, die Sie benannt haben, ein gemeinsames Ziel besteht, nämlich die Bekämpfung von Kinderarmut, und dass wir durch Ihre Ablehnung diesem Ziel nicht nähergekommen sind?

Wenn man etwas durchsetzen will, braucht man ein Konzept. Das fehlt der Linkspartei offensichtlich. Deshalb springen Sie jedes Mal auf eine neue Idee, anstatt eine Idee stringent zu verfolgen.

(Beifall bei der CDU)

Worin besteht der neue Vorschlag? Sie sagen, wir brauchen eine Verdreifachung der Kindergeldzahlungen. Dieser eine Punkt ist ja enthalten. Wir als CDU sagen: Das Kindergeld wollen wir gern erhöhen. Wir werden es sicherlich erhöhen – das ist auch Programmatik der CDU zur Bundestagswahl –, und zwar was die Familien bekommen, die regelmäßig arbeiten gehen. Herr Neubert, Sie haben richtig vorgetragen, dass das diejenigen sind, die das wenigste Geld bekommen, nämlich die 164 Euro.

Aber wir sagen auch ganz deutlich, dass eine Verdreifachung der Kindergeldzahlung sehr unrealistisch ist; denn dann muss man fragen, woher das Geld kommen soll. Die Gegenfinanzierung ist deshalb sehr interessant. Einerseits könnte man sagen, die 10 Milliarden Euro, die Sie als Mehrbedarf angesprochen haben, sind auch nicht so einfach aufzutreiben. Aber lassen wir es drum geschehen und sagen, man bekommt sie irgendwie zusammen.

Dann kommen wir zum größten Brocken, der hier nicht genannt worden ist, aber zur Gegenfinanzierung herhalten soll: Das ist das Ehegattensplitting, das verfassungsrechtlich geschützt ist. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf, dass das Bundesverfassungsgericht Sie zurückschicken würde, wenn Sie das streichen würden. Das sagt Ihnen jeder, der sich ein wenig mit der Materie auskennt. Ich halte es auch für richtig, dass das Verfassungsgericht Sie zurückschicken würde; denn die Ehen erbringen eine sehr große gesellschaftliche Leistung. Die Eheleute stehen in guten wie in schlechten Zeiten füreinander ein. Wenn der eine Ehepartner arbeitslos wird, dann kommt der andere finanziell für ihn auf. Wenn der eine krank ist oder pflegebedürftig,

(Kristin Schütz, FDP: Unverheiratete auch!)

kommt der andere auch für ihn auf. – Frau Schütz, dem ist eben nicht so. Wenn man nicht verheiratet ist, kann man sich dieser Verpflichtung relativ leicht entziehen.

(Kristin Schütz, FDP: Da kennen Sie die Sozialgesetze nicht! – Weitere Zurufe)

Ich kenne die Realität; sie ist so. – Deshalb bringen Ehen eine sehr große Leistung und ich denke, dass diese finanziell anerkannt werden sollte. Deswegen ist das Ehegattensplitting eine sehr wichtige gesellschaftliche und familienpolitische Leistung.

Prüfen könnte man die Frage – und das ist das Quäntchen Positive an Ihrem Antrag –: Gibt es Möglichkeiten,