Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 1. Sitzung des 4. Landtages des Freistaates Sachsen.
Gemäß Artikel 44 Abs. 3 der Verfassung des Freistaates Sachsen tritt der Landtag spätestens am 30. Tag nach der Neuwahl zusammen. Die Wahl fand bekanntlich am 19. September dieses Jahres statt. Heute ist der 19. Oktober. Ich stelle fest, dass somit die vorgeschriebene Frist eingehalten ist.
Meine Damen und Herren! Nach derselben Verfassungsbestimmung wird die erste Sitzung des Landtages vom Alterspräsidenten einberufen und von diesem bis zur erfolgten Wahl des Landtagspräsidenten geleitet.
Vom Präsidenten des 3. Sächsischen Landtages wurde ich als ältestes Mitglied des neu gewählten 4. Landtages festgestellt. Ich heiße Cornelius Weiss und bin am 14. März 1933 geboren.
In Wahrnehmung meines Amtes möchte ich zuallererst Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten des 4. Sächsischen Landtages, sehr herzlich in diesem Hohen Haus begrüßen und Ihnen zu Ihrer Wahl gratulieren.
Zu meiner Freude habe ich erfahren, dass heute ein Geburtstagskind unter uns ist. Lieber Herr Kollege Zais, ich möchte Ihnen zu Ihrem Geburtstag alles, alles Gute, Gesundheit und – von mir aus gesehen – Gottes Segen wünschen. Herzliche Gratulation!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass uns viele Gäste zur Konstituierung des neuen Landtages die Ehre geben.
Ich begrüße im Namen aller Abgeordneten des 4. Sächsischen Landtages sehr herzlich die Mitglieder der Sächsischen Staatsregierung und des Verfassungsgerichtshofes, die Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die Repräsentanten der Kirchen und Religionsgemeinschaften im Freistaat Sachsen, die Angehörigen des Konsularischen Corps, den Herrn Präsidenten des Rechnungshofes, den Herrn Ausländerbeauftragten und den Herrn Datenschutzbeauftragten unseres Landes.
Schließlich möchte ich die anwesenden Vertreter von Presse, Funk und Fernsehen und ganz besonders natürlich alle Bürgerinnen und Bürger, die an dieser konstituierenden Sitzung teilnehmen, ganz herzlich in diesem Hohen Hause willkommen heißen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Grundlage unseres demokratischen Gemeinwesens und damit unser aller parlamentarischen Handelns sind das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des
Freistaates Sachsen. In Artikel 3 Abs. 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Die regelmäßige Durchführung freier und geheimer Parlamentswahlen ist also notwendige Konsequenz und wichtiger Teil der praktischen Verwirklichung dieser Verfassungsbestimmung.
Als die Öffentlichkeit, als wir alle nach arbeitsreichen und angespannten Wochen intensiven Werbens für die von unseren Parteien entwickelten Konzepte und Programme am Abend des 19. September den in Prozentzahlen ausgedrückten politischen Willen des Souveräns zur zukünftigen Zusammensetzung des Landtages zur Kenntnis nahmen, lagen für viele von uns Jubel und bittere Enttäuschung, auch persönliches Glück und persönliche Tragik, vor allem aber wohl Betroffenheit und Zorn nahe beieinander. Jenseits aller Emotionen müssen wir konstatieren, dass das Wahlergebnis vom 19. September die bisher eher statisch erscheinende politische Landschaft im Freistaat Sachsen gründlich und – leider – nicht nur zum Guten verändert hat.
Dennoch, trotz aller damit verbundenen Sorgen und trotz aller jetzt notwendigen Fragen an uns selbst: Freie Wahlen sind und bleiben eine der wichtigsten Grundlagen einer lebendigen Demokratie. Die Konstituierung des durch diese Wahlen legitimierten Parlaments ist und bleibt nicht nur ein wichtiges, weil zukunftsrelevantes Ereignis im Leben des demokratischen Gemeinwesens, sondern immer auch ein hohes Fest der Freiheit. Denn: Wie nachdrücklicher und zugleich friedlicher als durch regelmäßige freie Wahlen können die Bürger die Politik auf entstandene Handlungs- und/oder Vermittlungsdefizite hinweisen und Veränderungen einfordern? Und wie besser als durch Wahlen und sich daraus womöglich ergebende Politikwechsel oder Politikkorrekturen können zwanglos eingefahrene Gleise verlassen, neue Horizonte und neue Handlungsspielräume erschlossen, wildwuchsartige, möglicherweise transparenz- und vertrauensschädigende Bypässe in Legislative und Exekutive stillgelegt und lieb gewordene, aber sach- und demokratiefremde Gewohnheiten der politischen Akteure verändert werden?
Demokratie erzeugt mit dem Instrument freier Wahlen immer wieder neue Gedanken und Ideen, formuliert neue Ziele, steckt neue Lösungswege ab und entwickelt neue Kompetenzen. Diese Flexibilität ist ihre singuläre Stärke.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Stärke wird die freiheitliche Bürgergesellschaft bei der Gestaltung ihrer Zukunft noch dringend brauchen. Denn – darüber sollten wir uns nach den weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre keine Illusionen machen –: Das
Ende der Geschichte mit ein für alle Mal geordneten, konfliktfreien, womöglich gar paradiesischen Zuständen, wie es immer wieder, zuletzt 1989/90 nach dem Ende der politischen Bipolarität der Welt von einigen Feuilletonisten und auch Wissenschaftlern euphorisch vorausgesagt wurde, wird nie erreicht werden.
Ganz im Gegenteil – insbesondere die wissenschaftliche und technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte führte und führt weiter zu einem atemberaubend schnellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in fast allen Regionen dieser Erde und stellt damit die westlichen Zivilgesellschaften vor ihre größte Herausforderung seit der Erfindung der Dampfmaschine und des mechanischen Webstuhls. Denn dieser vielschichtige irreversible Strukturwandel, für den sich der Begriff „Globalisierung“ eingebürgert hat, birgt für das demokratische Gemeinwesen keineswegs nur die oft zitierten grandiosen Zukunftschancen, sondern durchaus auch ernst zu nehmende neue Konfliktpotenziale und damit Risiken.
Gesine Schwan hat bereits vor sieben Jahren in ihrem Buch „Politik und Schuld – Die zerstörerische Macht des Schweigens“ auf die scheinbare Paradoxie hingewiesen, dass sich die Demokratie ausgerechnet nach dem Scheitern des Kommunismus mit wachsenden Problemen konfrontiert sieht. Neben der überall grassierenden Massenarbeitslosigkeit, für die bisher keine allgemeine Lösungsstrategie in Sicht ist, benennt sie als wesentliche Ursache dafür die mit der Globalisierung einhergehende stete Vergrößerung und Unübersichtlichkeit politischer Räume, die immer mehr soziale Gruppen, kulturelle Traditionen, divergierende Interessenkomplexe und ökonomische Verflechtungen umfasse.
Die ungeheure Komplizität der aktuellen Entscheidungsgegenstände erfordert immer komplexere Beratungs- und Entscheidungsprozesse, die immer mehr in hoch spezialisierten Expertengremien stattfinden und die inzwischen für die von den Entscheidungen Betroffenen weitgehend undurchschaubar geworden sind. Gleichzeitig beobachten die Bürger mit Befremden, dass die Parteien zunehmend mit sich selbst beschäftigt scheinen und sich in kraft- und zeitraubenden, zum Teil unwürdigen Rangordnungskämpfen erschöpfen, statt sich dort, wo es notwendig ist, auch gemeinsam, also parteiübergreifend, den drängenden Problemen der Gesellschaft zu stellen. Dies wiederum führt zu einer allgemeinen psychischen Verunsicherung der Bürger, die sich nicht mehr geborgen, sondern vom Staat und den politischen Institutionen allein gelassen und sogar hintergangen fühlen, und es führt zur zunehmenden Entfremdung von Bürgern und Politik. Die Weigerung, sich politisch zu engagieren, Wahlabstinenz und Rückzug auf eng begrenzte private Ariale, die so genannte Politikverdrossenheit, sind die logische Folge.
Schlimmer noch: Resignation, Angst, dumpfe Vorurteile aller Art und Aggressionen breiten sich aus, von der Geschichte längst widerlegte obskure Heilslehren politischer Scharlatane finden zunehmend Anhänger. Dies aber kann für die Zivilgesellschaft nicht erwünscht sein, denn sie bedarf zu ihrem Funktionieren und Gedeihen unbedingt der Teilhabe und des Engagements möglichst vieler ihrer Bürger.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser Situation sind alle Demokraten dieses Landes zum Nachdenken und zum Handeln aufgefordert. Was ist also zu tun? Eine möglichst breite politische, wirtschaftliche, soziale, historische und kulturelle Allgemeinbildung der Bürger als Schlüssel zum Verständnis des Wesens und der Vorzüge der Demokratie ist sicherlich eine conditio sine qua non und hier können unsere Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen trotz mancher bereits bestehender guter Ansätze sicherlich noch einiges tun.
Ebenso wichtig scheint mir, die vielfältigen Bürgerinitiativen, die sich vielerorts für Demokratie, Kultur und Bildung engagieren, stärker als bisher ideell und auch materiell zu unterstützen.
Zugleich müssen wir kontinuierlich daran arbeiten, die Demokratie durch die Veränderung von Strukturen und Prozessen weiter zu entwickeln und so lebendiger und attraktiver für alle zu machen. Entscheidend aber ist – so denke ich – die Besinnung der politischen Akteure selbst auf einige wichtige alte Bürgertugenden. Die politischen Prozesse und Entscheidungen müssen wieder transparenter und für den Einzelnen nachvollziehbarer werden. Die Politik insgesamt muss glaubwürdig bleiben. Mündige Bürger wollen nicht mit den von Marketingstrategen, Medienberatern und Kommunikationstrainern produzierten wohlklingenden Worthülsen überschüttet werden, sie wollen nicht Zeugen endloser taktischer Spielchen sein, sondern sie wollen den offenen und fairen Wettbewerb der Ideen und Zielvorstellungen. Sie wollen die ungeschminkte Wahrheit wissen, auch wenn diese manchmal Besorgnis erregend ist. Die Menschen wollen sich ernst genommen fühlen sowohl mit ihren Sorgen und Nöten als auch mit ihren Anregungen und Vorschlägen. Sie wollen verstehen können, warum konkrete politische Entscheidungen schließlich so und nicht anders getroffen wurden.
Die wichtigste Voraussetzung für Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit ist die Erkennbarkeit einer klar begründeten politischen Linie und der Mut, diese Linie auch unter widrigen Umständen zu verteidigen.
Meinungsumfragen sind sicher ein wichtiges Werkzeug für den Politiker, aber er sollte sich von deren Ergebnissen nicht zu Populismus und Beliebigkeit verleiten lassen. Dies erfordert einen zuverlässigen inneren Kompass. Für viele von uns ist dieser Kompass der christliche oder auch jüdische Glaube. Für andere mag es der Kant'sche kategorische Imperativ sein, eine gesellschaftliche Vision, das Gewissen oder anderes. Aber wir brauchen einen solchen Kompass, und auf diesen Kompass müssen wir wieder mehr als bisher achten.
Meine Damen und Herren! Leider gibt es in diesem Lande einige Leute, die glauben, in der gegenwärtigen Situation ihr demokratieund verfassungsfeindliches Süppchen kochen zu dürfen, und die den Menschen einreden wollen, dass die freiheitliche Bürgergesellschaft
grundsätzlich versagt habe und „abgewickelt“ – so ist ihre Redeweise – gehöre. Doch wir wissen, wohin das führt. Wir wissen dies aus der deutschen Geschichte. Wir wissen, welches millionenfache Leid diktatorische Staatsformen über die Länder dieser Welt und auch über Deutschland gebracht haben. Wir wissen aber auch, dass es unzählige Menschen gab, die auch in dunkelster Zeit ihren Kompass und ihre Würde nicht aufgegeben haben. Sie widerstanden der Diktatur, oft genug um den Preis ihres Lebens. Ich kann nur ganz wenige von vielen Tausenden Namen beispielhaft nennen:
Jesuitenpater Alfred Delp, Mitglied des Kreisauer Widerstandskreises, erhängt im Zuchthaus Plötzensee am 1. Februar 1945;
das Bildhauerehepaar Elisabeth und Kurt Schumacher, Mitglieder der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“, gestorben auf dem Schafott ebenfalls in Plötzensee am 22. Dezember 1942;
den Oberleutnant der Luftwaffe Harro Schulze-Boysen und seine Frau Libertas, hingerichtet am 22. Dezember 1942 in Plötzensee.
Ich erwähne auch einige Abgeordnete unseres Sächsischen Landtages, die ihren Einsatz für die Demokratie mit dem Tod bezahlen mussten:
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich könnte noch sehr, sehr lange fortfahren. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass besonders tragisch die Schicksale derer waren, die bereits im Nationalsozialismus mutig Widerstand geleistet hatten und nach Kriegsende in der damaligen sowjetisch besetzten Zone bzw. in der DDR ihre Forderung nach Freiheit und Demokratie mit dem Leben bezahlten, wie zum Beispiel der Student der Wirtschaftswissenschaften Herbert Belter, der in Moskau am 28. April 1951 erschossen wurde, oder der Student der Theologie Werner Ihmels, der zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde und am 25. Juni 1949 in Bautzen starb.
Die Vorstellungen dieser Frauen und Männer, der Besten unseres Volkes, von einer gerechten, friedlichen und freien Gesellschaft und ihr Mut, auch in aussichtslos scheinender Situation, sollte uns allen Vermächtnis und Mahnung sein, den Grundkonsens der Demokraten sorgsam zu bewahren und zu pflegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Alterspräsident hat sich selbstverständlich aller Bemerkungen zur zukünftigen konkreten Arbeit des Parlaments zu enthalten. Angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in diesem Lande rufe ich jedoch, bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, allen Feinden der Demokratie in diesem Lande zu: Täuschen Sie sich nicht! Freiheit der Gedanken ist kein Zeichen für Schwäche! Toleranz und Fairness im Wettbewerb um die besten Antworten auf die Herausforderungen der Zeit, auch in diesem Haus, sind keine Dummheit! Im Gegenteil, die Demokratie ist die einzige Gesellschaftsform, die dem Menschen Würde
In diesem Sinne wünsche ich den Abgeordneten der demokratischen Parteien für die bevorstehende Legislaturperiode fünf Jahre guter konstruktiver Zusammenarbeit und die dazu sicher erforderliche körperliche und geistige Kraft.
Dem 4. Sächsischen Landtag wünsche ich von Herzen Weisheit, Stärke und jeden Erfolg zum Wohle unseres Landes und all seiner Bürgerinnen und Bürger.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Vorpräsidium bestand Einvernehmen zwischen allen Fraktionen, dass in der heutigen konstituierenden Sitzung analog der Geschäftsordnung des 3. Sächsischen Landtages so lange verfahren wird, bis, wie unter Tagesordnungspunkt 3 vorgesehen, der 4. Landtag eine neue Geschäftsordnung beschlossen hat.
Damit es keine Verwirrung gibt: Diese analoge Anwendung stellt keinen Beschluss über die neue Geschäftsordnung dar; dieser Beschluss einschließlich selbstverständlich vorhergehender Beratung findet erst unter Tagesordnungspunkt 3 statt.
Analog § 2 Abs. 2 Satz 1 der alten Geschäftsordnung benenne ich daher aus den Reihen der Mitglieder des Hohen Hauses folgende fünf Abgeordnete zu vorläufigen Schriftführern: Herrn Kollegen Colditz, Frau Nicolaus, Frau Dr. Raatz, Frau Bonk und Frau Roth. Ich bitte zunächst die Abgeordneten Frau Nicolaus und Frau Bonk rechts und links von mir Platz zu nehmen.