Protocol of the Session on October 29, 2020

Selten haben sich Menschen so intensiv mit Fragen der Wissenschaft auseinandergesetzt, mit medizinischen Studien und damit, wie sie funktionieren, mit den Aussagen von Virologinnen und Virologen und mit statistischen Phänomenen.

(Beifall Dr. Kai Dolgner [SPD])

- Sehr zur Freude vom Kollegen Dolgner.

(Heiterkeit)

Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts werden wieder täglich mit großer Sorge verfolgt, und gespannt schaut der eine oder die andere auf die Zahl der neuen Ansteckungsfälle pro sieben Tage: Steigen sie über 35 oder über 50 oder mittlerweile noch deutlich mehr? - Man sieht, dass ich diesen Teil meiner Rede vor ungefähr vier Tagen geschrieben habe. Es hat sich alles schnell entwickelt. Es ist jetzt schon fast absurd, von den 35er-Zahlen zu sprechen.

Doch können wir uns häufig wenig unter den abstrakten Zahlen vorstellen. In meinem Dorf wäre bei einer Inzidenz von 50 statistisch gesehen ein

Mensch infiziert, in Quickborn zehn. Das klingt erst einmal nicht viel. Wenn man aber davon ausgeht, dass die zehn schon andere angesteckt haben und das nicht mehr nachverfolgt werden kann, dann wird es eben doch viel. Rein rechnerisch steht Quickborn nur ein Intensivbett in Elmshorn zur Verfügung. Insofern muss man sich manchmal wirklich klarmachen, was es bedeutet.

Natürlich sind Zahlen nur Anhaltspunkte. Was fließt wo in die Statistik ein, zum Beispiel bei den Todeszahlen? In Brüssel zum Beispiel wurden sämtliche Menschen, die im Pflegeheim gestorben sind, wenn es dort einen Ausbruch gab, auch als Todesfälle mit Ursache Covid-19 gezählt. Insofern muss man gucken: Wie viel wurde getestet? Was bedeutet der R-Faktor wirklich?

Zweiflerinnen und Zweifler versuchen, deutlich zu machen, dass uns die Wissenschaft anlügt und die Zahlen nicht stimmten. Es geht hier aber nicht einfach um Zahlen, sondern um Infizierte, Erkrankte und Verstorbene. Es geht um Menschen.

Mich persönlich prägen die Bilder aus Norditalien oder New York, wo ein Kliniksystem und perverserweise sogar ein Begräbnissystem kollabierte. Mich prägen die Interviews mit Menschen, die als Infizierte oder Pflegende die erste Welle und jetzt die zweite Welle miterleben, und mit den Pflegenden, die sich selbst infiziert haben. Es gibt Interviews mit Menschen, die jetzt zum ersten Mal sagen mussten: Wir haben zum ersten Mal in einer Klinik in Deutschland einen Patienten abweisen müssen und an eine andere Klinik verlegen müssen, weil wir die Kapazität nicht mehr haben. Da sind mir die R-, K- oder I-Werte dann herzlich egal. Corona ist eben nicht die jährliche Grippe, sondern eine weltweite, gefährliche Pandemie. Wer das infrage stellt, gefährdet das Gemeinwohl.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU, FDP und Bernd Heinemann [SPD])

Unter denjenigen, die sich zumindest in dieser Frage einig sind, gibt es einen regen Austausch über die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen. Das wäre der zweite Punkt: Welche Maßnahmen sind zumutbar und welche nicht? Dieser Diskurs ist gut. Wir leben nämlich in einer Demokratie, und im Gegensatz zu denen, die meinen, das werde alles nur in Hinterzimmern entschieden, sage ich: Nein, die Maßnahmen werden öffentlich und in den Medien diskutiert, und das ist gut so. Sie werden auch von Gerichten überprüft - manchmal zur Freude, manchmal zur weniger großen Freude der Politik. Aber auch das ist gut so. Wir leben in einem Rechtsstaat,

(Eka von Kalben)

und es ist gut, dass die Gerichte die Entscheidungen kontrollieren. Seit gestern haben wir nun einen neuen Maßnahmenkatalog, einen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz, der in Schleswig-Holstein umgesetzt werden wird.

Lassen Sie mich unabhängig von den einzelnen Maßnahmen etwas sagen: Das verrückte an den Coronamaßnahmen ist ein typisches Paradoxon, was wir auch schon an anderer Stelle kennengelernt haben, nämlich der gleichzeitige Wunsch nach möglichst viel Einheitlichkeit und Individualität.

Zum einen wünschen sich die Menschen Einheitlichkeit, um die Maßnahmen überhaupt zu verstehen: Mit wie vielen Leuten und Haushalten darf ich mich in Hamburg treffen und mit wie vielen in Pinneberg? - Alle Menschen am Hamburger Rand wissen, dass man Freunde und Verwandte auf der anderen Seite hat.

(Martin Habersaat [SPD]: „Auf der anderen Seite“! - Heiterkeit SPD)

Die finden diese Uneinheitlichkeit schon sehr nervig, wenn man sich zum Beispiel im Wald trifft.

Deshalb wurde der Auftritt der Bundesländer bisher auch als sehr chaotisch wahrgenommen. Selbst wenn Beschlüsse gefasst wurden, wurden sie an verschiedenen Stellen wieder infrage gestellt. Es gab einen Wettbewerb der Länder sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Das ist alles andere als hilfreich.

Andererseits gibt es auch einen Wunsch nach Individualität, weil es für die Bürgerinnen und Bürger vollkommen unverständlich ist, wenn in Nordfriesland oder in der Altmark, wo es niedrige Inzidenzen gibt, die gleichen Beschränkungen gelten wie in Hotspots in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Bayern. Mittlerweile sind diese Hotspots natürlich sehr viel mehr geworden.

Meiner Meinung nach ist dieses Paradoxon nur damit zu lösen, dass wir zwar nicht unbedingt einheitliche Maßnahmen brauchen, aber einheitliche Kriterien. Das hätten wir uns auch vom Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz gewünscht. Im Grunde war das, was wir uns hier im Land mit den 35erund 50er-Maßnahmen vorgenommen hatten, genau das, was wir uns für eine bundeseinheitliche Linie gewünscht hätten.

Ich glaube, Herr Koch hat die sehr schwierige Lage auch bei uns im Land eben sehr eindringlich dargestellt. Da ist immer die Frage: Wie eindringlich stellt man das dar? Macht es mehr Angst oder nicht? - Ich finde es wichtig, den Menschen zu sa

gen: Wir sind in einer schwierigen Lage. Deshalb ist es gut, dass wir an dieser Stelle jetzt einmal diesen Weg mit diesen schwierigen vier Wochen gehen.

Meine dringende Bitte auch an Sie ist: Nutzen wir diese Zeit, diese vier Wochen, um jetzt wirklich eine Langfriststrategie zu suchen, die auf Inzidenzen beruht und wo wir dann an bestimmten Punkten sagen können: Hier muss jetzt ein Lockdown sein und in anderen Bereichen, wo bessere Werte vorliegen, nicht.

(Beifall Burkhard Peters [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Die Bekämpfung der Pandemie erzeugt viele Risiken und Nebenwirkungen, und zwar nicht nur wirtschaftlicher Art. Existenznöte, Einsamkeit, Zukunftssorgen, das Tragen von Masken und die Distanz, die wir eingehen - das alles macht auch etwas mit der Gesellschaft. Jemand sagte neulich, Zwinkern sei das neue Lächeln. Ich würde einmal sagen: Das klappt nur mäßig, und Ellenbogenpuffen ist auch kein Ersatz für eine Umarmung.

(Beifall Minister Dr. Bernd Buchholz)

Deshalb ist es so wichtig, dass wir immer wieder erklären, begründen und auch hinterfragen, welche Maßnahmen wirklich nötig sind.

Eines ist auch klar: Maßnahmen, die fehlerfrei sind, gibt es nicht. Maßnahmen, die alle akzeptieren, gibt es auch nicht. Und Maßnahmen, die für jeden Einzelfall befriedigend sind, wird es vermutlich auch nicht geben. Auch bei dem, was jetzt errungen wurde, wird es immer wieder Unlogiken geben, es wird immer wieder Beispiele geben, aber wir können eben nicht für jeden Einzelfall und jedes Beispiel Verordnungen erlassen - oder: die Landesregierung kann das nicht -, sondern es gibt eben allgemein verbindliche.

Zur Frage des Beherbergungsverbots, des Schließens der Gastronomie sowie aller Freizeiteinrichtungen möchte ich an dieser Stelle noch einmal erwähnen: Es geht hier auch nicht nur um die Gastronomie und die Hotels. Es geht darum, dass wir einen Monat lang den gesamten Kulturbetrieb schließen, der sich gerade wieder ein bisschen berappelt hat. Das ist eine ganz dramatische Maßnahme, insbesondere für alle die, die sich wirklich mit ausgeklügelten Hygienekonzepten auf den Weg gemacht haben.

Da helfen natürlich die großzügigen Angebote des Bundes, 75 % der Umsätze zu übernehmen. Ich bin

(Eka von Kalben)

immer noch der Meinung, dass das ein Tippfehler war, aber das werden wir sehen, wenn wir die Vorschläge des Bundes dazu haben. Bei aller Liebe: Ich kann nicht verstehen, dass man Umsätze unabhängig von den Kosten erstattet, aber egal, das werden wir sehen.

(Beifall FDP - Zuruf Beate Raudies [SPD])

Unabhängig davon gehe ich davon aus - Herr Günther hat eindeutig die Zusage von der Bundeskanzlerin bekommen, das hat er immer wieder betont -, dass es eine Erstattung geben wird, und zwar nicht nur für die Wirtschaft, was auch nötig ist, sondern auch für die Kultur und für die Vereine, die von diesen Maßnahmen massiv betroffen sein werden.

Deshalb unterstützen wir bei allen Bauchschmerzen und allen Schwierigkeiten den Weg der MPK. Dass die Länder sich nicht einigen konnten, die Feiern im privaten Rahmen - Herr Günther, das muss ich leider doch noch erwähnen - zu beschränken, ist allerdings schon sehr, sehr ärgerlich. Gerade diese Feierlichkeiten haben wesentlich zur zweiten Welle beigetragen. Deshalb ist es wirklich ätzend, dass wir uns zwar solidarisch zeigen und auch umsetzen, was nötig ist, aber einige Länder bisher die wahren Ansteckungsherde nicht so stark beschränken wie wir. Ich erwarte von allen Bundesländern - Herr Koch, da spielt, ehrlich gesagt, die politische Farbe keine große Rolle, und ich finde, die sollten wir in dieser Debatte auch nicht so breittreten -, dass auch an dieser Stelle klare Vorgaben gemacht werden. Nur auf Freiwilligkeit zu setzen und zu sagen, es sei besser, nicht mit 50 Leuten zu feiern, halte ich an dieser Stelle für zu wenig.

Manche Virologinnen und Virologen und andere Berufene fordern, die Strategie zur Bekämpfung des Virus zu ändern - weg von den Begriffen wie Containment und Flatten the Curve und solchen Sachen hin zur Strategie der Protection. Das heißt also de facto weniger Beschränkungen für diejenigen, bei denen die Krankheitsverläufe vermutlich - zumindest statistisch - nicht so schlimm verlaufen, also für die Jungen und Gesunden, und dafür mehr Kapazitäten - finanziell und auch in Form von Testressourcen - für diejenigen, die geschützt werden müssen, weil sie eine höhere Wahrscheinlichkeit für schwere Verläufe haben. Das klingt effizient: weniger Einschränkungen, weniger Wirtschaftsflaute und vielleicht eine schnellere Durchseuchung und damit ein schnelleres Ende des Dramas. Aber ist das wirklich so einfach? Was ist mit den Menschen, die sich um die sogenannten vulnerablen Gruppen kümmern? Die Pflegenden? Auch die müssten massiv isoliert werden, auch die,

die in häuslicher Pflege ihre Angehörigen betreuen. Was bedeutet es denn für die Teilhabe von Menschen mit Vorerkrankungen und alten Menschen? Getrennt einkaufen, kein Treffen mit denjenigen, die einen sorglosen Umgang mit dem Virus haben? - Isolation und Vereinsamung! Was ist mit denen, die zwar keine anerkannte Vorerkrankung, aber trotzdem Angst haben? Können wir dann noch die Aufgaben garantieren, die nötig sind? In der Schule, in der Kita, im Gesundheitswesen? Im sonstigen öffentlichen Dienst, aber auch in der Privatwirtschaft? Und woher wollen wir wissen, dass die Jungen und Gesunden das Virus ohne Spätfolgen überstehen, dass sie überleben?

(Beifall Werner Kalinka [CDU])

Denn auch dafür gibt es genügend traurige Gegenbeispiele. Ich habe bereits gesagt, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie, wie sie jetzt vorgenommen werden, Risiken und Nebenwirkungen hatten und haben. Vermutlich werden nicht nur heute, sondern auch zukünftig viele Menschen aufrechnen, was sinnvoll war und was nicht. Aber wie sollen wir denn vermiedene Tote und vermiedene Erkrankungen gegenrechnen? - Das ist doch absurd: Wir sind deshalb in einer relativ guten Lage, weil wir in Deutschland und in Schleswig-Holstein gute Maßnahmen ergriffen haben. Deshalb ist das von denjenigen, die die Maßnahmen kritisieren, eine falsche Rechnung.

Es gibt keine einfachen Antworten, deshalb müssen wir immer wieder bereit sein, Erkenntnisse zu überprüfen, zu revidieren und neue Entscheidungen zu treffen. Auch dabei hilft die Debatte im Parlament. Es hilft die Debatte in der Öffentlichkeit, in den Medien, zwischen Expertinnen und Experten mit der Bevölkerung in den sozialen Netzen. Es hilft viel Transparenz. Deshalb sollten wir als Parlament zum Beispiel auch überlegen, ob wir nicht die Expertinnen und Experten, die die Regierung beraten, auch in den Landtag einladen, in einen unserer Ausschüsse, damit dem Eindruck, einige wenige fällten unüberlegte Entscheidungen, etwas entgegengestellt werden kann.

Manche Menschen haben mehr Angst vor den Folgen der Maßnahmen, der Wirtschaftskrise, den psychischen Folgen als vor der Krankheit selbst.

(Dr. Frank Brodehl [fraktionslos]: Ja!)

Viele Menschen sorgen sich darum, wie lang die Pandemie noch andauern wird. Aber es gibt eben auch viel Hoffnung im Land: die Möglichkeiten von Tests, die Aussicht auf einen wirksamen Impfstoff und auch durch das Wissen, dass vergangene

(Eka von Kalben)

Pandemien wie die Pest und die Spanische Grippe auch vorbeigegangen sind - und das zu Zeiten, in denen die Menschen noch nicht über das Wissen und die medizinischen Möglichkeiten von heute, im 21. Jahrhundert, verfügt haben.

Wenn wir diese Pandemie überstanden haben werden, werden uns positive Veränderungen bleiben: mehr Sensibilität für unfaire Arbeitsbedingungen, ob in der Pflege, bei den Erntehelferinnen und -helfern oder in der Fleischindustrie, mehr Interesse und Anerkennung von Forschung und Wissenschaft aus der breiten Bevölkerung, luftigere Arbeitsräume und Schulräume und die stärkere Beachtung einfacher Hygieneverhaltensregeln. Hände waschen und Niesetikette helfen nämlich nicht nur gegen Covid-19. Mehr Digitalisierung ist gut für die Teilhabe von Menschen im ländlichen Raum und fürs Klima.

Als letzter, vielleicht wichtigster Punkt: Wir werden nach den vier Wochen und insgesamt nach der Pandemie eine ganz andere Wertschätzung für Gemeinsamkeit und Gemeinschaft haben - in Familie, Kultur, im Sport oder im Gottesdienst.

(Jörg Nobis [fraktionslos]: Mehr Schulden werden wir auch haben!)

Ich bin sehr froh darüber, wie gut wir in SchleswigHolstein die Coronakrise bisher gemeistert haben. Ich hoffe, dass es uns auch weiterhin gelingt, zum einen, indem wir möglichst gute Maßnahmen beschließen, und zum anderen, indem wir unsere Entscheidungen transparent und für alle Menschen in Schleswig-Holstein verständlich kommunizieren; denn wir brauchen die Akzeptanz der Bevölkerung, um diese Krise zu überstehen. Wir sind nicht hilflos. Das ist gut. Wir haben es selbst in der Hand. Vielen Dank.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU, SPD und FDP)