Protocol of the Session on October 29, 2020

(Zurufe)

- Auch das. Und jetzt kommt mit dem Lockdown in Frankreich alles zusammen. Bei solch harten Maßnahmen haben wir es mit einer ganz anderen Dimension zu tun als mit dem, was wir heute diskutieren. Damit wir solche Ausgangssperren in Deutschland hoffentlich nie erleben, müssen wir jetzt schnell und entschieden gegensteuern. Sonst sind wir in ein paar Wochen genau dort, wo Frankreich, Spanien und die Niederlande bereits heute angelangt sind.

(Vereinzelter Beifall CDU)

Meine Damen und Herren, seit Beginn der Coronakrise versuchen Bund und Länder, die damit verbundenen finanziellen Folgen für die Menschen, für Arbeitnehmer und Betriebe, so gut es geht, auszugleichen. Die dafür eingesetzten finanziellen Mittel liegen bereits jetzt im dreistelligen Milliardenbereich. Das zieht einen sprunghaften, massiven Anstieg der Staatsverschuldung nach sich.

Meine größte Sorge bleibt, dass sich das bei einem erneuten Lockdown nicht beliebig wiederholen lassen würde, weil auch die Finanzierungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand begrenzt sind. Dass der Bund nach dem gestrigen Beschluss nun für alle

Unternehmen, für Selbstständige, Vereine und Einrichtungen, die temporär geschlossen werden, einen finanziellen Ausgleich von 75 % des Umsatzes vornimmt, hätte ich im Vorfeld nicht für möglich gehalten.

(Beifall CDU - Jörg Nobis [fraktionslos]: Das sind doch auch die Schulden von mor- gen!)

Auch wenn der Ausgleich für die größeren Betriebe mit mehr als 50 Mitarbeitern nur bei 60 bis 75 % liegen sollte, auch diese Prozentsätze beziehen sich auf den Umsatz und nicht auf Kosten oder Gewinn. 75 %, 60 % des Umsatzes - ich bin mir sicher, dass es den allermeisten betroffenen Restaurants, Hotels, Kinos, Freizeiteinrichtungen, Fitnessstudios, Massagepraxen mit dieser Regelung am Ende finanziell besser gehen wird, als es ohne Lockdown im November der Fall gewesen wäre.

Meine Damen und Herren, wie groß die finanziellen Anstrengungen zur Bewältigung der Coronapandemie sind, zeigt auch der Beschluss über das Notkreditprogramm von 4,5 Milliarden € für unser Bundesland, den wir am morgigen Freitag treffen werden. Diesen Kraftakt zur Bewältigung der Coronakrise macht ein historischer Schulterschluss zwischen Regierung und Opposition möglich.

Es ist die Schuldenbremse in unserer Landesverfassung, die uns zu einer Zweidrittelmehrheit für diese Notkreditaufnahme zwingt, und das ist gut so. Das zeigt, wie sinnvoll die Schuldenbremse auch jetzt in der Krise ist. Lieber Lars Harms, danke für deinen damaligen Vorschlag, als wir diese Verfassungsänderung vorgenommen haben.

(Zurufe)

- Der Vorschlag kam damals vom Kollegen Lars Harms, als wir die Verfassung 2010 geändert haben. Der Vorschlag, in Notlagen mit Zweidrittelmehrheit Ausnahmen zu beschließen, kam tatsächlich vom SSW.

(Vereinzelter Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Ganz anders ist dagegen die Situation in Hessen: In Hessen klagt die Opposition vor dem Staatsgerichtshof gegen das Corona-Sondervermögen der Landesregierung. Ein derartiger Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang ist mitten in der Krise das Allerletzte, was man gebrauchen kann. Deshalb lässt sich gar nicht hoch genug wertschätzen und würdigen, dass wir in Schleswig-Holstein gemeinsam einen anderen Weg gehen.

(Tobias Koch)

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir für die Menschen bei uns im Land das Beste erreichen, indem wir uns verständigt haben, dass wir gemeinsam Verantwortung für die Bewältigung der Krise übernehmen. Wir geben damit Sicherheit, wir lindern Notlagen, und wir bekämpfen die Wirtschaftskrise, indem wir Investitionen absichern und weitere Investitionen auf den Weg bringen.

(Vereinzelter Beifall CDU)

Meine Damen und Herren, so sehr man bei dem Schulterschluss zwischen Regierung und Opposition zu Superlativen neigt, so sehr ist diese Vereinbarung in den letzten vier Wochen schon wieder ein Stück weit von der dynamischen Entwicklung, von der Realität, überholt worden. Die Zahlen des Notkreditprogramms basieren alle auf der SeptemberSteuerschätzung 2020, die für das kommende Jahr eine deutliche wirtschaftliche Erholung vorhergesagt hat. Ein erneuter Lockdown war dabei nicht vorgesehen. Jetzt steht zu befürchten, dass weitere Kreditaufnahmen erforderlich werden könnten. Umso wichtiger ist die Geschlossenheit, die wir hier gezeigt haben.

Meine Damen und Herren, noch viel schlimmer wäre es allerdings, wenn wir die Pandemie jetzt nicht in den Griff bekämen. Die finanziellen Folgen einer solchen Situation, wie wir sie in anderen europäischen Ländern bereits erleben, wären noch viel verheerender. Deshalb müssen wir auch aus finanziellen und wirtschaftlichen Gründen das ungebremste Infektionsgeschehen schnellstmöglich stoppen. Es ist fünf vor zwölf - allerdings nicht fünf Minuten vor zwölf, sondern fünf Sekunden vor zwölf.

Vor gerade einmal vier Wochen hatte die Bundeskanzlerin vor 19.200 Neuinfektionen pro Tag in der Weihnachtszeit gewarnt. Jetzt haben wir diese Größenordnung fast erreicht, und bis Weihnachten sind es noch zwei Monate hin. Wer in dieser Situation die Appelle der Bundeskanzlerin als Verzweiflungstat kritisiert, der hat die ganze Dramatik immer noch nicht begriffen. Wenn die Bundeskanzlerin etwas zur Verzweiflung treibt, ist es vermutlich ein solches politisches Agieren mitten in der Krise.

Angela Merkel war die ganze Zeit über immer am vorsichtigsten von allen. Angela Merkel hat stets genau vor der Entwicklung gewarnt, die wir jetzt erleben. Jedes Mal wurden ihre Vorschläge aber in der Ministerpräsidentenkonferenz abgeschwächt und ins Unverbindliche verwässert, sodass anschließend jedes Bundesland machen konnte, was es wollte.

Die Bundeskanzlerin wolle nicht rechthaberisch wirken, schrieb die „Bild“-Zeitung am Montag im Nachgang zur Videokonferenz der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden. Auch das spricht für Angela Merkel. Vielleicht sollten wir Männer einfach einmal eingestehen, dass sie die ganze Zeit über recht gehabt hat.

(Beifall CDU - Beate Raudies [SPD]: Ja, es ist immer gut, wenn Männer auf Frauen hö- ren!)

Was haben wir stattdessen erlebt? - Vor zwei Wochen verkündete Nordrhein-Westfalen „harte“ Maßnahmen; private Feiern im öffentlichen Bereich wurden auf maximal 50 Teilnehmer begrenzt. Bis Ende Oktober 2020 blieben allerdings Feiern mit bis zu 150 Personen zulässig, wenn diese vor dem 10. Oktober 2020 angemeldet worden waren.

Bei uns in Schleswig-Holstein waren private Feiern in geschlossen Räumen mit mehr als 50 Personen während der gesamten Coronakrise zu keinem einzigen Zeitpunkt zugelassen. Musste das in Nordrhein-Westfalen wirklich sein?

(Jörg Nobis [fraktionslos]: Fragen Sie Herrn Laschet!)

Noch schlimmer war die Situation allerdings in Berlin. Dort titelte die „Berliner Zeitung“ am 1. September 2020: „Berlin verschärft Corona-Regeln für private Feiern“. Worin bestand diese „Verschärfung“? Ab einer Teilnehmerzahl von 50 Personen wurde ein Hygienekonzept gefordert. Da fasst man sich wirklich an den Kopf! Ein Hygienekonzept musste in Schleswig-Holstein bei Feiern bis zu 50 Personen vorgelegt werden und nicht erst darüber hinaus. Für die Teilnehmerzahl von privaten Feiern galt in Berlin auch nach dieser „Verschärfung“ die Obergrenze von 750 Teilnehmern in geschlossen und von sage und schreibe 5.000 Teilnehmern in offenen Räumen. Wer bitte schön braucht in Coronazeiten private Feiern mit 5.000 Teilnehmern? Was hat sich Rot-Rot-Grün in Berlin bloß dabei gedacht, welchen Großfamilien wollte man damit Rechnung tragen? Dann darf man sich anschließend nicht wundern, wenn die Infektionszahlen steigen und Berliner Stadtteile zu Hotspots werden.

(Jörg Nobis [fraktionslos]: Türkische Hoch- zeiten! - Unruhe)

Wenn wir in Schleswig-Holstein Quarantänemaßnahmen für Touristen aus Berlin einführen wollen, führt das zu öffentlichen Diskussionen, nur weil davon möglicherweise auch Robert Habeck betroffen

(Tobias Koch)

gewesen wäre. Für diese Diskussionen hatte ich schon damals überhaupt kein Verständnis.

Schleswig-Holstein gehört zu den drei Bundesländern mit dem niedrigsten Infektionsgeschehen. Gleichzeitig ist unser Regelwerk eines der strengsten der ganzen Republik. Das ist doch kein Zufall, das hängt doch miteinander zusammen!

Wir haben in den letzten Monaten im Land eine ganze Menge richtig gemacht; darauf können wir stolz sein. An dieser Vorgehensweise sollten wir deshalb weiter festhalten.

Wenn wir heute dennoch von einem bundesweiten Lockdown betroffen werden und darunter zu leiden haben, erscheint uns das allen verständlicherweise ein Stück weit ungerecht. Deshalb müssen die politischen Verantwortlichkeiten dafür klar benannt werden. Ich fand es tatsächlich schwer erträglich, dass es gestern ausgerechnet der Regierende Bürgermeister von Berlin war, der die Entscheidung mit der Bundeskanzlerin zusammen verkünden konnte. Man kann natürlich auch sagen: Es hat genau den Richtigen getroffen.

Was wir an verantwortungslosen und übertriebenen Lockerungsmaßnahmen in der Sommerzeit in anderen Bundesländern erlebt haben, darf sich nicht wiederholen. Wenn diese Lehre nicht gezogen wird, stehen wir auch nach dem Lockdown im November 2020 in ein paar Monaten wieder an der gleichen Stelle wie heute.

(Zuruf Jörg Nobis [fraktionslos])

Das große Plus der gestrigen Einigung ist die Einstimmigkeit der Entscheidung.

(Beifall CDU und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum ersten Mal haben sich alle Bundesländer gemeinsam auf dieses Handeln verständigt. Das mag uns - wie gesagt - in Schleswig-Holstein ein Stück weit ungerecht erscheinen, weil die Maßnahmen angesichts unserer vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen teilweise unverhältnismäßig hart ausfallen. Aber gerade wir in Schleswig-Holstein haben in der Vergangenheit immer wieder über den Flickenteppich der unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern geklagt. Wir haben immer für möglichst einheitliche Regelungen im Bundesgebiet gestanden. Allein das ist schon ein großer Wert der gestrigen Einigung. Ich will hoffen, dass alle 16 Landesregierungen diese Entscheidung wirklich umsetzen und nicht wieder alle möglichen Ausnahmen einbauen.

In Schleswig-Holstein sind wir da immer mit gutem Beispiel vorangegangen: Sperrstunden in der Gastronomie, begrenzte Teilnehmerzahl für private Feiern, ausgeweitete Maskenpflicht, reduzierte Veranstaltungsgrößen, Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum. All das haben wir nach der letzten Ministerpräsidentenkonferenz Mitte Oktober umgehend beschlossen und zusätzlich noch eine Maskenpflicht im Schulunterricht eingeführt.

Wenn sich schon damals alle Bundesländer auf ein Testgebot vor touristischen Hotelübernachtungen verständigt und es umgesetzt hätten, hätte das nicht nur vor Gericht eine größere Überzeugungskraft entfaltet, sondern dann wäre uns vielleicht auch das touristische Beherbergungsverbot erspart geblieben, so wie es jetzt tatsächlich kommen wird. Der Herr Oppositionsführer hat die damalige Regelung kritisiert und einfache und leicht verständliche Regelungen gefordert.

Die Auflage, sich einmal testen zu lassen, bevor man in Urlaub fährt, war eine einfache und leicht verständliche Regelung. Da gibt es überhaupt keinen Grund, sich zu freuen, dass es letzte Woche gekippt wurde, denn schon da war klar: Alles, was anschließend an Regeln kommen würde, würde nur noch schärfer sein und das Hotelgewerbe noch härter treffen. So ist es nun leider gekommen.

Am Ende kommt es bei allen Regeln aber immer darauf an, dass sich die Bevölkerung selbst so verantwortungsbewusst wie möglich verhält. Wir brauchen jetzt Vernunft und Zusammenhalt unserer ganzen Gesellschaft, um diese dramatische Lage zu meistern. Die diesbezüglichen Appelle der Bundeskanzlerin und des Ministerpräsidenten sind deshalb absolut richtig. Nicht die Politik allein, sondern nur wir zusammen können diese Krise meistern. Dafür brauchen wir Akzeptanz und Vertrauen. Als Politik sollten wir gemeinsam werben, denn nur so wird es uns gelingen, die Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen. - Herzlichen Dank.

(Beifall CDU, vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Das Wort hat die Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Abgeordnete Eka von Kalben.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir blicken mit Sorge auf das Ende des Jahres, denn sie

(Tobias Koch)

kommt nicht überraschend und sie steht nicht mehr bevor, sondern sie ist da: die zweite Coronawelle. Eigentlich sind wir es leid, darüber zu diskutieren, und gleichzeitig tun wir es: in der Politik, am Frühstückstisch, auf dem Spielplatz, in der Schule, bei der Arbeit, überall und gefühlt von morgens bis abends.

Ich danke dem Ministerpräsidenten für seine eindringlichen Worte in der Regierungserklärung. Dank und Appell sind nötig, und sehr viele Menschen in diesem Land halten sich an Regeln und Appelle. Doch nimmt die Zahl der Kritikerinnen und Kritiker zu. Pandemiemüdigkeit breitet sich aus. Menschen haben Zweifel an den Maßnahmen, manche verstehen sie nicht, manche lehnen sie ab. Damit meine ich ausdrücklich nicht die Menschen, die das Virus beziehungsweise die Pandemie als eine Weltverschwörung ansehen. Fragen haben auch viele Menschen, die verstanden haben, dass Covid-19 eine gefährliche Krankheit ist und die solidarisch sein wollen. Unsere Aufgabe als Politik ist es, diese Fragen ernst zu nehmen, sie aufzugreifen und zu beantworten, die Zweifel ernst zu nehmen und abzuwägen.

Ich möchte gern drei Hauptdiskussionspunkte, auf die ich immer wieder treffe, ansprechen. Erstens: das Verstehen der Zahlen und Fakten. Zweitens: die Akzeptanz für die getroffenen Maßnahmen. Drittens: das Thema der Bürgerbeteiligung und der Beteiligung der Parlamente.

Selten haben sich Menschen so intensiv mit Fragen der Wissenschaft auseinandergesetzt, mit medizinischen Studien und damit, wie sie funktionieren, mit den Aussagen von Virologinnen und Virologen und mit statistischen Phänomenen.