Protocol of the Session on September 25, 2020

Wenn wir uns weigern, an die Menschen ein Preisschild zu heften, dann machen wir das aus derselben Grundhaltung heraus, die hinter Artikel 1 unseres Grundgesetzes steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. - Die Würde aller Menschen ist unantastbar!

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Das ist die Lehre, die wir Demokratinnen und Demokraten aus den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte gezogen haben. Diese Würde gilt übrigens für Menschen - egal, woher sie kommen, egal, wer ihre Eltern waren, egal, was immer der Umstand sein mag. Manche Menschen haben verdammt viel Glück, und andere haben es ganz schwer in ihrem Leben. Das hat mit der Würde überhaupt nichts zu tun. Die Würde steht übrigens

(Dr. Ralf Stegner)

selbst den Menschen zu, die wir mit der Entschiedenheit bekämpfen, wie wir das mit Ihnen tun. Das unterscheidet uns übrigens auch von Systemen, wie sie da wären, wenn Sie irgendetwas zu melden hätten.

Deswegen kann ich nur sagen: Wir wissen, dass in einem Land, das Sie gestalten könnten, ein solcher Artikel 1 nicht vorkäme. Es würde ihn niemals geben. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass Menschen wie Sie niemals Einfluss in diesem Land gewinnen können.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW, Tobias Koch [CDU], Heiner Rickers [CDU], Jörg Hansen [FDP] und Jan Marcus Rossa [FDP])

Der AfD geht es dann gut, wenn es vielen anderen schlecht geht. Das ist die einfache Wahrheit. Diese Partei lebt von Angst. Sie klammert sich an die Vergangenheit, sie trauert 2015 hinterher. Wenn Sie von der „Clique“ um Frau Merkel sprechen, sind das die Worte, die Adolf Hitler verwendet hat, um die Demokraten in der Weimarer Republik zu bezeichnen. Das ist Ihre Denke. Das ist Ihre Tradition. Und genauso argumentieren Sie heute, und wir merken das.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, SSW und vereinzelt CDU)

Das ist der zweite Grund, warum Sie solche Anfragen stellen: Sie wollen mit der Flüchtlingsthematik in die Verlängerung gehen. Sie wollen ein Thema skandalisieren, das kein Skandal ist. Ich kann nur sagen: Das, was Frau Merkel damals gemacht hat, hätte jeder sozialdemokratische Bundeskanzler auch getan - und alle anderen übrigens auch. Das war schlichtweg unsere humanitäre Pflicht, der wir nachgekommen sind. Nicht mehr und nicht weniger.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Ich will das sehr deutlich sagen - Frau Präsidentin, ich bemühe mich, höflich zu sein, aber es fällt mir sehr schwer -: Was Sie hier machen, das sind die rhetorischen Brandreden, denen die Brandsätze folgen, die wir von dem NSU und anderen kennen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Sie sind diejenigen, die der politische Arm rechter Gewalt und Bedrohung in Deutschland sind. Das wollen wir glasklar feststellen. Deswegen lassen wir Ihnen solche Sachen auch nicht durchgehen - nicht hier im Haus und nirgendwo sonst.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW - Zuruf Volker Schnurrbusch [AfD])

Flüchtlingsaufnahme ist humanitäre Pflicht. Wir mögen uns bei der konkreten Umsetzung unterscheiden, aber ich habe mich gestern bei der Debatte zu Moria über die grundsätzliche Einigkeit unter den demokratischen Fraktionen gefreut. Ich füge hinzu: Solche Worte wie „Abschiebepartnerschaft“ stammen aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Das ist nicht meine EU. Das hat mit EU-Werten nichts zu tun. Wir müssen da ehrlich gesagt schon zu anderen Begriffen kommen.

(Beifall SPD, SSW und Jan Marcus Rossa [FDP])

Ich weigere mich übrigens auch, mich auf das perfide Spiel der AfD um Kosten und Nutzen einzulassen. Werfen wir einmal einen Blick auf die Realität nach fünf Jahren. In relativ kurzer Zeit haben Menschen, die vor Gefahr, die vor Not, vor bitterer Armut nach Deutschland geflüchtet sind, hier Fuß gefasst. Ihr Zynismus mit Afrika ist wirklich kaum auszuhalten. Das ist Lärmbelästigung, wenn Sie hier solche Reden mit solchen Punkten halten. Es ist humanitäre Pflicht. Die Hälfte derer, die damals zu uns gekommen sind, hatte Anfang dieses Jahres einen Job gefunden. Ist das nicht großartig, wie viele Menschen sich integriert haben und wie viele Menschen hier helfen, dass das in Deutschland gelingt?

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Dennys Bornhöft [FDP])

Ich muss sagen: Wer es trotz aller Gefahren und Unwägbarkeiten, die nötig sind, um Deutschland als Flüchtling zu erreichen, hierhin schafft, hat gute Chancen, seinen Weg zu machen - trotz Sprachbarrieren, trotz der Dauerhetze von rechts, für die wirklich jeder persönliche Misserfolg ein Grund zum Frohlocken ist. Das Wort Rechtsstaat sollten Sie hier nicht in den Mund nehmen. Sie meinen mit Rechtsstaat einen rechten Staat, der die Grundwerte unterdrückt. Das ist aber nicht unser Staat. Wir wollen einen Rechtsstaat mit den Grundwerten unseres Grundgesetzes.

(Zurufe Volker Schnurrbusch [AfD] und Jörg Nobis [AfD])

Ich muss Ihnen sagen: Jenseits der humanitären Pflicht der Flüchtlingsaufnahme ist Zuwanderung für uns unverzichtbar. Ich habe vorhin eine Auflistung der Kosten pro AfD-Abgeordneten angeregt. Ich schlage jetzt eine zweite Rechnung vor, die mir

(Dr. Ralf Stegner)

sinnvoller erscheint als das, was Sie zu Papier gebracht haben: Lassen Sie uns einmal über die fiskalischen Lasten der ausbleibenden Zuwanderung sprechen. Fachkräftemangel ist schon heute ein Problem, das mir jeder zweite Arbeitgeber nennt, wenn ich im Land unterwegs bin.

(Zuruf Volker Schnurrbusch [AfD])

Wir beschäftigen uns immer wieder mit den dramatischen Folgen des demografischen Wandels für die Sozialsysteme. Es kann einem gefallen oder nicht, aber statistisch bekommt jede Frau in Europa 1,6 Kinder. Man muss nicht Kai Dolgner heißen, um zu berechnen, wo das über kurz oder lang hinführt. Dieser Kontinent hat ein gravierendes demografisches Problem: Wir überaltern, und zwar viel schneller als die Familienpolitik es ausgleichen könnte.

Ich will nicht über Bevölkerungspolitik reden, das ist nicht unser Thema. Es ist es gar nicht Wert, dass man Ihretwegen so viel Adrenalin ausschüttet, aber ich muss Ihnen ehrlich sagen: Es fällt mir schwer, es heute anders zu machen, weil man es kaum ertragen kann.

Ich will aber bewusst mit einem anderen Beispiel enden, dem Beispiel von Tarek, der 2014 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist und einer der Menschen ist, auf den die AfD mit ihrer Großen Anfrage abzielt. Sechs Jahre nach seiner Flucht studiert und arbeitet Tarek heute in Kiel. Er ist Landesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt meiner Partei. Er engagiert sich für andere. Er ist übrigens verletzt worden und hat erlebt, wie es seinem Vater ergangen ist.

Er erzählt anderen seine Geschichte, um Mut zu machen und hat es nach langem Weg durch den Behördendschungel in dieser Woche geschafft, eingebürgert zu werden.

(Lebhafter Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Wieviel ärmer wäre unser Land ohne solche Menschen! - Vielen herzlichen Dank.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich dem Abgeordneten Lasse Petersdotter das Wort.

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Ich darf heute in Vertretung der leider erkrankten Kollegin Touré sprechen, werde aber nicht nur den Redeentwurf verwenden, den ich erhalten habe, sondern auch das eine oder andere Wort selbst zur Debatte beitragen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die AfD im Kern ein großes Ziel hat, und das ist die Krise. Sie selber profitieren von der Krise, Sie wollen stets die Krise herbeiführen. Ihnen geht es am besten, wenn es anderen Menschen schlecht geht. Das ist Ihnen bewusst, es ist das Gründungsmoment Ihrer Partei.

(Barbara Ostmeier [CDU]: Ja!)

Es ist auch genau das Motiv, mit dem Sie jeden Tag Politik machen.

Das hat sich im ersten Haushaltsentwurf gezeigt. Da haben Sie gezeigt: Hass hat viele Titel. Sie haben in diversen Bereichen streichen wollen: im Integrationsbereich, im Bereich von Menschen mit Behinderung sowie von Schwulen und Lesben. Sie haben überall da streichen wollen, wo Zusammenhalt eine Rolle spielt und Menschen eventuell Unterstützung brauchen. Sie profitieren davon, wenn es anderen Menschen schlecht geht.

Mit Ihrer Anfrage versuchen Sie jetzt, andere die Arbeit machen zu lassen und herauszufinden, wo Sie denn überall den Rotstift ansetzen würden, wenn Sie es denn könnten - was Sie zum Glück nicht können.

Ich habe großen Respekt davor, wie die Landesregierung trotzdem sachbezogen auf diese Fragen geantwortet hat. Sie hat damit erneut Transparenz geschaffen und einen Einblick gegeben, was in den letzten fünf Jahren passiert ist. Ich danke auch für die klare Haltung zu einer humanitären Geflüchtetenpolitik, die aus diesen Antworten hervorgeht, und für die diversen Klarstellungen bezüglich der irreführenden, aber auch suggestiven Fragestellungen der AfD.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, SSW und Tobias Koch [CDU])

Nach dem Lesen der Anfrage und den Wortbeiträgen ist noch viel mehr klar. Wer sich mit Ihrer Partei auseinandersetzt, stellt fest: Die Motivation der AfD ist widerlich. Ich kann es nicht anders sagen. Es klingt so pathetisch, aber es stimmt: Sie sind so schlimm, dass Sie an Menschenleben Preisschilder kleben. Es klingt wie eine Sonntagsrede, als würde

(Dr. Ralf Stegner)

man es sich einfach herbeierzählen, es ist aber tatsächlich so. Sie tun das und steigen damit nicht nur über den Artikel 1 des Grundgesetzes, sondern über alles hinweg, was eine humanitäre Gesellschaft ausmacht, in der man ein bisschen guckt, was links und rechts von einem überhaupt passiert. Ich finde es gruselig, dass die Hälfte Ihrer Fraktion aus Beamten besteht.

Sie kleben Preisschilder, das tun wir nicht. Wir folgen nicht dieser Ideologie, diesem Grundgedanken der Nützlichkeit und der Frage von ungleich wertem Leben, denn etwas Anderes lässt sich aus Ihrer Anfrage und den gestellten Fragen nicht lesen. Wir werden Menschen auch dann Schutz geben - wenn sie ihn brauchen -, wenn es uns Geld kostet. Integration und die Aufnahme von Menschen in Sicherheit kostet Geld, aber Humanität hat eben ihren eigenen Wert. Diesen Wert werden wir verteidigen und zahlen, wenn er gezahlt werden muss.

Im Übrigen: Das Geld, das Sie jetzt hier so herausstellen, geht ja nicht direkt an Geflüchtete. Es ist ja nicht so, dass Geflüchtete dieses Geld erhalten würden. Zum Beispiel habe ich, als ich 2015 und 2016 Deutschkurse gegeben habe, als Student 16 €/h dafür erhalten. Das war für einen Studenten gar nicht so schlecht, aber auch angemessen, weil ich einiges mitbringen musste, um die Kurse geben zu können. Das Geld geht an Lehrerinnen und Lehrer, an Erzieherinnen und Erzieher, in den Wohnungsmarkt, in Fortbildungen, in die Verwaltung. So entsteht immer wieder ein Mehrwert nicht nur für Geflüchtete, sondern auch für die Mehrheitsgesellschaft. Wenn wir es entscheiden können, würden wir sogar noch mehr Geld da hineingeben, Herr Nobis. Wir würden mit der Integration gern noch früher ansetzen.

Als ich den Deutschkurs gegeben habe, musste ich erst einmal jemenitischen Frauen auf Arabisch erklären, warum sie an diesem Deutschkurs damals nicht teilnehmen durften. Das ist absurd! Wenn ich mir die Lage damals im Jemen angeguckt habe, war es absurd, dass diese Menschen an Integration in Deutschland nicht teilnehmen durften.

All das müssen wir weiter diskutieren, aber Humanität hat eben ihren Wert, und wir müssen gucken, wie wir zu einer Lösung kommen.

In Ihrer Großen Anfrage behaupten Sie, dass es erwiesen sei, „dass die vorgebrachten Asyl- und Fluchtgründe nach Prüfung häufig keinen Bestand haben.“

Sie zitieren das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dabei lassen Sie natürlich die Erhöhung der Gesamtschutzquote durch die Entschei

dungen der Verwaltungsgerichte gänzlich außer Betracht. Das sage ich zu Ihrem Verständnis von Wahrheit und Klarheit: Sie tun immer so, als wären geduldete Menschen ohne Aufenthaltsrecht. In Ihrer Rede haben Sie es gerade erneut getan. Es ist ein Märchen von vielen, dass geduldete Menschen nicht gute Gründe hätten, warum sie nicht abgeschoben werden können. Vor allem haben sie keine guten Gründe, die irgendwie verschuldet sind. Diese Menschen werden bei uns bleiben, das ist einfach so. Da ist es ein Fehler, dass wir in diesem Bereich auf Bildung und Integration verzichten, denn das wird später teilweise nachgeholt werden müssen.

Zuwanderung ist schlichtweg mehr als die Summe der Schäbigkeiten Ihrer Kampagnen. Zuwanderung sind auch die Menschen, die hier mit einer Blue Card für hochdotierte Jobs hinkommen, es sind Ärztinnen und Ärzte, Erzieherinnen und Erzieher, Facharbeiterinnen und Facharbeiter.

(Zuruf Jörg Nobis [AfD])