Protocol of the Session on June 17, 2020

Antrag der Fraktionen von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP Drucksache 19/2219

b) Verschwörungserzählungen stoppen

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 19/2239

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.

Mit dem Antrag Drucksache 19/2219 wird ein Bericht in dieser Tagung erbeten. Ich lasse zunächst darüber abstimmen, ob der Bericht in dieser Tagung gegeben werden soll.

(Unruhe)

- Ich würde Sie bitten, Ihre Gespräche leiser oder an einem anderen Ort zu führen, weil es sehr laut ist. - Danke.

Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist das einstimmig so beschlossen.

Ich erteile für die Landesregierung der Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Karin Prien, in Vertretung für Ministerin Dr. Sütterlin-Waack das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor gut drei Monaten mussten wir aus dem Stand einschneidende Maßnahmen ergreifen, alle mit dem Ziel, die Coronapandemie wirksam einzudämmen. Es wurden Grundrechte eingeschränkt, um Leben und Gesundheit unserer Bevölkerung zu schützen.

Eine vergleichbare Situation hatten wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch nie, und vor einem Jahr hätte ich persönlich mir das auch noch nicht vorstellen können.

Gut drei Monate nach dem Lockdown und den jüngsten Lockerungen können wir miteinander feststellen: Unser demokratischer Rechtsstaat hat diese Belastung sehr gut ausgehalten und gemeistert; denn die Grundrechte wurden eben nicht abgeschafft, Recht und Gesetz bleiben in Kraft; wir leben auch weiterhin nicht in einer Coronadiktatur. Das sieht man allein daran, dass gegen die Coronamaßnahmen frei und friedlich demonstriert werden kann.

Seit Anfang April 2020 gibt es in Schleswig-Holstein sogenannte Grundrechte- oder Hygiene-Demos. Nach den Erkenntnissen der Landesregierung verliefen die zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen der vergangenen Wochen in unserem Land weitgehend friedlich. Die ersten Demonstrationen und Kundgebungen fanden Anfang April 2020 mit sehr überschaubaren Teilnehmerzahlen von weniger als zehn Personen in Kiel, Lübeck, Rendsburg und Neumünster statt. Anfang Mai 2020 fanden sich in Lübeck und Flensburg bereits etwa 100 Personen zusammen, und am 9. und 23. Mai 2020 in Eckernförde waren es um die 250 Personen. Aber auch in kleinen Orten wird nach wie vor demonstriert, beispielsweise am 18. Mai 2020 in Lensahn mit drei Teilnehmerinnen und Teilnehmern unter dem Motto „Spaziergang für unsere Rechte und Freiheit“. Am ersten Juniwochenende fanden

(Ministerin Karin Prien)

weitere weitgehend friedlich verlaufende Demonstrationen und Gegendemonstrationen in Kiel, Lübeck, Pinneberg, Eckernförde, Itzehoe, Eutin und weiteren Städten statt. Insgesamt zählte unsere Polizei 350 Teilnehmer.

Die Teilnehmer an den Veranstaltungen stammen nach bisheriger Einschätzung aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten. Neben einem hohen Anteil von Personen aus dem bürgerlichen Milieu sind auch Anhänger von Verschwörungstheorien, Esoteriker oder Impfgegner anzutreffen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, für unseren freien und demokratischen Rechtsstaat müssen wir die teilweise recht massive Kritik an der Pandemiepolitik der Landesregierung und der Bundesregierung aushalten. Es ist unsere Aufgabe, die freie Meinungsäußerung und das Versammlungsrecht zu schützen. Solange Menschen friedlich demonstrieren und nicht gegen Gesetze verstoßen, stehen sie unter dem Schutz unserer Verfassung.

Die Meinungsfreiheit unseres Grundgesetzes umfasst auch das Recht, absurde Dinge zu behaupten. Auch Verschwörungstheorien und Falschmeldungen dürfen in die Welt gesetzt werden. Dagegen gibt es keinen absoluten staatlichen Schutz. Dagegen helfen hingegen seriöse Information, Aufklärung und gute Bildung. Hier sind wir als Demokratinnen und Demokraten in Politik, Medien, Wirtschaft, Gewerkschaften und in Schulen gefordert.

Einen wichtigen Teil dieser Aufklärungsarbeit leistet der Verfassungsschutz. In diesem Zusammenhang hat die Kollegin Sütterlin-Waack vor gut einem Monat vor der Unterwanderung sogenannter Grundrechte- und Hygiene-Demos durch Rechtsextremisten gewarnt; denn Rechtsextremisten haben in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, Einfluss auf bürgerliche Veranstaltungen und aktuelle öffentliche Diskussionen zu nehmen, vorwiegend dann, wenn sie die Chance sahen, bürgerlichen Protest gegen staatliche Maßnahmen für ihre eigenen, klar verfassungsfeindlichen Ziele zu instrumentalisieren.

Bundesweit sind Anstrengungen im Internet wahrnehmbar, die Szene der Veranstalter der HygieneDemos zu vernetzen und zu bündeln. Die Landesregierung beobachtet sehr genau, welche Akteure und Organisationen des Rechtsextremismus dabei in Erscheinung treten. Natürlich sind auch viele weitere Akteure bemüht, aufzuklären und die Gesellschaft gegen Verschwörungstheorien auch mit antisemitischen Ansätzen zu immunisieren. Als Beispiel will ich die Beratungsstellen des Landesdemokratiezen

trums nennen. Aber auch unsere Schulen nehmen eine wichtige Rolle ein. Zusammen mit außerschulischen Akteuren vermitteln sie Medien- und Demokratiekompetenz. So machen sie die Schülerinnen und Schüler stark und selbstbewusst gegen Wölfe im Schafspelz.

Es ist wichtig, dass wir gemeinsam, Landesregierung, Zivilgesellschaft, Schulen, Bildungseinrichtungen, am Ball bleiben; denn das verfassungsfeindliche Gedankengut wird nicht mit der Coronapandemie verschwinden. Als Rechtsstaat und als demokratische Zivilgesellschaft haben wir am Ende nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, wachsam zu sein und sehr genau hinzuschauen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und Jette Waldinger-Thiering [SSW])

Denn schwerwiegender und gefährlicher als Hass und Hetze von einzelnen Personen oder Gruppen wären Gleichgültigkeit oder das Schweigen der Mehrheit. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und Jette Waldinger-Thiering [SSW])

Die Ministerin hat die vereinbarte Redezeit um fast 1 Minute verlängert. Diese Zeit steht jetzt auch allen Fraktionen zu.

Ich eröffne die Aussprache. Für die CDU-Fraktion hat der Herr Abgeordnete Tim Brockmann das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich der Ministerin sehr herzlich für ihren Bericht danken. Er zeigt, dass auch in Schleswig-Holstein sogenannte Grundrechte- und Hygiene-Demonstrationen stattfinden. Gegen solche Demonstrationen ist auch gar nichts einzuwenden; denn dort nehmen Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner ihr Grundrecht wahr, sich zu versammeln und ihre Meinung zu äußern.

(Beifall Kay Richert [FDP])

Dieses Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Artikel 8 des Grundgesetzes kann und darf ihnen niemand absprechen. Es ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Der Staat hat grundsätzlich nicht zu entscheiden, inwiefern das Demonstrieren für oder gegen etwas inhaltlich zulässig ist und wel

(Ministerin Karin Prien)

che Meinung sich eine Versammlung zu eigen macht. Im Rahmen der Versammlungsfreiheit gibt es genau wie im Rahmen der Meinungsfreiheit kein richtig oder falsch. Insbesondere Versammlungen gegen staatliche Maßnahmen sind legitim. Dazu gehören grundsätzlich auch Proteste gegen Freiheitsbeschränkungen, wie wir sie jeden Tag durch die Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus erleben.

Gleichzeitig möchte ich festhalten: Auch auf Versammlungen gilt zunächst einmal geltendes Recht, aus dem sich Regeln für die Versammlung ableiten lassen. Diese Regeln können je nach Lage unterschiedlich sein; denn die Versammlungsfreiheit kann durch kollidierendes Verfassungsrecht, etwa durch die Pflicht des Staates zum Schutz von Leib und Leben seiner Bürger, verkürzt werden. Konkret heißt das, dass seitens des Staates Auflagen gemacht werden können, etwa das Einhalten von Abständen oder die Pflicht, Masken zu tragen.

Problematisch wird es allerdings, wenn sich die Demonstrationsteilnehmer nicht mehr an die geltenden Regeln halten und damit die Infektionsgefahr steigt, wodurch all unsere Bemühungen der letzten Wochen konterkariert werden können. Daher mein dringender Appell an alle: Das Demonstrationsrecht wird Ihnen niemand absprechen, aber halten Sie sich an die Abstandsregeln!

Aber nicht nur das Verhalten auf den Demonstrationen müssen wir im Blick behalten, sondern auch die Inhalte. Diese machen mir zunehmend Sorge. Erste kleinere Proteste gab es in Berlin bereits Ende März 2020. Dort versammelten sich zunächst linke Kulturschaffende und Kapitalismuskritiker vor der Berliner Volksbühne und verteilten Zeitungen mit dem absurden Titel „Demokratischer Widerstand“. Doch dieses Bild hat sich gewandelt; denn von Beginn an zogen diese Demonstrationen auch Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker an, die mittlerweile das Demonstrationsgeschehen deutschlandweit prägen.

Auch die AfD hat die Coronaproteste inzwischen für sich entdeckt und ruft insbesondere in Ostdeutschland offen zu Demonstrationen auf. Mehr noch: Der Protest findet mittlerweile oft unter Missachtung der Hygieneregeln und des Verbots größerer Versammlungen statt. Die Bundesregierung und die Landesregierungen werden dabei unter anderem als „diktatorisches Hygiene-Regime“, „Quasi-Diktatur“ oder „Notstands-Regime“ bezeichnet, und auch Gewalt gegenüber Passanten, Polizisten oder Journalisten tritt offen zutage. Demokratische Prozesse und Entscheidungen werden delegitimiert und

untergraben. Die Gefährlichkeit des Infektionsgeschehens und des Coronavirus selbst werden angezweifelt und durch die Darstellung falscher Tatsachen verharmlost. Diese Entwicklung halte ich für hoch problematisch, und ich möchte solchen Inhalten scharf widersprechen.

Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage ist es wichtig, dass wir als Staat mit unseren Sicherheitsorganen beide Augen und beide Ohren offen haben. Deshalb ist es auch gut und richtig, dass Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack bereits Mitte Mai 2020 vor der Unterwanderung sogenannter Grundrechte- und Hygiene-Demonstrationen durch Rechtsextremisten gewarnt und alle Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner zur Wachsamkeit gegenüber Wölfen im Schafspelz aufgerufen hat.

Dennoch ist es wichtig, meine Damen und Herren, dass wir auch denjenigen einen Raum bieten, die ohne Nazis, Antisemiten und Aluhüte gegen die Coronamaßnahmen demonstrieren und auf ihre Anliegen aufmerksam machen wollen. Gegen Kritik in der Sache ist nichts einzuwenden. Aber es gibt einen Unterschied zwischen den berechtigten Sorgen von Gastronomen, Reisebüroinhabern oder Busunternehmern - die bereits hier vor dem Landtag demonstriert haben - und Verachtung von Verantwortungs- und Entscheidungsträgern. Dieser Unterschied wird an vielen Stellen nicht mehr gemacht, und das ist keine gute Entwicklung, meine Damen und Herren. Vielmehr brauchen wir in diesen schwierigen Zeiten konstruktive Debatten.

Deshalb halte ich es auch für sinnvoll, den Antrag der SPD zunächst in den Ausschuss zu überweisen. Zum einen darum, weil sich viele der geforderten Maßnahmen bereits in unserem gemeinsamen Antrag „Für Demokratie - Gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Terror“, den wir in der letzten Tagung beschlossen haben, wiederfinden, und zum anderen, weil mich interessiert, wie diese Dinge bereits durch den Landesbeauftragten für politische Bildung oder den Offenen Kanal beispielsweise bearbeitet werden, und daraus folgend, an welchen Stellen nachgearbeitet werden muss. - Vielen Dank.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und vereinzelt SSW)

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Abgeordnete Tobias von Pein.

(Tim Brockmann)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Meine Damen und Herren! 2020 ist für Europa wahrscheinlich das ungewöhnlichste Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hat noch nie eine Situation in der BRD gegeben, in der der Staat so weitgehend in das persönliche Leben jedes Einzelnen eingegriffen hat.

Die meisten Menschen haben diese Einschränkungen akzeptiert und vertrauen darauf, dass es zeitweilige Eingriffe in unser aller Rechte sind, die mit dem Ende der Pandemie wieder aufgehoben werden. Aber auch ich habe erst einmal Respekt vor denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die Sorgen haben und das staatliche Handeln in Bezug auf den Umgang mit der Pandemie hinterfragen, die vielleicht auch die Befürchtung äußern, Grundrechte würden nicht richtig abgewogen.

Vieles, was geäußert wird, kann ich nach intensiver Beschäftigung damit aber nicht nachvollziehen. Aber sie sind nun einmal Teil einer demokratischen Diskussion um das richtige Vorgehen. Was ich aber von denjenigen erwarte, die sich ernsthaft um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sorgen, ist, dass sie sich nicht einer ganz anderen Agenda unterordnen. An den sogenannten Hygiene-Demonstrationen nehmen nicht nur die Menschen teil, die schwer zu erreichen und die mitunter für Fakten oder politische Bewertungen nicht mehr zugänglich sind. Es gibt auch die Versuche rechtsextremer Kräfte, diese Bewegung vor ihren Karren zu spannen. Das ist nicht immer erfolgreich, aber es gibt schon Fälle, bei denen der angebliche Widerstand gegen das Merkel-System zum gemeinsamen Nenner zwischen Coronaskeptikern und Rechtsextremisten wird.

Verschwörungserzählungen sind gefährlich, vor allem, wenn sie zur Grundlage des Denkens und Handelns von Menschen werden, die für sich die Berechtigung annehmen, sich gegen Juden, Freimaurer, Tempelritter, Synarchen oder wen auch immer bewaffnet zu verteidigen. Durch die Auseinandersetzung mit Verschwörungserzählungen wird deutlich, dass diese einer offenen und freien Gesellschaft entgegenstehen und unsere Demokratie gefährden. Hier gilt es, bei den noch für Argumente offenen Menschen Vertrauen zurückzugewinnen.

Wenn Menschen aus Existenzängsten, Überforderung, Marginalisierung oder aufgrund autoritärer Erziehung hörig werden für Verschwörungserzählungen, dann müssen wir die soziale und ökonomische Absicherung, Umverteilung und die Schaffung

von Aufstiegsmöglichkeiten wieder stärker in den Mittelpunkt der politischen Arbeit stellen. Wenn die technischen Grundlagen in unserer digitalen Welt dazu führen, dass Menschen sich in parallelen Glaubenssystemen verlieren, dann ist das nicht nur ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer besseren Medienkompetenz, sondern auch Ausgangspukt einer Debatte über die Verantwortung von Internetkonzernen und -anbietern. Dort, wo Verschwörungserzählungen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit propagieren, wo Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus um sich greifen, stellen wir uns dem aber entschlossen entgegen. Die überwiegende Mehrheit in unserem Land steht zu unserer Demokratie und ihren Institutionen.

Die aktuellen Entwicklungen sind jedoch keine Sache von ein paar Spinnern, die man nicht ernst nehmen muss. Vielmehr müssen wir nach den stark gestiegenen rechten Tendenzen bis hin zu neuem Rechtsterror in den vergangenen Monaten besonders aufmerksam sein. Das ist auch der Grund dafür, dass wir diese Debatte heute hier führen. Der Ausbau von Prävention und Beratung, eine flächendeckende Erhöhung der finanziellen Mittel im Kampf gegen Rechts und ein Demokratiefördergesetz gehören genauso dazu wie die konsequente Verfolgung von Straftaten.

Ich danke der Landesregierung für ihren Bericht über die Hygiene-Demonstrationen, der im Bildungsausschuss noch vertieft werden kann.