Protocol of the Session on January 23, 2020

Wie können das schwere Leid und Unrecht - ich habe es wiederholt gesagt - nicht rückgängig machen, aber wir können ein Stück dazu beitragen, dass die Betroffenen wissen, dass ihr schweres Schicksal nicht vergessen wird und jetzt aufgearbeitet werden soll. Auch das ist ein wichtiger Wert für die Betroffenen.

(Beifall CDU)

Es handelt sich um eine bundesweite Problematik. Auf der Sozialministerkonferenz in Rostock ist darüber gesprochen worden. Das Beispiel aus Niedersachsen ist schon erwähnt worden, wo ein Kind zu Tode kam und weitere Verdachtsmomente bestehen. Das mag vielleicht auch noch woanders geschehen sein.

Einige waren auf Sylt und haben Gespräche geführt, auch mit anderen von der Aufarbeitung Betroffenen. Es ist ganz wichtig - das höre ich immer wieder - zuzuhören. Es ist ganz wichtig, Wertschätzung zu vermitteln sowie Aufzuarbeiten und Verantwortlichkeiten zu benennen.

Es ist die Ohnmacht, die die Kinder früher als ganz schlimm empfunden haben. Sie haben Schlimmstes erlebt und hatten niemanden, der ihnen zur Seite gestanden hat. Ganz im Gegenteil, wo sie Hilfe und Unterstützung gebraucht und erwartet hätten, haben sie diese nicht einmal im Ansatz erhalten.

Das ist eigentlich eine besondere Schwere dessen, was man in den Gesprächen immer wieder hört. Die Betroffenen empfinden es als sehr positiv, dass wir uns jetzt so engagiert um ihre Anliegen kümmern.

Wir haben den Antrag gemeinsam unterschrieben, um ein Zeichen des Willens zur Aufklärung und ein Signal der Verbundenheit mit den Opfern zu senden. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall CDU, SPD, FDP, SSW und verein- zelt AfD)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat die Abgeordnete Aminata Touré das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Vorweg erst einmal vielen Dank für den Bericht, Herr Minister Garg. Meine Vorredner haben es bereits gesagt: Eine solche Kur sollte eigentlich etwas Gutes sein. Am besten kommt man gesund zurück von so einer Kur.

Wenn Kinder auf Kur geschickt werden, sind in der Regel Pro und Contra gut abzuwägen. Eine Trennung von den Eltern und Geschwistern kann durchaus schwierig sein. Die Herausnahme aus Kita, Schule und Freundeskreis birgt natürlich Unsicherheiten. Heute werde deshalb aus gutem Grund in der Regel Eltern-Kind-Kuren gemacht.

(Werner Kalinka)

In den 50er- bis 80er-Jahren sah das noch ganz anders aus. Hatte ein Kind ein Problem, dann war das Kind das Problem. Den ganzheitlichen Blick auf die Familie, auf somatische und psychologische Faktoren gab es kaum. Die einfache Lösung: Wir schicken das Kind für ein paar Wochen möglichst weit weg. Im Kurheim wird das Kind geheilt. Es fährt nach Hause, und alles wird gut.

Gern wurden Kinderkuren bei vermeintlich zu dünnen Kindern eingesetzt, die nicht essen wollten. Leider kamen sie ganz oft noch dünner zurück. Warum das so war, hat uns unter anderem die Berichterstattung des NDR vor Augen geführt. Es kamen Betroffene zu Wort. Sie hatten sich im November letzten Jahres auf Sylt zu einem Kongress der Verschickungskinder getroffen.

Der Minister hat von den schrecklichen Ereignissen, unter denen die Kinder gelitten hatten, berichtet. Eltern durften außerdem ihre Kinder nicht besuchen, denn dann bekämen sie Heimweh. Briefe wurden kontrolliert. Deshalb malte eine Zeitzeugin Häuser an den Rand: dunkle für schlechte und bunte für gute Tage. Die Briefe waren ganz und gar mit schwarzen Häusern umrandet.

Dass die Betroffenen traumatisiert sind, ist deshalb natürlich nicht verwunderlich. Dass sie sich eine Aufarbeitung wünschen, ist richtig und nachvollziehbar. Es ist Unrecht geschehen. Es wurde Gewalt angewendet. Dass die Betroffenen eine Entschädigung einfordern, liegt auf der Hand. Viele leiden noch heute an den Folgen dieser Kuren. Erlittene Traumata und langfristige Schädigungen müssen anerkannt und ausgeglichen werden.

Für andere Zielgruppen konnte dies bereits erreicht werden mit dem sogenannten Heimkinderfonds, dem ergänzenden Opferhilfesystem und im Rahmen der Stiftung Anerkennung und Hilfe. Was für die einen notwendig und richtig ist, darf den Opfern der Kinderkuren nicht verwehrt werden.

Zum Schluss: Vielen Dank an die SPD-Fraktion für die Initiative, diese Debatte auf die Tagesordnung zu bringen. Ich bin froh, dass wir als Koalition, SPD und SSW gemeinsam weiter an diesem Thema arbeiten und arbeiten werden. Vielen Dank auch an die Landesregierung, namentlich an den Minister, für die Bereitschaft, sich mit den Betroffenen auseinanderzusetzen, sie zu unterstützen und sie auch bei der Aufklärung zu unterstützen. Vielen Dank auch dafür, dass er bereits tätig geworden ist. - Vielen Dank.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP, SSW und vereinzelt CDU)

Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Abgeordnete Dennys Bornhöft.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Berichterstattung des NDR zur Kinderverschickung in den 50er- bis 90er-Jahren hat erschrecken lassen. Kinder, teilweise nur fünf Jahre alt oder noch jünger, wurden auf ärztlichen Rat hin deutschlandweit auf Heilkur geschickt. An sich ist das etwas Gutes, denn sie litten vielfach unter Bronchitis, waren nach ärztlichen Meinung zu dünn oder zu dick. Auf ärztliche Anweisung hin sollten sich die Kinder an der Ostsee oder in den Bergen erholen und so hoffentlich schnell genesen. Dies wurde aller Wahrscheinlichkeit nach auch den Eltern so verkauft, sodass auch sehr junge Kinder für sechs Wochen oder noch länger weg von ihren Familien in weit entfernte Kuranstalten auch hier in Schleswig-Holstein geschickt wurden.

Man verbindet mit einem Kuraufenthalt eine Zeit der Genesung in einer schönen Einrichtung, mithin eine Zeit des Erholens, sowohl auf physische als auch auf psychische Art und Weise. Doch was laut Opferberichten hier vielfach geschah, ist erschreckend und beschämend. Das, was Minister Garg in seinem Bericht, für den ich mich bedanken möchte, dargestellt hat, hat dies noch bekräftigt.

Die Berichte reichen von einfacher Prügel bis hin zu wahrem Psychoterror. Kinder sollten zu 100 % gehorchen. Taten sie es nicht, gab es nach Opferberichten Prügel. Manche Erzieher versuchten gar, die Kinder durch Schlafentzug zu züchtigen oder bedrohten sie auf andere Weise. Toilettengänge wurden abgelehnt. Daraufhin bettnässende Kinder wurden öffentlich erniedrigt. Wurde das Essen nicht aufgegessen, wurde nachgeholfen. Selbst Erbrochenes musste wieder gegessen werden. Die Folge waren Angstzustände und Minderwertigkeitskomplexe, die bis heute andauern.

Es wurde schon erwähnt. Im November des letzten Jahres haben sich ehemalige sogenannte Verschickungskinder auf Sylt getroffen, um sich hierüber auszutauschen. Von Erziehungsmethoden aus der Zeit des Nationalsozialismus, Gewalt und Erniedrigung war die Rede. Für mich als Sozialpolitiker ist dies nicht nur aus pädagogischer Sicht völlig inakzeptabel. Es ist vor allem aus politischer, aber auch aus menschlicher Sicht völlig inakzeptabel, was dort früher gelaufen ist.

(Aminata Touré)

(Beifall FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und vereinzelt CDU)

Der Gedanke, dass ein junger Mensch stets zu gehorchen hat, immer stark sein musste, niemals Schwäche zeigen darf, wurde scheinbar von vielen Personen nicht mit dem Kriegsende 1945 abgelegt, sondern leider noch Jahre bis Jahrzehnte aktiv weiterbetrieben und an den Schwächsten der Gesellschaft, den Kindern in Abwesenheit der elterlichen Sorge, ausgelebt. Auch hier ist leider davon auszugehen, dass dies vielfach nicht nur in SchleswigHolstein, sondern bundesweit geschehen ist.

Wir müssen die Rahmenbedingungen setzen, dass auch bei diesem leidvollen Thema der Kinderheilkuren Archive geöffnet werden, damit Betroffene mehr über die Hintergründe erfahren können. Die Fragen, ob und inwieweit systematisches Vorgehen bei den Organisatoren der Kinderheilkuren vorlag und ob die Missstände seinerzeit bereits gemeldet, aber nicht ernst genommen wurden, müssen geklärt werden. Außerdem muss denjenigen zugehört werden, die aus dieser Zeit zu berichten haben.

Ohne Wenn und Aber möchte ich mich bei den Kollegen aus der SPD-Fraktion dafür bedanken, dass sie zu diesem Thema einen Antrag gestellt haben, sodass wir über das Thema sprechen und das entsprechend im Landtag behandeln können und somit der Fokus über die NDR-Berichterstattung hinausgeht und sich vielleicht daraufhin der eine oder andere weitere Zeitzeuge meldet. Es ist uns ein besonderes Anliegen, dieses Thema konstruktiv zu begleiten und uns für eine weitere Aufklärung der damaligen Geschehnisse einzusetzen.

Wir haben gerade erst den Zwischenbericht der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und Medikamentenversuche an Kindern zwischen 1949 und 1975 in Schleswig-Holstein im Sozialausschuss vorgestellt bekommen. Das nach meinem Empfinden absolut widerliche Menschenbild, welches von Aufsichtspersonen gegenüber ihren Schutzbefohlenen zutage gelegt wurde, ist offenkundig kein Menschenbild gewesen, welches damals ausschließlich in den Kliniken vorherrschte. Das ist sehr traurig. Ich hoffe aber, dass wir dabei unterstützen können, dass die Betroffenen mehr Klarheit bekommen. Ich freue mich, dass der Landesminister Heiner Garg dies zugesagt hat und dass sich Schleswig-Holstein bundesweit dafür einsetzen wird. - Vielen Dank.

(Beifall FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Für die AfD-Fraktion hat der Abgeordnete Claus Schaffer das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Gäste! Auch von meiner Seite aus vielen Dank für den Antrag und für den Bericht, weil uns dies bei der Aufarbeitung von Geschehnissen seit den 50er-Jahren im Zusammenhang mit Heimkindern, mit Medikamentenversuchen und jetzt auch mit den Verschickungskindern die Möglichkeit gibt, das hier an dieser Stelle - und dies ist der richtige Ort dafür - aufzuarbeiten und die Aufarbeitung im Bund zumindest anzuregen.

Es ist nicht einfach, über dieses Thema zu sprechen, gerade dann, wenn man selbst Vater zweiter kleiner Kinder ist und wenn man selbst seinerzeit die Verschickung erlebt hat - diese aber zumindest auf gutem Wege - erlebt hat.

Meine Damen und Herren, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1990er-Jahre hinein, wir hörten das bereits, wurden mehr als 1 Million Kinder in der Bundesrepublik allein zur Kur geschickt. Viele kamen auch zu uns nach SchleswigHolstein, und vielen ist dabei Schreckliches widerfahren. Die Kinder kamen meist auf ärztliche Weisung hin zur Kur in die Erholungsheime. Zu den bekanntesten hier zählen die Kinderkurheime auf Sylt oder in Wyk auf Föhr, um nur einige zu nennen.

Diese Kinder waren zumeist krank, sie litten beispielsweise an Bronchitis, waren unter- oder übergewichtig und sollten deshalb zur Kur. Häufig waren die Kinder noch sehr jung und deshalb auch in besonderem Maße schutzbedürftig. Das Ziel war es, dass bedürftige Kinder durch die Kuren gestärkt werden sollten. Dabei sollte das Personal ihnen Lebensmut geben und mit einer besonderen Liebe begegnen. So waren damals die veröffentlichten Absichten.

Beteiligt an diesen Kinderverschickungen waren damals nicht nur die Jugendämter, die Kommunen und Krankenkassen, sondern auch das Deutsche Rote Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt, die Diakonie, die Caritas und viele andere mehr. Heute haben wir deshalb nicht nur einen großen Kreis von Betroffenen, die Leid und Unrecht erlitten haben, sondern auch einen großen Kreis derjenigen, die Verantwortung und Schuld für die Geschehnisse in den Kindererholungsheimen tragen.

(Dennys Bornhöft)

Viele Kinder kamen von den sogenannten Verschickungen schwer traumatisiert zurück. So berichten uns heute die Betroffenen von schwersten Misshandlungen, Missbrauch, Gewalt, Demütigung und Erniedrigung. Körperliche Züchtigung, auch in Form von Stockschlägen, waren oftmals an der Tagesordnung. Diese Kuraufenthalte sind so zu einem wahren Albtraum für die Kinder geworden.

Wenn die Kinder dann wieder zu ihren Familien zurückgekehrt waren, erzählten viele ihren Eltern von den schrecklichen Erlebnissen. Doch niemand glaubte ihnen. Ihre Berichte wurden abgetan als Heimweh oder schlechte Träume. In der Kriminologie gibt es dafür einen Begriff; er nennt sich sekundäre Viktimisierung. Es ist im Grunde die Vertiefung, die Verfestigung, die Wiederholung von Traumata.

Noch heute leiden die Betroffenen zum Teil massiv unter den inzwischen oft mittlerweile fünfzig Jahre zurückliegenden Geschehnissen. Das gilt insbesondere für die, die noch nicht die Kraft gefunden haben, über ihre Erlebnisse offen zu berichten. Eine der Betroffenen hat die damaligen Erfahrungen in zwei Sätzen erschreckend anschaulich wiedergegeben. Ich zitiere:

„Wir kamen anders zurück als wir hingegangen sind. Wir kamen verletzt und verwundet zurück, in unseren Seelen und auch körperlich.“

Das genaue Ausmaß der Misshandlungen in den Kindererholungsheimen in der Vergangenheit ist bis heute nicht vollständig bekannt. Genauso ist bis heute vollkommen unklar, wie viele Kinder in der Vergangenheit nach Schleswig-Holstein verschickt und zu Opfern geworden sind. Die Opfer treffen sich mittlerweile und haben unter anderem die Initiative „Verschickenskinder“ gegründet.

Was aber fehlt, ist eine wissenschaftliche, eine gesellschaftliche und politische Aufarbeitung der Geschehnisse, in die wir alle beteiligten Akteure mit einbeziehen. Das ist eine der vollkommen berechtigten Forderungen der erwachsenen Verschickungskinder. Für diese steht die Aufklärung des erlittenen Leids ganz oben.

Zugleich müssen wir andere Betroffene dazu ermutigen, sich ebenfalls zu melden, um mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir sollten prüfen, ob wir hier vielleicht tatsächlich vergleichbare Schritte unternehmen, wie sie zum Beispiel dann auch zur Stiftung Anerkennung und Hilfe geführt haben; denn die Parallelen - ich sagte es eingangs - drängen sich hier geradezu auf.

Im Vordergrund steht nicht allein die finanzielle Hilfe - aber auch die ist nicht außer Acht zu lassen -, sondern der Wunsch, dass die Geschehnisse öffentlich werden und die Gesellschaft darauf aufmerksam gemacht wird. Für die Betroffenen steht im Vordergrund, dass das erlittene Leid und Unrecht benannt und öffentlich anerkannt wird. Unser Ziel muss es daher sein, die Leid- und Unrechtserfahrungen in den Kindererholungsheimen im Rahmen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zu untersuchen und rückhaltlos aufzuklären. Ich bin der Meinung, wir sind es den Kindern von damals heute schuldig. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall AfD)

Das Wort für die Abgeordneten des SSW hat der Abgeordnete Flemming Meyer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich gehöre selbst zu der Generation, die hier als Betroffene im Zentrum der Debatte steht. Auch wenn ich nicht persönlich berührt bin, weiß ich, dass die pädagogischen Ansätze in der Vergangenheit anders aussahen als heute. Das ist auch nicht verwunderlich. Aber das, was Augenzeugen oder besser Opfer von ihren Kinderkuren berichten, ist durch nichts zu rechtfertigen, durch nichts!

(Beifall SSW, CDU, SPD, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN und FDP)

Allein die Tatsache, dass Hunderte oder vielleicht sogar Tausende Betroffene bis heute massiv unter den Folgen leiden, ist einfach zutiefst erschütternd.