Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und der Abgeordneten des SSW Drucksache 19/1873 (neu)
Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Mit dem Antrag wird ein Bericht in dieser Tagung erbeten, und ich lasse somit zunächst darüber abstimmen, ob ein Bericht in dieser Tagung erwünscht ist. Wer dem so zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Somit ist dies einstimmig so beschlossen.
Ich erteile somit für die Landesregierung dem Minister für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren, Dr. Heiner Garg, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kindern etwas Gutes zu tun, war ursprünglich der Grund dafür, warum von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre schätzungsweise bis zu 350.000 Kinder jährlich in Kindererholungsheime, Kinderkurheime und Kinderheilstätten verschickt wurden. In den allermeisten Fällen haben diese Kinder eine ärztliche Diagnose von Schulärztinnen und -ärzten und anderen Ärztinnen und Ärzten erhalten und sind anschließend für vier bis acht Wochen in Kurund Erholungsheimen oder Heilstätten für Kinder untergebracht worden. Diese Einrichtungen bestanden bundesweit. Im Jahr 1963 etwa gab es 839 solcher Einrichtungen mit über 56.000 Plätzen, die ganzjährig betrieben wurden.
Die Initiative und Organisation zur Verschickung der Kinder ging vom öffentlichen Gesundheitsdienst, von den Schulärztinnen und Schulärzten und Beratungsstellen der Wohlfahrtspflege aus. In der Regel handelte es sich damals um Kinder, die nach Auffassung der Ärztinnen und Ärzte gesundheitliche Probleme hatten, weil sie zum Beispiel für über- oder untergewichtig befunden wurden oder weil sie von der damals sehr weit verbreiteten Infektionskrankheit TBC betroffen waren, weshalb sie in Heilstätten behandelt wurden. Manche wuchsen nach dem Zweiten Weltkrieg unter schwierigen finanziellen und sozialen Umständen auf und kamen aus sozial benachteiligten Familien, sodass mit einer Verschickung gesundheitlichen Problemen vorgebeugt werden sollte.
Träger der Heime waren die Verbände der Wohlfahrtspflege, die Leistungsträger, die Bahn, die Post, große Firmen, Großstädte, private Träger und Stiftungen. Die Kosten wurden vor allem von der
Sozialhilfe mit Zuschüssen der Krankenkassen, von der Rentenversicherung und zum Teil auch selbst von den Familien übernommen.
Was zum Wohle der verschickten Kinder gedacht war, entpuppte sich für einige oder viele von ihnen an meiner Formulierung merken Sie schon, dass eine Quantifizierung zum jetzigen Zeitpunkt vonseiten der Landesregierung nicht möglich ist - als echter Albtraum. Zum Teil sollen die Kinder damals vom betreuenden Personal in den Einrichtungen gedemütigt, erniedrigt und auch geschlagen worden sein. Es waren Methoden, die der sogenannten schwarzen Pädagogik zuzuordnen sind. Dazu gehörte der Zwang zum Aufessen auch von Erbrochenem oder ein Verbot für die Kinder, nachts die Toilette aufzusuchen. Hatten die Kinder sich eingenässt, wurden sie nicht selten vor anderen Kindern öffentlich gedemütigt.
Grundsätzlich waren Handlungen der schwarzen Pädagogik weiter verbreitet, als die meisten von uns es sich heute vorstellen können. Das erklärt auch, warum die meisten Kinder wenig bis gar keine Unterstützung von ihren Eltern erhielten.
Die Betroffenen haben deswegen ein berechtigtes und nachvollziehbares Interesse daran, dass dieses Unrecht, das ihnen wiederfahren ist, systematisch aufgearbeitet wird.
In Schleswig-Holstein sind Betroffene im November vergangenen Jahres auf der Insel Sylt erstmals zusammengekommen und haben ihren Wunsch nach Aufarbeitung deutlich gemacht. Für diese Landesregierung sage ich: Die Regierung unterstützt dieses Vorhaben.
Zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine systematischen Zugänge zu diesem schwierigen Thema. Es liegen auch keine quantitativen oder qualitativen Erkenntnisse über Ausmaß und Intensität entsprechender Fälle vor. Wie groß die Anzahl der Betroffenen ist, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht einschätzen, da auch die Auslastung der Heime nicht genau bekannt ist.
Mein Haus hat bereits Recherche- und Untersuchungsaufträge an verschiedene Institutionen übermittelt. Eine Aktenrecherche beim Landesarchiv ist bisher allerdings noch ohne greifbares Ergebnis geblieben. Die Recherche dort wird unter anderem dadurch erschwert, dass ein Teil der Akten mit Schutzfristen versehen oder bestimmte Akten nur auf Antrag einzusehen sind. Außerdem teilte der
Kreis Nordfriesland auf Anfrage mit, dass die Akten dort in den angefragten Zeiträumen wegen der Vernichtungsfristen zum Teil nicht mehr vorhanden seien. Anfragen bei Krankenkassen und bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe brachten bislang keine verwertbaren Ergebnisse.
Ich habe das Thema auf der vergangenen Arbeitsund Sozialministerkonferenz mit meiner Kollegin Reimann aus Niedersachsen besprochen. Seitdem arbeitet mein Haus sehr eng mit den niedersächsischen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Die Recherchen in Niedersachsen haben die Aussagen der ehemaligen Verschickungskinder bestätigt. Es ist zudem festgestellt worden, dass Kinder aus allen Bundesländern in Kinderkureinrichtungen und Kinderheime verschickt wurden. Es ist damit notwendig und zielführend, eine länderübergreifende Aufarbeitung der Geschehnisse vorzubereiten. Bereits in der kommenden Februar-Sitzung der Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendpolitik der Obersten Landesjugend- und Familienbehörden werden wir uns über Form und Inhalt dieser länderübergreifenden Initiative abstimmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich werde dieses Thema in die länderübergreifenden Fachministerkonferenzen einbringen - das ist nicht nur die Jugend- und Familienministerkonferenz, das wird im Zweifel auch die Gesundheitsministerkonferenz sein -, vermutlich nicht allein, sondern im Geleitzug mit den anderen Kolleginnen und Kollegen.
Das Ziel der Landesregierung und der anderen Länderkolleginnen und -kollegen ist eine systematische Aufarbeitung, bei der wir noch ganz am Anfang stehen. - Vielen Dank fürs Zuhören.
„Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten.“
Das kommt von Jesper Juul, einem populären Erziehungsratgeber. Wer Eltern kennt oder selber Kinder hat, kennt den auf jeden Fall. Wir reden heute
Wieder sind Kinder betroffen, wieder waren Erwachsene willentlich und wissentlich an Missbrauch und Demütigung beteiligt, und Kinder waren schutzlos ausgeliefert, mussten Dinge erleben, die sie bis ins hohe Alter und bis ins Hier und Jetzt mit sich herumtragen. Es ist nicht einfach, sich dieser Vergangenheit zu stellen - erst recht, wenn man selbst davon betroffen ist -, aber es befreit auch. Deshalb ziehe ich erst einmal meinen Hut vor denjenigen, die sich im November auf Sylt beim ersten bundesweiten Vernetzungstreffen zusammengetan haben.
Die Verschickungskinder haben sich organisiert. Sie fordern die Aufarbeitung der Geschehnisse in den Kurheimen und die Übernahme von Verantwortung. Der Minister hat es schon ausgeführt, es gab Hunderte sogenannter Kurheime, es gab in den 60erJahren um die 840 in Deutschland, viele davon in Schleswig-Holstein, die meisten davon an der Westküste - wieder einmal, wenn wir über Jugendhilfe sprechen - dort, weit weg von zu Hause, wo frische Luft weht und vermeintlich alles schön ist, wo viele Ferien machen.
Nach Berechnungen der Initiative reden wir über eine zeitweilige Bettenkapazität von 56.000 Betten deutschlandweit. Die wurden circa alle sieben Wochen neu belegt. Wenn man das überschlägt, reden wir also über Millionen von Kindern, die betroffen sein können, laut „Report Mainz“ um die 1,6 Millionen Kinder.
Da unser Land auch hier viele Einrichtungen hatte, in denen Kinder aus dem ganzen Bundesgebiet waren, müssen wir uns zuvorderst darum kümmern, wir müssen vorne mit dabei sein. Herr Minister Garg, deswegen begrüße ich, dass Sie sich an vorderster Spitze mit einbringen, wenn es um die Aufarbeitung geht. Ich erwarte, dass wir dieses Signal heute als Landtag an die Betroffenen senden, und freue mich, dass die anderen Fraktionen an dieser Stelle mitziehen.
Kinder und Jugendliche müssen bestmöglich unterstützt und geschützt werden, vor Gewalt, vor Erniedrigung und allem, was ihre Entwicklung einschränkt. Die Kinderkuren, zeitweise auch Verschickung genannt, sollten eigentlich zur Gesundheit der Kinder beitragen. Heute wissen wir, dass diese Aufenthalte meistens nicht gesund gemacht haben, sondern krank. Machtgehabe, Böswilligkeit, falsche Erziehung, schwarze Pädagogik. Die Zeugenberich
te der Betroffenen sind erschreckend: Redeverbote, Kälte, Morddrohungen, Esszwang - Kinder mussten ihr Erbrochenes essen -, Toilettenverbot, körperliche Strafen, Demütigung und Erniedrigung.
Es sind die Seelen der Kinder, die verletzt wurden und bis heute verletzt sind. Der Verlust des Urvertrauens ist das eine, was Folgen hatte, das andere ist, dass sie als unsichere Menschen durchs Leben gehen müssen. Die lebensrettende Funktion der Verdrängung in der Kindheit verwandelt sich später, beim Erwachsenwerden in eine lebenszerstörende Macht.
Umso wichtiger ist es, dass den Betroffenen geholfen wird. Aufklärung und Aufarbeitung sind eine konkrete Hilfe. Hören wir den Menschen zu! Das sind wir ihnen schuldig. Wir fragen auch: Wer waren die Verantwortlichen? Es wird schwierig sein, das herauszufinden. Wieso wurde den Kindern kein Gehör geschenkt? In welcher Form war SchleswigHolstein mit seinen Institutionen mitverantwortlich? Gab es Kontinuitäten zur NS-Zeit? - All dies sind Fragen, die es zu bearbeiten gilt.
Uns Sozialdemokraten ist die Stärkung der Kinderrechte ein zentrales Anliegen. Der Schutz vor Grenzüberschreitung, Hilfeangebote und mehr Beteiligung sind unsere Ziele, heute und auch schon in vergangener Zeit. Wir können Zuhören und Aufklärung auch dazu nutzen, dass das, was geschehen ist, in Zukunft nie wieder passieren kann, und viel daraus lernen. - Gehen wir es also an!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Offensichtlich hat es in Kindererholungsheimen und -stätten ähnlich schlimme Vorkommnisse und Verfehlungen gegeben wie in Heimen der Behindertenhilfe, der Psychiatrie - das Thema, zu dem wir in den letzten zwei Jahren besonders schlimmes Leid und Unrecht gehört haben. Es geht um die 50er- bis 80er-Jahre. Die Kinder, die verschickt wurden, wurden eigentlich verschickt, um sich erholen zu können, um etwas für ihre Gesundheit zu tun. Die Eltern waren guten Glaubens und - wie wir vom Herrn Minister gehört haben - kamen häufig aus so
Beim Symposium im November 2018 haben wir Schilderungen gehört, die mancher zunächst nicht glauben mochte. Inzwischen ist alles, was gesagt worden ist, bestätigt worden durch Unterlagen, Archive und so weiter. Besonders bedrückend finde ich, dass wir den begründeten Verdacht haben, dass es um systematisches Vorgehen geht. Der Minister hat eben das Stichwort schwarze Pädagogik genannt. Wir sind uns Gott sei Dank einig, dass wir in Schleswig-Holstein bei der Aufklärung Vorreiter sind und bleiben wollen.
Können wir bei der Aufklärung helfen? - Ganz gewiss. Wir können den Betroffenen Mut machen. Wir können sie als Staat unterstützen. Wir können Zeugen anhören, sich einbringen lassen. Minister Garg hat eben darauf hingewiesen, beim Landesarchiv gebe es vermutlich Unterlagen, die noch nicht intensiv erschlossen seien, ebenso noch in anderen Bereichen. Da will ich ganz deutlich sagen: Wenn wir mehr Mittel brauchen, damit entsprechende Unterlagen in den Archiven aufgearbeitet werden, sollten wir die Mittel zur Verfügung stellen.
Auch eine späte Aufklärung ist möglich, und sie ist zwingend notwendig. Wo die Menschenwürde verletzt wird, wo Menschenrechte geschmälert werden, wo Kinder misshandelt werden, wo Kinder Opfer werden, da darf niemand wegschauen, erst recht nicht ein Parlament und eine Regierung.
Deswegen sind wirksame staatliche Aufsicht und Kontrolle auch im Nachhinein - so weit möglich unabdingbar.
Die Forderung nach wissenschaftlicher Aufarbeitung möchte ich unterstützen. Das aktuelle Projekt zeigt, dass wir bereits nach einem Jahr konkrete Ergebnisse haben. Wir wissen deutlich mehr als vorher. Wir sind gemeinsam zuversichtlich, dass wir noch mehr erfahren werden, weil noch nicht alles zu Ende bearbeitet ist.
Wie können das schwere Leid und Unrecht - ich habe es wiederholt gesagt - nicht rückgängig machen, aber wir können ein Stück dazu beitragen, dass die Betroffenen wissen, dass ihr schweres Schicksal nicht vergessen wird und jetzt aufgearbeitet werden soll. Auch das ist ein wichtiger Wert für die Betroffenen.