Protocol of the Session on January 21, 2015

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Der Vorwurf, Musliminnen und Muslime seien an irgendwelchen gesellschaftlichen Umständen und am Terrorismus schuld, ist nicht nur falsch, sondern auch schäbig. Ich bin überzeugt davon, dass die Wurzel des Attentats und die Erklärung dafür nicht in einem wie auch immer gearteten Wesen des Islam zu suchen sind. Auch die Berufung der Attentäter auf den Islam darf nicht als Feigenblatt für die Erklärung herhalten, ein bisschen was müsse ja wohl schon dran sein.

Der Islam gehört genauso zu Deutschland wie das Christen- und das Judentum und andere Religionen. Musliminnen und Muslime sind uns genauso herzlich willkommen wie Menschen jeglichen anderen Glaubens oder auch keinen Glaubens.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und PIRATEN)

Es gibt im Moment eine breite Unterstützung und viele warme Worte. Ich persönlich glaube, wir müssen dem auch Taten folgen lassen. Ich weiß, das ist hier im Haus sehr umstritten, aber ich denke, es wäre auch Zeit dafür, dass wir uns noch einmal gemeinsam Gedanken darüber machen, wie wir auch hier im Land zu einem guten Dialog mit dem Islam darüber kommen können, welche Vereinbarungen wir am Ende erreichen können.

Wir können unsere Demokratie nicht an den Gefühlen und Ängsten nur einiger orientieren. Nicht diejenigen, die am lautesten rufen, haben automatisch recht, und schon gar nicht lassen wir uns mit diffusen Ängsten oder Gefühlen politisch erpressen. So viel politischen Mut besitzen wir allemal.

Ich bin dankbar für die vielen Zeichen der Solidarität und die mutige und entschiedene Gegenwehr gegen Fremdenhass auch hier im Land. Lieber Herr Günther, Sie haben die Demonstrationen in Lübeck und auch die Kundgebungen in vielen kleinen Orten - Grabau und Trappenkamp - erwähnt.

(Zuruf Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Flens- burg!)

Auch in Kiel ist ein Bündnis auf den Weg gebracht worden. Das sind Zeichen einer großen Solidarität und zeigt: In Schleswig-Holstein stehen wir zusammen dafür, dass Flüchtlinge in Deutschland willkommen sind, dass Einwanderung gewollt ist, dass Religionen in Frieden in Deutschland leben können, dass alle so sein dürfen, wie sie wollen, und dass für alle Platz ist in diesem Land: für Juden, für Flüchtlinge, für Muslime. Sie alle brauchen in die

sen Tagen Mut, und wir können ihnen diesen Mut geben, wenn wir laut und deutlich sagen: Wir lassen euch nicht alleine, wir stehen zu euch, ihr gehört zu uns. - Danke.

(Beifall)

Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der FDP, der Abgeordnete Wolfgang Kubicki.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 7. Januar 2015 steht leider in einer traurigen Reihe mit Daten wie dem 11. September 2001, dem 11. März 2004 und dem 7. Juli 2005. An jedem dieser Tage wurden von islamistischen Extremisten blutige Angriffe auf die Freiheit der westlichen Gesellschaften verübt.

Wir trauern nicht nur um die Redakteure von „Charlie Hebdo“, weil wir alle Charlie sind. Mich hat auch das Bild des verletzten Polizisten - übrigens islamischen Glaubens - betroffen und wütend gemacht, der in einer unglaublichen Art und Weise mit einem Kopfschuss getötet worden ist. Diese Form der Brutalität und Unmenschlichkeit, die sich darin ausgedrückt hat, macht sprachlos und bedarf irgendwann auch einmal einer Antwort.

(Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Terrorakte von New York, Madrid, London und jetzt Paris waren brutale Attacken auf unsere grundlegenden gesellschaftlichen Errungenschaften. Es waren Angriffe auf unsere Freiheit, zu wählen, auf unsere Freiheit, zu glauben - an welchen Gott auch immer - oder auch nicht zu glauben, auf die Freiheit der Kultur, Wissenschaft und Forschung, auf die Freiheit der Presse, auf die Freiheit der Meinungskundgebung, auf die Freiheit des individuellen Lebensentwurfs und, ja, auch auf die von uns gelebte Gleichberechtigung von Mann und Frau; denn das Frauenbild, das die islamistischen Terroristen der Taliban und des „Islamischen Staates“ im Kopf haben, wenn sie ihre gesellschaftlichen Vorstellungen herbeibomben wollen, hat nicht einmal im Entferntesten etwas mit Gleichberechtigung zu tun. Das ist vielmehr ein Weltbild der Unterdrückung, und unsere freie Gesellschaft ist das genaue Gegenteil dessen, was die Terroristen für richtig halten.

Die Angriffe von New York, Madrid, London und jetzt Paris sollten also genau den freiheitlichen Geist treffen, den wir tagtäglich leben und der uns

(Eka von Kalben)

ausmacht. Es waren Anschläge auf unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Es waren Anschläge auf uns alle. Dagegen müssen wir uns wehren. Das ist unsere demokratische Pflicht.

(Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage, um die es auch gehen muss, lautet: Wie wehren wir uns richtig? Die politisch Verantwortlichen in Deutschland, aber auch in anderen vom Terror betroffenen Staaten haben in der Vergangenheit, wie ich finde, viele immer wieder schwierige Entscheidungen treffen müssen. In nicht wenigen Fällen sind diese Entscheidungen falsch gewesen oder haben am Ende für den demokratischen Rechtsstaat mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet.

Zur Vermeidung von Terrorakten wurden Grundrechte außer Kraft gesetzt: Es wurde überlegt, bei Flugzeugentführungen unschuldige Menschen zu opfern, um mehr unschuldige Menschenleben zu schützen, und der jüngste CIA-Bericht brachte es zutage: Im Namen der Freiheit wurde sogar grausam gefoltert und getötet.

Wir haben schmerzhaft lernen müssen, dass der demokratische und freiheitliche Rechtsstaat zu weit gehen kann, wenn es darum geht, seine Freiheit mit allen Mitteln zu schützen, und wir mussten feststellen, dass der Versuch, unsere Freiheit mit allen Mitteln zu schützen, auch dazu führen kann, dass wir am Ende viel zu viel Freiheit einbüßen.

Vor diesem Hintergrund stehen wir alle nach den Pariser Anschlägen jetzt an einem wichtigen Scheidepunkt. Wir müssen in den kommenden Monaten beweisen, dass wir weder dem Terrorismus noch der Angst vor dem Terrorismus einen Fußbreit weichen. Unsere Antwort auf die Terrorattacken darf nicht Repression und Beschränkung sein, und sie darf ebenso wenig Zurückweichen oder „freiheitlicher Relativismus“ lauten. Wir müssen unsere Grundwerte in beide Richtungen selbstbewusst und furchtlos verteidigen.

(Beifall FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, PIRATEN, SSW und vereinzelt CDU)

In diesem Zusammenhang ist es ganz offensichtlich, dass politische Forderungen, die im Lichte des Pariser Terroraktes erhoben worden sind, wenig hilfreich sind. Ich sage es ganz deutlich: Wenn die Bundeskanzlerin die erstbeste Chance ergreift, um mithilfe des Bundesinnenministers die Einführung der Vorratsdatenspeicherung zu fordern, dann ist

das in meinen Augen eine intellektuelle Beleidigung und unverantwortlich;

(Beifall FDP, PIRATEN und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

denn obwohl es im Koalitionsvertrag steht, muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Pariser Angriffe für ihre politischen Zwecke instrumentalisiert.

Die Vorratsdatenspeicherung kann terroristische Angriffe nicht verhindern. Das hat Frankreich bewiesen, wo es die Vorratsdatenspeicherung seit 2006 gibt.

(Beifall FDP und vereinzelt CDU)

Sie kann allenfalls zu einer schnelleren Aufklärung beitragen. Anstelle der Vorratsdatenspeicherung gibt es andere Möglichkeiten, und Kollege Stegner hat bereits darauf hingewiesen, dass diese bereits politisch debattiert werden.

Ich will nicht akzeptieren, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung der Kommunikationsdaten von 82 Millionen Bundesbürgern zu einer Veränderung des Kommunikationsverhaltens in der Gesellschaft führt, wie es das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat; denn dann hätten die Terroristen genau das erreicht, was wir zu verteidigen aufgerufen sind.

(Beifall FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PIRATEN)

Um dem Terrorismus das Wasser abzugraben, brauchen wir nicht immer mehr und immer schärfere Gesetze, sondern schlicht und ergreifend mehr Personal bei den Sicherheitsbehörden, um die Daten, auf die wir schon jetzt, ohne Vorratsdatenspeicherung, zurückgreifen können, besser, effizienter und schneller auswerten zu können. Ich sage das ausdrücklich: Wir brauchen mehr Personal! Ansonsten wird die Furcht, die in weiten Teilen der Bevölkerung herrscht, nicht aufhören, und ihr kann dann auch nicht wirksam begegnet werden.

Unsere Erfahrungen mit dieser Form des Terrorismus haben es gezeigt: Es lag meistens nicht daran, dass wir zu wenige Informationen der Geheimdienste über anstehende Terroranschläge hatten, sondern daran - wie in Frankreich übrigens auch -, dass wir zu wenig Personal hatten, um diese Daten sinnvoll einzuordnen.

Wenn wir über die Verteidigung der Freiheit sprechen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass wir als Demokraten die Freiheit Andersdenkender in jeder Situation bewahren müssen, gleichgültig, ob

(Wolfgang Kubicki)

wir die politische Zielrichtung richtig finden oder nicht. Wenn also in Dresden Zehntausende friedlich auf die Straßen gehen, weil sie eine bestimmte Angst treibt - es ist ja das Ergebnis der jetzt vorliegenden wissenschaftlichen Studien, dass es sich dabei nicht um dumpfe, stiernackige Glatzköpfe handelt, sondern um Teile aus der Mitte der Gesellschaft, die eine diffuse Angst haben -, dann hilft es nicht, wenn diese Menschen für diese Ängste undifferenziert beschimpft werden. Diese Ängste sind kein Randphänomen mehr, wenn sich in Umfragen mehr als die Hälfte der Befragten in Deutschland mehr oder weniger zu diesen Ängsten bekennt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Demokraten stehen deshalb auch bei PEGIDA in der Pflicht, nicht auszugrenzen, sondern den Rattenfängern und Extremisten mit Argumenten das Wasser abzugraben. Mögen die Befürchtungen der Menschen noch so weltfremd oder hysterisch sein - Extremisten sind der überwiegende Teil dieser Menschen nicht.

Ich bekenne freimütig, dass Bilder, dass in der Türkei Hunderte von jungen Menschen die Terroristen feiern, dass Hunderttausende in Tschetschenien auf die Straße gehen und nicht „Charlie“ rufen, sondern das genaue Gegenteil, dass in Pakistan Menschen auf die Straße gehen und gegen den Westen polemisieren, weil der Westen diese Form von Satire und Meinungsfreiheit verteidigt, und dass im Niger Menschen sterben und Kirchen angezündet werden, nicht zu einer Beruhigung bei mir führen.

Herr Ministerpräsident, es führt bei mir auch nicht zu einer Beruhigung - das sage ich ganz offen -, wenn die deutschen Sicherheitsbehörden erklären, sie könnten mangels Personal die Gefährder, von denen eine konkrete Anschlagsgefahr ausgeht, nicht mehr im Auge behalten. Ich sage noch einmal: Es macht keinen Sinn, wenn der Rechtsstaat momentan mit der Erklärung zurückweicht, wir sollten Straftaten in bestimmten Bereichen nicht mehr als solche verfolgen, weil das Personal nicht ausreicht, in anderen Bereichen mit den Gefahren fertig zu werden. Damit schaffen wir in der Bevölkerung kein Vertrauen.

(Beifall FDP und vereinzelt CDU)

Deshalb hilft es überhaupt nicht, in dieser Frage eine politische Kampflinie zu ziehen. Wir müssen als Demokraten reagieren, weil sonst etwas passieren wird, von dem ich glaube, dass wir noch gar nicht genau begreifen, welche Welle auf uns zuläuft.

Vor diesem Hintergrund bin ich dem Ministerpräsidenten sehr dankbar, dass er sich in einem Interview gegenüber dpa Mitte Dezember sehr abgewo

gen und differenziert zu den Demonstrationen geäußert hat, zu einem wesentlichen Teil der Demonstranten, nicht zu PEGIDA, nicht zu den Initiatoren, die ein Problem aufgreifen und es verstärken, statt Lösungsmöglichkeiten anzubieten, wie man mit einem Problem fertig wird. Herr Ministerpräsident, ich danke Ihnen ausdrücklich für diese Haltung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Absage für die jüngste PEGIDA-Demonstration und die Gegendemonstration wird möglicherweise noch politische Folgen haben. Der fatale Eindruck drängt sich auf, dass es sich um ein politisch motiviertes Verbot gehandelt haben könnte. Sollte sich herausstellen, dass das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit auf dem Altar politischer Wünsche geopfert wird, dann steuern wir langsam, aber sicher in Richtung einer gelenkten Demokratie. Bis heute warten wir auf den Nachweis der konkreten Gefährdungslage, die es gerechtfertigt hat, einen so massiven Grundrechtseingriff vorzunehmen. Dann entscheidet die jeweilige politische Führung, welche Demonstration gut oder richtig ist und welche nicht. Auch wenn wir die Ziele und Forderungen von PEGIDA für grundfalsch halten - gegen Demonstrationsverbote müssen wir uns wehren.

(Vereinzelter Beifall FDP, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und PIRATEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Voltaire sagte den in den vergangenen Tagen häufig zitierten Satz:

„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“

Dies ist ein Grundpfeiler unserer Werteordnung: So hat es das Bundesverfassungsgericht zum Wert der Meinungsfreiheit einmal gesagt. Wer diesen Grundpfeiler anknabbert oder zerstört, der zerstört unser Leben in dieser Gesellschaft.