Protocol of the Session on April 26, 2013

Sie sind Schleswig-Holsteinerinnen und SchleswigHolsteiner.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, PIRATEN und SSW - Zuruf Christopher Vogt [FDP])

- Sie haben wohl ein bisschen Angst gehabt, dass ich alle 1.200 Gemeinden aufzähle. Aber diese Sorge nehme ich Ihnen, denn so viel Zeit habe ich überhaupt nicht.

(Heiterkeit )

Wie sagte meine Kollegin Bohn so schön: Die Zeit ist reif. Nein, sie ist überreif! Das gilt nicht nur für die Frauenquote, sondern auch für das kommunale Wahlrecht für alle.

Mit dem gemeinsamen Antrag der SPD, der Grünen, des SSW und der PIRATEN wollen wir dieses kommunale Wahlrecht einführen. Dies gilt auch für den gemeinsam gestellten Antrag von FDP, SPD, Grünen und SSW zum Wahlrecht für EU-Bürger für Landtagswahlen. Ich bin auch hier auf die Argumente gespannt. Das Argument, dass man auf kommunaler Ebene mitwählen dürfe, aber auf Landes

ebene nicht, fand ich nicht sehr tragend. Ich finde es auch nicht logisch.

Bereits seit 1989 steht das kommunale Wahlrecht im Grundsatzprogramm der SPD. Das bedeutet, Kollegin Damerow, dass wir bereits seit mehreren Jahrzehnten über dieses Thema reden. Es gab Anhörungen. Es gab Diskussionen. Es gibt Gutachten darüber, was dafür und was dagegenspricht. Auf der anderen Seite ist das Grundgesetz unser höchstes Gut. Aber Gesetze werden von Menschen für Menschen gemacht. Wenn es Zeit ist, dieses zu ändern, weil sich die Situation in unserem Land geändert hat, ist es gut, das Grundgesetz an die Lebensrealität der Menschen anzupassen.

Weil Sie sich schon ziemlich festgelegt haben, wie ich finde, beantrage ich Abstimmung in der Sache über beide Anträge.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, PIRATEN und SSW)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat die Fraktionsvorsitzende Eka von Kalben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Geschichte des Wahlrechts ist geprägt von Ausschluss und Kampf. In blutigen oder unblutigen revolutionären Kämpfen musste das Wahlrecht denen abgetrotzt werden, die das Sagen hatten. Früher entschieden Stand, Bildung, Vermögen oder die Bereitschaft, seine Steuern zu zahlen, darüber, ob jemand wählen durfte oder nicht. Ein großer Teil des Volkes war von der politischen Teilhabe ausgeschlossen.

Wir haben es gestern gehört, auch das Wahlrecht der Frauen musste der herrschenden Klasse der Männer mühsam abgerungen werden. Auch heute noch gibt es eine beachtliche Zahl von Menschen in unserem Land, denen wir politische Mitbestimmung und Teilhabe verweigern und die wir dadurch diskriminieren. Das sind zum Teil Menschen mit Behinderung oder psychisch Kranke. Die größte Gruppe aber, die nach wie vor von dem Recht zu wählen ausgeschlossen ist, sind Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft.

Ich spreche ausdrücklich nicht von Ausländerinnen oder Ausländern. Viele von ihnen sind Mitbürgerinnen und Mitbürger, die hier seit Langem leben und aus vielfältigen Gründen bislang nicht die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben. Ein Grund

(Serpil Midyatli)

dafür liegt zum Beispiel darin, dass wir sie zwingen, sich zwischen zwei Staatsbürgerschaften zu entscheiden. Diese Debatte haben wir hier kürzlich geführt. Insofern kann die deutsche Staatsbürgerschaft oder die Übernahme der deutschen Staatsbürgerschaft aus unserer Sicht nicht die Voraussetzung für eine politische Teilhabe sein.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Es ist mehr als 20 Jahre her, dass sich SchleswigHolstein beim Bundesverfassungsgericht eine blutige Nase geholt hat, als versucht wurde, das kommunale Wahlrecht für Staatsangehörige einiger europäischer Länder einzuführen. In einem harschen Urteil des Verfassungsgerichts wurde beschieden, dass Ausländerinnen und Ausländer kein Wahlrecht besitzen dürfen. Das Gericht entschied damals: Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, können demokratische Legitimation nicht vermitteln.

Auch die CDU hat sich damals im Bund mit zweifelhaften Zitaten hervorgetan und eine nationale Demarkationslinie gezogen. Nur kurze Zeit später wurde der Vorstoß Schleswig-Holsteins gesetzliche Realität, und die CDU wurde einmal wieder von der gesellschaftlichen Realität überholt, und zwar mit dem Vertrag von Maastricht. Fortan durften alle Unionsbürgerinnen und -bürger in Kreisen und Gemeinden mitstimmen. Es ist nur konsequent, wenn wir nun gemeinsam mit der FDP fordern, Unionsbürgern das Wahlrecht für Landtagswahlen einräumen zu wollen. Ich danke Ihnen für Ihren Antrag.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, FDP und SSW)

Gemeinde- und Landtagswahlen sind zwar nicht direkt vergleichbar, dennoch ist die Diskriminierung auf den ersten Blick plausibel. Ich sage auf den ersten Blick, weil sich in der Tat schwierige juristische Fragen stellen, auf die Antworten gefunden werden müssen. Wir wollen diese Antworten finden. Rechtliche Bedenken könnten auch dem Antrag zum kommunalen Wahlrecht entgegengehalten werden. Wir wollen das kommunale Wahlrecht für alle, die hier leben.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, FDP, SSW und vereinzelt PIRATEN)

Ich meine, dass mit dem Vertrag von Maastricht der entscheidende Grundsatz durchbrochen wurde, nämlich der Satz: Nur wer Staatsangehöriger ist, darf wählen. Wenn dies nun nicht mehr zwangsläufig gelten muss, dann ist kein zwingendes Argu

ment mehr dahin gehend ersichtlich, dass trotzdem zwischen verschiedenen Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit unterschieden wird. Das Staatsvolk ist bereits heterogen, nicht nur die Bevölkerung. Deutschland ist ein Einwanderungsland, das muss sich auch im Wahlrecht widerspiegeln.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Die Ungerechtigkeiten liegen auf der Hand: Wieso dürfen Unionsbürgerinnen und -bürger wählen, die erst drei Monate ihren Wohnsitz in Deutschland haben, aber ein russischer Mitbürger darf dies selbst nach 20 Jahren Aufenthalt noch nicht? Wieso gehören die einen zum Staatsvolk, die anderen nicht? Das sind Menschen, die hier leben, die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, die dem Recht in Deutschland unterliegen, ihre Kinder in Kitas und Schulen schicken und nach deutschem Recht heiraten und geschieden werden. Einen Grund, dass diese Menschen im Wahlrecht diskriminiert werden müssen, kann ich nicht erkennen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, PIRATEN, SSW)

Der Bevölkerungsanteil derjenigen, die nicht wählen dürfen, wächst. Damit wächst auch das Demokratiedefizit in diesem Land. In dieser Welt, in der alles globalisiert ist und in der wir immer mehr Grenzen abbauen, müssen wir auch die Grenzen in unserer Demokratie abbauen. Deshalb: Lasst uns einen mutigen Schritt nach vorn gehen und einer Ausweitung des Wahlrechts zustimmen! - Danke.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Für die Abgeordneten des SSW hat Herr Abgeordneter Lars Harms das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man stelle sich einmal Folgendes vor: Da wird in einem Maschinenbaubetrieb ein Betriebsrat gewählt, und die türkischen Kollegen dürfen sich nicht beteiligen, weil sie keine EU-Bürger sind. Sie können also nicht wie alle anderen im Betrieb mitbestimmen, obwohl sie die gleiche Arbeit machen und von allen Abläufen genauso betroffen sind wie die deutschen Kollegen. Das klingt absurd, und das ist es dank der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes auch, und zwar nicht erst seit gestern oder vorgestern. Das Betriebsverfassungsgesetz hob be

(Eka von Kalben)

reits am 15. Januar 1972 in Sachen betrieblicher Mitbestimmung die Diskriminierung der Ausländer auf. Seitdem heißt es in § 7: „Wahlberechtigt sind alle Arbeitnehmer des Betriebs, die das 18. Lebensjahr vollendet haben.“ So einfach geht das, und zwar schon seit 40 Jahren.

Das Prinzip: Derjenige, der betroffen ist, soll mitbestimmen können, wird seit mehr als vier Jahrzehnten erfolgreich in der betrieblichen Praxis angewandt. Kritik an dieser Regelung kenne ich nicht. Sie ist etabliert und selbstverständlicher Teil der Arbeitswelt. Genau das fordern wir nun auch für die kommunale Ebene. Die absurde Unterscheidung nach dem Pass muss aufhören. Dabei sollte es keine Rolle spielen, ob ein Husumer nun einen norwegischen oder schwedischen Pass hat.

(Beifall SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bereits 1990 hatten wir ein entsprechendes Gesetz zur Kommunalwahl in Schleswig-Holstein, das zuließ, dass alle Bürger einer Stadt oder eines Dorfes dort auch wählen können. Damals kassierte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz ein, und zwar mit dem Verweis darauf, dass das Volk im Sinne des Grundgesetzes auf allen staatlichen Ebenen allein aus deutschen Staatsangehörigen bestehe. Zwischenzeitlich erhielten allerdings EU-Bürger das kommunale Wahlrecht, weil dies in allen EUStaaten so gehandhabt wurde.

Das Prinzip der Gegenseitigkeit führte zu einer entsprechenden Grundgesetzänderung. Artikel 28 gewährt ausdrücklich bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden denjenigen das passive und aktive Wahlrecht, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft besitzen. Darüber hinaus hat die Direktwahl zum EU-Parlament eine weitere Änderung gebracht. Die 99 deutschen Europaabgeordneten, die im Europaparlament deutsche Interessen vertreten, werden von allen Erwachsenen gewählt, die in Deutschland wohnen, und zwar unabhängig von ihrem Pass. Die einzige Einschränkung lautet: Es muss ein Pass eines EU-Staates sein.

Damit wurde die Bastion der demokratiewidrigen Fremdbestimmung, die einige Konservative immer noch im Wahlrecht für Nichtdeutsche ausmachen, nach Meinung aller Demokratieforscher ziemlich sturmreif geschossen. Seit der Verfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 1990 sind wir in das transnationale Rechtssystem der EU eingebunden, das ziemlich weitgehende Gesetzgebungskompetenzen hat. Das wird Ihnen jeder Schleswig-Hol

steiner sofort bestätigen können. Diese eingeführte Praxis hat für die kommunale und für die Landesebene Konsequenzen. Es sind nämlich keine Gründe zu erkennen, dass das Wohnsitzprinzip nicht auch bei anderen Wahlen gelten soll.

(Beifall SSW und SPD)

In der Kommunalpolitik ist das rechtlich ziemlich einfach, schließlich erlassen Kreistage keine Gesetze, und Gemeindevertretungen tun es schon gar nicht. Wir haben es auf der kommunalen Ebene mit einer Selbstverwaltung zu tun, die alle betrifft, die dort wohnen, und die deshalb auch von allen mitbestimmt werden sollte.

Auf der Landesebene sieht das anders aus. Bisher galt für eine gesetzgebende Versammlung wie zum Beispiel den Landtag, dass das Wahlrecht zu dieser Versammlung nur den Staatsbürgern vorbehalten ist. Ob diese Rechtsauffassung aufrechterhalten werden kann, ist zumindest fraglich, seitdem EUBürger deutsche Abgeordnete in das EU-Parlament entsenden können, denn diese Abgeordneten haben durchaus mit der Gesetzgebungskompetenz unseres Landtags vergleichbare Befugnisse. Salopp gesprochen kann man sogar sagen, dass EU-Direktiven und EU-Verordnungen oft tiefgreifendere Auswirkungen auf das Leben und auf das Rechtssystem bei uns haben, als es sich manch einer eingestehen will. Deshalb ist zu fragen, ob EU-Bürger daher nicht auch den Landtag mitwählen können, wenn sie durch ihre Stimme für ihre Europaabgeordneten schon einen hohen gesetzgeberischen Einfluss ausüben können.

(Vereinzelter Beifall SPD)

Meine Damen und Herren, ich bin sehr optimistisch, dass sich in einem ersten Schritt das kommunale Wahlrecht für Bürger aus sogenannten Drittstaaten durchsetzen wird. Wir werden dann sehen, ob ein Wahlrecht zum Landtag auch für EUBürger möglich sein wird. Der SSW würde dies in jedem Fall begrüßen. Daher bin ich der Auffassung, dass wir zusehen sollten, dass wir mit unseren beiden Initiativen in Gang kommen. Daher befürworte ich sehr, dass wir heute schon darüber abstimmen. Hier geht es um eine politische Entscheidung. Wir sollten gucken, ob wir in der Lage sein werden, dies politisch durchzusetzen. Das Signal ist wichtig, und das muss heute kommen.

(Beifall SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Lars Harms)

Wir kommen jetzt zu den Dreiminutenbeiträgen. Das Wort hat zunächst der Herr Abgeordnete Dr. Kai Dolgner.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Damerow, ich würde Ihnen bezüglich Ihrer juristischen Bedenken ja völlig recht geben, wenn wir hier eine Änderung des Landeswahlgesetzes und des Gemeindekreiswahlgesetzes vorgeschlagen hätten. Das haben wir aber nicht. Wir sind uns der grundsätzlichen Problematik durchaus bewusst. Aber Artikel 28 ist halt nicht unveränderlich. Deshalb ist es eine Frage des politischen Willens.

Bezüglich der Frage, was man glaubt, was Staatsvolk ist und was kein Staatsvolk ist, gibt es einen Unterschied.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Da nicken Sie. Das ist ja auch konstitutiv für die CDU. Im Staatsbürgerschaftsrecht haben wir das doch gehört: Ja, das ist unser Grundsatz.