Protocol of the Session on July 20, 2016

Ein Europa, das im Augenblick keinen Weg findet, die möglicherweise notwendige Operation am offenen Herzen durchzuführen und seine Institutionen zu reformieren und seinen Geist zu entwickeln, um mit 27 oder 28 Chirurginnen und Chirurgen diese

Operation vorzunehmen, weil man den Eindruck hat, dass sie doch noch nicht eine Sprache sprechen.

Obwohl wir gerade jetzt - das zeigt die Debatte in der britischen Bevölkerung - Entscheidungen brauchen, wenn wir über die Institution Europa nachdenken und die Lehren aus dem Brexit gemeinsam entwickeln wollen. Wollen wir mehr Europa, oder wollen wir weniger Europa, wollen wir mehr Freizügigkeit in Europa oder weniger Freizügigkeit, wollen wir mehr gemeinsame Ausgaben, ein verantwortlicheres Parlament oder ein weniger verantwortliches, wollen wir zurück zur Exekutive oder hin zur Legislative? Wollen wir dieses Europa, das Aufgaben übernimmt? In der Außenpolitik sind wir uns da meist ganz einig, aber wie ist es mit der Finanzpolitik, wie ist es mit der Innenpolitik, und wie ist es mit der Wirtschaftspolitik? Wollen wir zurück zum Europa der Nationalstaaten, oder wollen wir den Weg weitergehen, dass wir das Europäische Parlament stärken?

Es ist eine Debatte, die jetzt geführt werden muss, weil sie in ganz Europa ansteht. Was heißt das für uns in Schleswig-Holstein? Was bedeutet dieser Brexit für uns? - Es ist viel zu früh, um zu sagen, wie genau die ökonomischen und die gesellschaftlichen Auswirkungen sind.

Wenn wir uns aber die Top Ten des Außenhandels anschauen, stellen wir fest, wir haben im Jahr 2015 ein Handelsvolumen von 11 Milliarden €. Unter den zehn Besten sind acht EU-Länder. Acht EUStaaten, Dänemark an der Spitze, das Vereinigte Königreich auf Platz vier folgt unmittelbar, die anderen beiden - die USA und China - auch nur, weil wir als Teil dieses Handelseuropas verflochten und wettbewerbsfähig sind.

Wenn wir auf unsere jungen Menschen sehen, müssen wir uns fragen: Was bedeutet das für die Erasmus-Studenten, die in Großbritannien studieren? Was bedeutet das für den Wissenschaftsaustausch zwischen Schleswig-Holstein und Großbritannien? - Die ersten Antworten der Brexit-Befürworter lassen ja Befürchtungen real werden oder jedenfalls denkbar erscheinen, dass wir wieder in eine alte Zeit zurückfallen.

Wir stellen fest, dass der europäische Gedanke von den Menschen nicht mehr verstanden wird. Das, was die Mütter und Väter Europas nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, ist nicht mehr so vermittelbar, wie wir automatisch glaubten, dass es sei. Dieses Europa als Folge einer Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg, in dem man

glaubte, die ökonomische und gesellschaftliche Verflechtung könne eine Antwort auf dieses kriegerische Europa der Nationalstaaten - zuvorderst von Deutschland missbraucht - geben, wirkt auf junge Menschen erkennbar nicht mehr als ausreichendes Motiv, um zu sagen: Ja, das ist gut.

Wir haben uns an die Wohlfahrt unseres Europas gewöhnt. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir Reisefreiheit haben. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir im ganzen Europa lernen dürfen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir überall in Europa arbeiten und leben dürfen. Wir haben uns an all diese segensreichen Rechte gewöhnt, sie werden nicht mehr als etwas Besonderes angesehen; im internationalen Vergleich und in der Welt sind sie es aber.

Wenn man die Le Pens, die Wilders und die von Storchs dieses Europa nun renationalisieren ließe, würden wir schnell erleben, dass keines dieser Rechte einfach da war, sondern sie Teil einer zivilisatorischen Idee waren und hart errungen werden mussten. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass ein Kontinent so zusammenlebt. Andere Kontinente dieser Erde zeigen, dass das auch anders geht. Auch Europa kann wieder anders sein, wenn wir die zivilisatorische Idee wieder in die Schublade, die Le Pen, Wilders oder von Storch aufmachen, zurücklegen.

Meine Damen und Herren, darum geht es ganz entscheidend: Gelingt es uns, diese Idee wieder so zu erklären und wieder so dafür zu werben, dass wir nicht wieder in eine Zeit zurückfallen, die wir alle nicht mehr wollen? Ich jedenfalls will sie nicht mehr.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber die Gedenkfeier zu den Ereignissen in Düppel 1864 - die Ereignisse dort sind nun 152 Jahre her; ich stamme aus der fünften Generation danach - schwingt immer noch nach. Ich war der erste Ministerpräsident, der dort reden durfte. Obwohl es die fünfte Generation war, war es immer noch nicht selbstverständlich, dass das geschieht. Immer noch war eine Wunde spürbar, die das zu etwas Besonderem machte. Vielleicht ist es auch eine besondere schleswig-holsteinische Herausforderung, dass wir gerade als bewusst europäisches Land, das so in der Geschichte Europas verwoben ist, aufgefordert sind, uns Gedanken zu machen, wie diese neue europäische Geschichtserzählung für die jungen Menschen aussehen kann.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Bisher nur Groß- britannien!)

- Bisher nur Großbritannien, aber wir sehen in vielen europäischen Staaten wie den Niederlanden, Österreich, Frankreich sowie an den Debatten in Deutschland, sofern sie am rechten populistischen Rand ablaufen, welche Begeisterung mitschwingt, diesen Weg zu gehen und dieses Europa zurückzubringen. Wir als Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner sind aufgerufen, mit unseren europäischen Erfahrungen, mit Blick auf alles, was daran gut ist, und mit Blick darauf, woher wir kommen, dies zu einer neuen Erzählung zu spinnen und für die jungen Menschen zu formen, die diese wieder inspiriert.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Es ist mehr, als nach Sønderborg fahren zu können. Es ist mehr als Urlaub. Es ist mehr, als das Geld in den meisten europäischen Staaten nicht mehr wechseln zu müssen, die Teil der Eurozone sind. Es ist mehr!

Unsere Aufgabe, als fünfte Generation ist der sechsten und siebten Generation mitzugeben: Schaut nach Afrika, schaut nach Asien, schaut auf die vergleichbaren Situationen anderswo und versucht zu erfahren, warum wir dieses Europa brauchen.

Durch den Brexit erleben wir auch die Diskreditierung der Idee von direkter Demokratie. Dadurch dass diese Rechtspopulisten versuchen, komplizierte Fragen an den einfachen Rand zu drücken, sie auf ein Ja oder ein Nein zu fokussieren, erleben wir, dass direkte Demokratie diskreditiert wird, weil immer mehr sagen: Wir wollen nicht, dass durch ein Ja oder ein Nein fundamentale Entscheidungen getroffen werden.

Auch hierbei müssen wir - darauf haben wir noch keine kluge Antwort, ich habe auch noch keine gemeinsam darüber nachdenken: Wie können wir verhindern, dass künftig Halbwahrheiten und Unwahrheiten unwidersprochen unter das Volk gebracht werden und bei Abstimmungen scheinbar einfache Lösungen gewinnen? Keine dieser Behauptungen - das zeigte sich schon am ersten Tag nach dem Brexit - hat am Ende auch nur eine einzige Minute gehalten. Keine dieser Versprechungen, die auf Bussen in ganz London plakatiert worden sind, hat auch nur eine einzige Minute gehalten. Jeder, der bei Verstand war, wusste das. Aber sehr viele haben sich davon anregen lassen, aus meiner Sicht falsch abzustimmen.

(Ministerpräsident Torsten Albig)

Meine Damen und Herren, die neue europäische Erzählung muss mehr als eine Antwort auf den Zweiten Weltkrieg sein. Unsere Aufgabe wird es sein, sie zu formen. Denn wenn wir sie nicht geben und wenn dieser Weg weitergegangen würde, bedeutet dies für ein Land wie Schleswig-Holstein im Herzen Europas, das wie kaum ein anderes in dieses Europa und gerade in Nordeuropa eingewoben ist, und das kaum wie ein anderes profitiert, eine unmittelbare Gefährdung auch mit Blick auf seine Wohlfahrt und seinen Wohlstand. Darum geht es in dieser Debatte. Es geht darum, dagegenzuhalten. Man darf nicht so tun, als sei Europa schuld an Verwerfungen. Dieses Europa, wie wir sowie unsere Väter und Mütter es gebaut haben, ist die größte zivilisatorische Idee, die dieser Kontinent in seiner Geschichte erfahren hat.

Lassen Sie uns diese nicht durch Hinweise auf bürokratische Mängel diskreditieren, die es am Rande gibt. Es geht um die zivilisatorische Idee. Es geht nicht um die Frage, ob es zu wenige oder zu viele EU-Verordnungen gibt. Es geht um nichts weniger als um die zivilisatorische Idee Europas, die einen großen Fortschritt darstellt. Sie ist im Augenblick unter Beschuss. Darum wollen wir diskutieren. Danke.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat die vereinbarte Redezeit um 2 Minuten überzogen. Diese Redezeit steht jetzt zusätzlich allen anderen Abgeordneten ebenfalls zur Verfügung.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Antragsteller der Abgeordnete Lars Harms.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei einer Diskussion über die Brexit-Abstimmung ist dem SSW eines besonders wichtig: Die Abstimmung ist ohne Wenn und Aber anzuerkennen. Die Abstimmung gibt die Haltung in breiten Teilen der Bevölkerung Europas wider. Wir diskutieren daher nicht nur, wie die europäische Zusammenarbeit gestaltet werden kann, sondern auch, ob die EU so noch eine Zukunft hat. Das ist jedenfalls nach unserer Auffassung die ehrliche Frage, die wir uns stellen müssen.

Dazu kann ich im Namen des SSW sagen, dass die EU durchaus eine Zukunft hat, wenn sie sich zu ei

nem bürgernahen und nachhaltigen Projekt entwickelt. Dabei muss man immer wieder auf eines Rücksicht nehmen: Es gibt kein einheitliches Europa, und es wird auch nie ein einheitliches Europa geben. Europa ist Vielfalt; das wissen wir als Minderheiten nur zu genau.

(Beifall SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt deshalb auch große Unterschiede im Wertekanon in den einzelnen Staaten und den einzelnen Kulturen. Das, meine Damen und Herren, müssen wir akzeptieren. Wir müssen auf die anderen Staaten zugehen, und die Lösung ist, dass wir andere verstehen lernen.

Helmut Schmidt hat einmal gesagt:

„Heutzutage ist das Wichtigste zu lernen, wie man andere Völker versteht. Nur dann können sich die Nationen untereinander verstehen.“

Genauso ist es! Polen, Litauer, Tschechen oder Ungarn ticken aufgrund ihrer Geschichte und Traditionen anders als Deutsche oder Franzosen. Südeuropäer oder Skandinavier ticken wieder anders. Es gibt dabei kein Gut oder Schlecht. Wir müssen unterschiedliche Kulturen respektieren, um zueinanderfinden zu können. Auf dem Kompromissweg kann dies geschehen.

Die europäische Einigung ist in der Tat wichtig. Wichtiger ist aber, dass Identitäten und Kulturen erhalten bleiben können. Das geht nur mit Dezentralisierung und Deregulierung.

(Beifall SSW und vereinzelt SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen ist der Ruf von Sigmar Gabriel und Martin Schulz nach einem europäischen Superstaat der falsche Weg. Denn dieser Weg führt an den Bedenken der Bevölkerung vollständig vorbei.

(Beifall SSW und vereinzelt PIRATEN)

Wer sagt, die Europäische Kommission soll zu einer wahren europäischen Regierung umgebaut werden, und die einzelnen Nationalstaaten sollen nur noch in einer zweiten Kammer ein parlamentarisches Mitspracherecht haben, leistet jedweden Ressentiments Vorschub und bestätigt diese kritischen Haltungen sogar. Darin liegt eine richtig große Gefahr.

Im Übrigen - auch das ist uns vielleicht wichtig -, wenn ein solcher Superstaat mit einer Zentralregierung käme, in dem die Nationalstaaten nur noch ein

(Ministerpräsident Torsten Albig)

Mitspracherecht hätten, dann hätten wir hier als Landtag überhaupt kein Mitspracherecht mehr. Auch das mögen wir uns immer vor Augen halten. Ich glaube, dass darin eine große Gefahr liegt.

Der Weg der beiden Granden der Sozialdemokratie schafft eben nicht mehr Europa, sondern im Gegenteil, ich glaube sogar, das wäre im Endeffekt das Todesurteil für die vertiefte europäische Zusammenarbeit.

(Beifall Jette Waldinger-Thiering [SSW] und Dr. Ekkehard Klug [FDP])

Die einzelnen Staaten und Regionen müssen wieder mehr Einflussmöglichkeiten bekommen. Nationalstaat ist nicht mit Nationalismus gleichzusetzen. Europa besteht aus unterschiedlichen Nationen und Regionen. Deshalb ist es wichtig, diesen Nationen und Regionen weite Spielräume zu lassen, damit Gesetzgebung und Rechtsprechung in den regionalen und nationalen Traditionen ablaufen können.

Für uns ist es doch zum Beispiel nicht verständlich, warum öffentlich-rechtliche Sparkassen mit Europäischem Recht unvereinbar sein sollen - und das, obwohl wir inzwischen jahrhundertelange gute Erfahrung mit öffentlichen Sparkassen gemacht haben. Eine solche Überregulierung braucht niemand. Deshalb muss sich die EU hier und auch in vielen anderen Bereichen ändern.

Ich sage dies auch vor dem Hintergrund immer stärker werdender rechtspopulistischer Bewegungen. Sie nutzen es aus, wenn regionale und nationale Gepflogenheiten in einer gleichmacherischen EU keine Chance mehr haben. Genau das gilt es zu verhindern, meine Damen und Herren. Deshalb müssen auch wir Demokraten nationale und regionale Besonderheiten verteidigen. Das fängt in der Strukturpolitik an und zieht sich über die Sozialpolitik bis hin zur Minderheiten- und Sprachenpolitik. Überall muss Platz für nationale und regionale Lösungen sein. Andernfalls bricht die Akzeptanz in der Bevölkerung für Europa weg. Das nutzen nur die Rechtsradikalen und die Rechtspopulisten, das nützt uns als Demokraten nichts. Deshalb müssen wir auf den Ausgleich zwischen den Staaten, zwischen den souveränen Staaten, setzen.

(Beifall SSW)

Meine Damen und Herren, wenn es wirklich darum gehen soll, die EU zukunftsfähiger und attraktiver zu machen, dann geht es eher darum, wie sie wirtschaftlich weiterentwickelt wird und vor allem darum, wie sie sich in Zukunft sozialpolitisch aufstellt.

Noch einmal Helmut Schmidt. Der sagte:

„Wohl aber weiß ich, dass es uns Deutschen dauerhaft nicht gut gehen kann, wenn es anderen europäischen Nationen wesentlich schlechter geht.“