Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lange Zeit war es in politischen Kreisen sehr beliebt, zwar den europäischen Einigungsprozess in Sonntagsreden in den höchsten Tönen zu preisen, im politischen Alltag dann aber über Brüssel immer kräftig dann zu schimpfen, wenn es galt, zu Hause beim Wahlvolk von den eigenen Versäumnissen abzulenken. Dabei war und ist das Haupthindernis für durchtragende Entscheidungen nur allzu oft, dass im Rat die Vertreter und Vertreterinnen der Mitgliedsstaaten in erster Linie bemüht sind, den größten Teil der Vorteile für sich einzuheimsen. Das muss ehrlicherweise gesagt werden. Das gilt auch beim Asylrecht, das gilt auch für das Dublin-Verfahren und ebenso für Deutschland, das sich lange einen schlanken Fuß gemacht und
Das EU-Bashing hat so gut funktioniert, dass inzwischen einige Regierungschefs in Europa so richtig kalte Füße bekommen haben. Nicht nur Cameron, der nicht mehr weiß, wie er die von ihm selbst losgetretene Brexit-Stimmung im Land noch in den Griff bekommen soll. Wer die EU so lange schlechtgeredet hat, dem fällt es natürlich schwer, die eigenen Wählerinnen und Wähler von der Bedeutung der Union und den Erfolg des Gemeinwesens zu überzeugen. Die EU präsentierte in der Folge, um die Stimmung im Vereinigten Königreich gewogen zu halten, einen ziemlich schwachen Vorschlag für die Überarbeitung des Arbeitnehmerentsenderechts. Dazu werden wir heute später noch mehr hören.
Dabei ist die Wahrnehmung der Menschen ja richtig, dass Europa in der Flüchtlingskrise keine gemeinsame Antwort hatte, dass eine gemeinsame Position in außenpolitischen Fragen oftmals fehlte, dass im Umgang mit der Finanzkrise viele Fehler gemacht wurden und einiges mehr auf dem Rücken sozial Schwacher ausgetragen wurde. Ich erinnere an die Zahlen, die mehr als deutlich sind: In Spanien und in Griechenland beträgt die Jugendarbeitslosenquote fast 50 %.
Aber wir sollten bei der Analyse genau hinschauen und prüfen, wer an welcher Stelle Fehler macht und wer sich immer wieder wie entscheidet. Bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise gab es bisher kein gemeinsames Vorgehen; das liegt nicht daran, dass sich die Europäische Kommission, wie es gern dargestellt wird, immer nur mit Themen wie dem der Krümmung der Gurke beschäftigt.
Aber die Nationalisierungsstimmen in Europa sind darauf exakt der falsche Reflex. Ein demokratischeres Europa funktioniert nur, wenn die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt und auch wahrgenommen werden können. Das Gegenteil aber passiert.
Wir sehen das zum Beispiel in der Debatte um die Sicherung der EU-Außengrenzen. Die Europäische Kommission unterbreitet einen Vorschlag; der Europäische Rat beschließt erst einmal etwas völlig anderes, nämlich den EU-Türkei-Deal. Dieser wird gleich umgesetzt, bevor im Europäischen Parlament überhaupt darüber geredet werden kann. Das Gleiche gilt für das Brexit-Referendum. Der Ratspräsident der EU serviert den Briten ein Paket für den
Fall, dass sie in der EU bleiben und zustimmen. Und wo steht das Europäische Parlament? - Das Parlament steht außen vor. Das sind gravierende Demokratiedefizite.
Die Lösung besteht aber nicht in Volksbefragungen oder Volksabstimmungen. Ein Referendum in einem einzelnen Mitgliedsland hebelt das Mitentscheidungsrecht von allen Bürgerinnen und Bürgern der EU im demokratisch gewählten Parlament aus. Genau das darf nicht passieren. Wir brauchen eine Reform der Institutionen, eine Stärkung des Parlaments und Initiativrechte für das Parlament. Wenn es Abstimmungen gibt, dann sollte es sie überall in Europa geben.
Die EU ist mehr als eine Wirtschaftsunion. Im Zentrum steht der Konsens aller Mitgliedstaaten über die gemeinsamen Grundwerte. Im EU-Vertrag können wir nachlesen, dass sich die Werte auf die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich derer der Minderheiten gründen. Wir wissen, welche Migrationsbewegungen wir nach Europa haben und werden uns noch lange diesbezüglich bereithalten müssen.
Diese Werte zu fördern und ihre Einhaltung zu gewährleisten, dazu sind die Institutionen verpflichtet. Dazu sind die Mitgliedstaaten verpflichtet. Letztlich müssen auch wir, das Land Schleswig-Holstein, uns immer wieder in diesem Sinne einbringen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dem europäischen Prüfstand der Küstenkoalition kommt anscheinend Software von VW zum Einsatz; denn die europäische Realität in Europa wird in dem vorliegenden Antrag über weite Strecken ausgeblendet.
Das Thema „Subsidiarität“ kommt im Antrag nicht vor. Sie sprechen davon - das ist ja richtig -, dass Europa mehr ist als ein gemeinsamer Binnen
markt. Es ist auch eine gemeinsame Wertegemeinschaft. Dann muss man sich natürlich auch mit der Frage auseinandersetzen, wie Europa agieren und dafür sorgen soll, dass seine Werte, wie sie in den Aufnahmekriterien von Kopenhagen festgelegt worden sind, eingehalten werden. In einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten gibt es hieran mittlerweile erhebliche Zweifel. Man muss das Thema operationalisieren und darf nicht nur die eigene Hilflosigkeit dokumentieren, wie es im vorliegenden Antrag der Fall ist.
Es ist klar, dass ein soziales Europa mit gerechten Löhnen gewünscht wird. Aber diese Aussage ist allgemein und banal. Mir fehlt zumindest die Aussage, dass sich die Entwicklung sozialer Standards und die Entfaltung wirtschaftlicher Leistungskraft in einer Balance befinden müssen.
Ich denke, man muss auch sagen, dass das Ganze nicht darauf hinauslaufen kann, dass die wenigen wirtschaftlich sehr erfolgreichen Mitgliedstaaten über soziale Transfersysteme gemeinsame Standards auf deutschem Niveau finanzieren müssen. Das würde die Leistungskraft auch unseres Landes grenzenlos überfordern. Das heißt, wir müssen die EU erst einmal in allen Mitgliedsländern wirtschaftlich so stark machen, dass sie sich diese hohen Standards in Zukunft leisten kann.
Das Thema „Brexit“ taucht im vorliegenden Antrag auch nicht auf. Ich finde, es ist ein Problem, wenn demnächst das demokratische England möglicherweise aus der EU austritt und gleichzeitig beschleunigte Beitrittsverhandlungen mit der Halbdespotie Türkei geführt werden - aus naheliegenden Gründen.
Lieber Kollege Voß, Sie sprechen mit einer gewissen Häme darüber, dass Cameron die Quittung für seine europaskeptische Kritik bekomme. Aber ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass ein Ausscheiden Großbritanniens beziehungsweise Englands für die Europäische Union ein großes politisches Desaster wäre.
Wir müssen uns klarmachen: Die kleinen europäischen Länder sind teilweise Großmächte aus dem 19. oder 20. Jahrhundert. Diese kleinen europäischen Länder können auf der internationalen Bühne
nur dann noch Gehör finden, wenn wir gemeinsam als Europäische Union agieren und uns nicht immer weiter auseinanderdividieren lassen. Deshalb hätten die Anstrengungen mit Blick auf England, auf Großbritannien, anders sein müssen. Dass ausgerechnet der Präsident der USA den Briten am Stärksten ins Gewissen geredet hat, was diesen Punkt angeht, das finde ich schon bemerkenswert. Entsprechende Anstrengungen aus Europa selbst habe ich so nicht feststellen können.
Meine Damen und Herren, es kann sein, dass eine Abstimmung wie in den Niederlanden in die Binsen geht. Darauf wie Frau Harms, die Spitzeneuropapolitikerin der Grünen, oder wie der luxemburgische Außenminister Asselborn mit der Bemerkung zu reagieren, über solche europäischen Fragen sollte man besser nicht in einer Volksabstimmung befinden, ist vielleicht auch für Wähler mit einem bestimmten demokratischen Gespür in Europa nicht unbedingt sehr überzeugend.
Die Freizügigkeit, die in Europa gilt, ist ein hoher Wert. Wir teilen Ihre Einschätzung dazu. Wir wünschen uns auch, wie Sie es in Ihrem Antrag formulieren, eine Sicherung der Außengrenzen statt nationaler Abschottung. Aber man muss auch in der aktuellen Situation eine Antwort auf die Frage geben, was passiert, wenn die EU bei der Sicherung der Außengrenzen mehr oder weniger versagt. Dann nehmen die Nationalstaaten das Thema „Sicherung der Außengrenzen“ selbst in die Hand.
Eine Umfrage aus Frankreich in mehreren großen europäischen Staaten vom März diesen Jahres hat gezeigt, dass 66 % der Deutschen, 72 % der Franzosen und immerhin 60 % der Italiener in einem solchen Fall dafür wären, dass Grenzkontrollen auf nationaler Ebene durchgeführt würden.
Eine letzte Anmerkung zur europäischen Flüchtlingspolitik: Da liegt vieles im Argen. Aber solange es so ist wie jetzt, dass bei dem verabredeten Austausch von Personen aus Griechenland und der Türkei -
Nach dem Bericht von Frau Spoorendonk vorige Woche sind 37 Flüchtlinge nach Deutschland, 31 in die Niederlande und 11 Flüchtlinge nach Frankreich gekommen.
Ich beende meine Rede. Schade, dass Frau Spoorendonk nicht als Erste geredet hat. Sonst hätte ich noch eine Zugabe bekommen. - Danke.
Man kann sich auch nach der ersten Runde noch einmal melden. - Jetzt hat für die Fraktion der PIRATEN Frau Abgeordnete Angelika Beer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen ist in Anbetracht der aktuellen politischen Lage der Europäischen Union, des EU-Flüchtlingsdeals mit der Türkei und den letzten terroristischen Anschlägen kein richtiger Antrag, sondern allenfalls eine Parteitagsresolution, die eine Utopie umreißt.
Der vorliegende Antrag ist handwerklich einfach schlecht gemacht beziehungsweise politisch unzulänglich.
Sie erwähnen die Terroranschläge von Brüssel - die uns alle entsetzen. Haben Sie die Anschläge von Paris und die anderen Anschläge bereits vergessen?
Der Landtag soll sich zu einem freien, solidarischen und sozialen Europa, zu sozialer Gerechtigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit bekennen. Wie viel politischen Wert haben diese Worte in Warschau, in Budapest oder in Ankara? - Keinen.