Protocol of the Session on November 20, 2015

Ich erteile für die Landesregierung der Ministerin für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung, Kristin Alheit, das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich bedanke mich sehr dafür, dass heute Gelegenheit besteht, über die Situation der unbegleiteten minderjährigen

Flüchtlinge im Land zu reden, denn der derzeitige Zustrom von Flüchtlingen betrifft tatsächlich die Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen ganz besonders. Ich will - damit es meine Redezeit nicht zu sehr beansprucht - die Abkürzung „umA“, die seit dem letzten Bundesgesetzgebungsverfahren verwendet wird, auch in meiner Rede verwenden. Das ist die Abkürzung für unbegleitete minderjährige Ausländer.

Laut dem Bundesverwaltungsamt waren am 10. November 2015 im gesamten Bundesgebiet 54.000 und in Schleswig-Holstein allein 2.402 umA registriert. Zuständig für die Unterbringung sind die Jugendämter der Kreise und der kreisfreien Städte. Dabei gab es bisher bei den umA keinerlei Verteilmodus zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten - nicht hier im Land und auch insgesamt nicht zwischen den Ländern. Dort, wo sie aufgegriffen wurden, mussten sie vom zuständigen Jugendamt in Obhut genommen werden. Folge dabei war eine höchst ungleich verteilte Aufgabenlast, die in den am stärksten geforderten Kommunen bei uns - denjenigen, die an der A 7 gelegen sind -, kaum noch zu ertragen war. So hatte letzte Woche die Stadt Neumünster 417 umA zu betreuen. Demgegenüber gab es relativ viele Kreise, die lediglich zwischen 30 und 40 umA unterzubringen hatten.

Seit dem 1. November 2015 gilt nun das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher. Es beinhaltet eine bundesweite Verteilung von umA gemäß dem Königsteiner Schlüssel sowie eine Verteilung innerhalb der Länder. Ob SchleswigHolstein in diesem Verfahren mittelfristig ein abgebendes oder ein aufnehmendes Land sein wird, lässt sich derzeit noch nicht prognostizieren. Aber eines ist ganz klar: Aufgrund des hohen Zustromes müssen wir insgesamt in Schleswig-Holstein in jedem Fall absolut mit steigenden Zahlen rechnen.

Die Unterbringung von umA erfolgt grundsätzlich nach den allgemeinen Jugendhilfevorgaben des SGB VIII sowie den landesrechtlichen Konkretisierungen. Für die Kommunen ist allerdings eine Umsetzung dieser Vorgaben aufgrund des derzeitigen Zustromes faktisch unmöglich. Sie sind aufgrund ihrer Kapazität im Moment überhaupt nicht in der Lage, die benötigten Ausbauanstrengungen aufgrund dieser hohen Zugangszahlen rechtzeitig zu unternehmen. Diese besondere Lage verlangt dann auch von den örtlichen Jugendämtern bei ihren Unterbringungsentscheidungen und von uns als Landesjugendamt bei der Genehmigung von Ein

(Minister Reinhard Meyer)

richtungen eine überaus verantwortungsvolle Abwägung.

Darüber gibt es seit geraumer Zeit ganz intensive Gespräche und Abstimmungsprozesse zwischen allen Beteiligten. Das Ergebnis dieser Abwägung lautet, dass eine zeitlich befristete Unterbringung, abweichend von den üblichen Jugendhilfestandards, im Sinne des Kindeswohls in Kauf genommen werden muss.

(Unruhe - Glocke Präsident)

Die Alternative, um das einmal ganz klar zu sagen, wäre, an verschiedenen Stellen die Obdachlosigkeit von Minderjährigen in Kauf zu nehmen. Das Landesjugendamt hat diese Entscheidung in Absprache mit den örtlichen Jugendhilfeträgern in Form von Eckpunkten für Unterbringung, Versorgung und Betreuung von umA konkretisiert. Maßstab ist, eine Notversorgung bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Kindeswohls für die umA an jeder Stelle zu gewährleisten. Meine Staatsekretärin Anette Langner hat diese Eckpunkte in der vergangenen Woche im Sozialausschuss bereits vorgestellt. Sie liegen Ihnen auch als Umdruck vor.

Bei der Unterbringung von umA wird von räumlichen Standards der Jugendhilfe abgewichen. Die entsprechenden Baulichkeiten können im Moment schlicht in so kurzer Zeit nicht geschaffen werden, wie es der Zustrom notwendig machen würde. Abgewichen wird auch von den üblichen personellen Standards. Auch die für die pädagogische Arbeit in Einrichtungen erforderliche Betreuungsrelation ist kurzfristig nicht darstellbar. Dies betrifft einerseits die Unterbringung von umA in den stationären Einrichtungsformen, die das SGB VIII kennt, es betrifft aber auch quantitativ überwiegend eigene Einrichtungsformen.

Das sind sogenannte Inobhutnahme-Übergangslösungen. Diese Einrichtungen sind förmlich genehmigungspflichtig. Sie haben aber angesichts der Gegebenheiten einen reduzierten Ausstattungs- und Betreuungsstandard. Es geht hier wirklich darum, vorübergehend sichere Unterbringung mit pädagogischen Mindestbetreuungsstandards zu halten: über mindestens 15 Stunden täglich sowie außerhalb der Betreuungszeiten die Gewährleistung der Sicherheit sowie entsprechendes Personal.

Weiter können sogenannte Versorgungseinrichtungen zur Sicherstellung eines Mindestschutzumfangs für umA genehmigt werden. Hier ist die gleichzeitige Unterbringung von bis zu 20 umA je Gruppe möglich, wobei eine pädagogische Betreu

ung durch drei Fachkräfte und drei sozial erfahrene Personen je Betreuungseinheit vorausgesetzt wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja - um es ganz klar zu sagen -, das ist eine Ungleichbehandlung gegenüber dem allgemeinen Jugendhilfestandard, an den wir nicht heran und den wir - Sie wissen das - durch unsere neue KJVO tendenziell sogar verbessern wollen. Zu rechtfertigen ist dies nur durch die objektive Unmöglichkeit für die örtlich zuständigen Jugendämter, zurzeit eine standardkonforme Unterbringung für die große Masse der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zu realisieren, wobei - das muss man auch ganz klar sagen - das derzeit kein einziges Bundesland anders macht.

Perspektivisch - es ist mir ganz wichtig, das deutlich zu machen - muss es darum gehen, so schnell wie möglich die Kapazitäten zu schaffen, die Betreuung zu ermöglichen, die den Jugendlichen gerecht wird und die das notwendige Fundament für ihre Integration in unsere Gesellschaft bilden kann.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Das, meine Damen und Herren, muss sein und ist nach meiner Wahrnehmung das Ziel aller Akteure, auch der Landesregierung und in ganz besonderer Weise der Kommunen. - Danke schön.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Die Landesregierung hat die Redezeit um 1 Minute überzogen. Diese Zeit wird jetzt allen Fraktionen gutgeschrieben.

Für die SPD-Fraktion hat der Herr Abgeordnete Tobias von Pein das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Kinder und Jugendliche brauchen besondere Unterstützung - das wissen wir -, insbesondere wenn sie unter Not, Furcht, Krieg gelitten haben. Nach den großen Anstrengungen einer Reise, die kräftezehrend, abenteuerlich und gefährlich ist, braucht es Schutz, wenn man bei uns ankommt. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf, einen Rückzugsort, Schutz und vor allem persönliche Ansprechpartner, mit denen man über das, was man erlebt hat, sprechen kann.

(Ministerin Kristin Alheit)

Die meisten jungen Leute mit Fluchtgeschichte kommen aus Ländern zu uns, die mehr als unsicher sind: Afghanistan, Syrien, Somalia, Eritrea und andere Länder.

Da die Schutzquote aus diesen Ländern besonders hoch ist, werden viele dieser unbegleiteten Minderjährigen wahrscheinlich lange bei uns bleiben, auch wenn einige von ihnen auf eigene Faust weiterreisen und ihr Glück zum Beispiel in Schweden suchen.

Die vielen jungen Menschen brauchen Support, Hilfe und Integration. Das ist unser Maßstab. Unser Ziel ist es, dass diese Jungen - häufig handelt es sich ja um Jungen - Chancen auf ein gutes Leben bekommen. Darum geht es. Die aktuell hohen Zahlen stellen die Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Es sind aber auch nur Herausforderungen und keine Probleme, vor die uns das stellt. Das muss man an dieser Stelle auch deutlich sagen.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Angelika Beer [PIRATEN])

So sehe ich auch die Einigung auf Bundesebene, mit den großen Zahlen umzugehen und eine Verteilung vorzunehmen. Diese Einigung wird jetzt umgesetzt. Auch auf Landesebene haben wir uns darauf verständigt, die Zahlen etwas zu entzerren und eine gerechtere Verteilung zu organisieren. Die Landesregierung hat in dieser Situation Handlungsfähigkeit bewiesen und die Situation gut im Griff. Schon frühzeitig hat man sich mit den Akteuren an einen Tisch gesetzt und über Lösungen gesprochen.

Worum geht es? - Es geht um pragmatische Lösungen, um kurzfristige Flexibilisierung und um einen Übergang zu immer passgenauerem Support. Klar ist: Der Staat muss handlungsfähig sein. Das ist auch im Sinne unserer Glaubwürdigkeit wichtig. Daran darf man nicht durch starre oder unflexible Regelungen gehindert werden. Klar ist auch: Unsere hohen qualitativen Standards in der Kinder- und Jugendhilfe werden dabei nicht in Frage gestellt.

Die zeitlich eingegrenzten und befristeten Regelungsvorschläge helfen, um auf die aktuelle Situation zu reagieren. Jetzt geht es vor allem darum, die nächsten Monate gut zu organisieren und im Sinne der jungen Menschen jugendgerechte Unterkünfte zu schaffen. Freiräume und Selbstbestimmung müssen dabei auch ermöglicht werden. Support und Unterstützung müssen angeboten werden. Jugendliche und Kinder, egal ob sie geflüchtet sind oder nicht, haben alle die gleichen Rechte: das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Fürsorge, auf Privatsphäre, das Recht auf freie Meinungsäußerung und

Information und vor allen Dingen auch das Recht auf Integration.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Angelika Beer [PIRATEN])

Es stimmt, das ist eine sehr große Aufgabe. Aber es ist keine unmögliche Aufgabe. Auch hier gilt unser Ziel, Integration vom ersten Tag an zu ermöglichen. Daran müssen wir arbeiten. Ich denke, dass uns dieses Thema auch in den nächsten Monaten weiter begleiten wird. Ich begrüße, dass die CDU den Antrag gestellt hat, hier öfter zu berichten. Wir unterstützen das. Ich freue mich auf die Beratung über dieses Thema auch in dieser Runde. Denn die jungen Menschen sind es wert, dass man auch an dieser Stelle gesondert über sie diskutiert.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Angelika Beer [PIRATEN])

Für die CDU-Fraktion hat jetzt Frau Abgeordnete Astrid Damerow das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, zunächst einmal herzlichen Dank für Ihren Bericht, dessen Inhalt uns in der vergangenen Woche im Sozialausschuss bereits im Wesentlichen vorgestellt wurde und durch die Pressemitteilung heute nicht ganz überraschend kam.

Sie haben es vorhin berichtet: 2.402 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder Ausländer waren am 10. November 2015 in Schleswig-Holstein. Täglich kommen nach Berichten der Staatssekretärin 30 neue unbegleitete Kinder und Jugendliche nach Schleswig-Holstein. Dies ist eine Herausforderung für unsere Kommunen, für die Jugendämter in den Kreisen, aber auch für das Landesjugendamt.

Die von Ihnen genannten und in der letzten Woche bereits vorgestellten Maßnahmen sind notwendig, um die hohe Zahl der Kinder und Jugendlichen überhaupt unterbringen zu können. Notwendig ist natürlich auch, die Anforderungen an Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte, in denen sie untergebracht werden sollen, so zu gestalten, dass sie für begleitete und unbegleitete Minderjährige kinder- und jugendgerecht sind.

Grundsätzlich muss aber gelten: Die Grundsätze der Jugendhilfe dürfen nur so lange und in dem Maße außer Kraft gesetzt werden, wie es unumgäng

(Tobias von Pein)

lich notwendig ist. Es muss und sollte eine Ausnahme bleiben.

Gut ist, dass die Landesregierung jetzt erkannt hat, dass es notwendig ist, Maßnahmen zu ergreifen. Ich kann es Ihnen leider nicht ersparen: So ganz überraschend kommt das Ganze ja nicht. Deshalb fällt mir das Lob für Ihre Handlungsfähigkeit hier schwer beziehungsweise es ist mir unmöglich.

(Beifall CDU)

Wir haben bereits im März einen Bericht von der Landesregierung zu genau diesem Themenkreis gefordert. Wir haben darin im Übrigen auch gefordert, gemeinsam mit den Kommunen ein Integrationskonzept speziell für diese unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zu erstellen. Damals haben Sie uns erklärt, Sie sähen keinen Handlungsbedarf. Drei Monate später, im Sommer, haben Sie angekündigt, es solle nun doch Clearingzentren geben. Das fanden wir durchaus sinnvoll. Davon war aber bis November weiter nichts mehr zu hören. Heute haben Sie erkannt, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Deshalb kommt es jetzt zu diesen Maßnahmen. Man kann ja nur sagen: lieber spät als nie. Aber schöner wäre es schon gewesen, Sie hätten etwas früher begonnen. Denn überraschend war der starke Anstieg der Zahlen überhaupt nicht. Seit einem Jahr reden wir von nichts anderem.

(Beifall CDU und PIRATEN)

Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge oder Ausländer, die zu uns kommen, sind in aller Regel ausgesprochen bildungshungrig und motiviert und wollen hier Fuß fassen. Infolgedessen müssen wir sie unterstützen. Das hat Kollege von Pein eben schon sehr richtig dargestellt.

Aber wir wissen auch, dass wir zunehmend Probleme bekommen, vorhandene Traumata zu behandeln. Auch hier brauchen wir die notwendigen Strukturen. Wir sind hierbei noch lange nicht so weit, wie wir sein sollten. Fehlende Sprachkenntnisse sind selbstverständlich wie bei allen Flüchtlingen ein großes Problem. Auch das gehört zur gelingenden Integration dazu.

Diese Jugendlichen brauchen einen unkomplizierten Zugang zu schulischen und beruflichen Angeboten. Es muss gewährleistet sein, dass sie möglichst schnell in unserer Gesellschaft Fuß fassen können. Wir haben Teile dieses Themas gestern bereits diskutiert. Die Integrationsmaßnahmen, die wir teilweise ergreifen, gelten selbstverständlich für alle Flüchtlinge. Aber für diese spezielle Gruppe brauchen wir, meine ich, besondere Angebote. Wir

können sie nur noch einmal eindringlich auffordern, gemeinsam mit den Jugendämtern vor Ort, mit der Jugendhilfe und mit den Kommunen tragfähige Integrationskonzepte speziell für diese jungen Menschen zu erarbeiten.

(Beifall CDU und SPD)