Protocol of the Session on October 6, 2011

Wir müssen weg vom Marktradikalismus, wir müssen hin zu Gemeinwohl statt Eigennutz. Das ist unsere Aufgabe. Wir dürfen Menschen nicht ausgrenzen, auch nicht in unserem Bildungssystem. Kein Kind darf zurückgelassen werden, ob deutsch oder nicht deutsch, ob alleinerziehende Mutter oder in welchen Verhältnissen auch immer. Das ist unser Auftrag. Das ist der praktischste Beitrag, den man leisten kann, um solche Dinge zu verhindern und die Demokratie zu stärken.

Wir sind auch für die wirkliche Lösung der Probleme gewählt worden. Wenn wir das auf Dauer nicht einlösen können, wenn die Menschen sagen, es ist doch egal, wer da reagiert, wenn sie fragen, was hat uns die Demokratie noch zu bieten, dann ist das eine Gefahr für die Demokratie. Denn der Rechtsextremismus entsteht bei den Abgehängten, bei denen, die außerhalb der Gesellschaft stehen. Rechtspopulismus verfängt sich bei denen, die sich vom Abstieg bedroht fühlen. Es gibt durchaus auch größere Gruppen, die spießbürgerlich sagen: Wir sind ja gar nicht so wenige, und wir haben viel Zulauf.

In der letzten Woche haben wir eine Veranstaltung durchgeführt, deren Themen die Kernelemente unseres Antrags stützen. Dies sind: Ihr müsst euch kümmern, weil dieses rechtspopulistische Gedankengut wie Gift in die etablierten Parteien hineintröpfelt. Nicht nur die Volksparteien, alle anderen sind genauso betroffen. Röttgers „Kinder statt Inder“, Lafontaines Fremdarbeiterbeschimpfung, Westerwelles „soziale Hängematte und spätrömische Dekadenz“, die unsäglichen Plakate der FDP in Berlin und auch Sarrazins Kopftuchmädchen sind falsch, all das ist Gift, und all dem muss man entgegenarbeiten.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN, der LINKEN und SSW)

Das ist eine Aufgabe, die wir alle haben.

Ich glaube, das erfordert Mut, das erfordert Konsequenz und Entschlossenheit, aber auch Orientierung. Die Menschen wollen Orientierung. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind in keiner Weise veraltet, sondern sind für unser politisches Tun und für unsere Verantwortung eine tägliche Herausforderung. Wir sollten uns nicht um verschwundene

Haare und solche Dinge ernsthaft kümmern, sondern um die Dinge, die die Menschen hier im Lande interessieren, die von uns Perspektiven und Lösungen verlangen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Schluss komme ich zu unserem Antrag: Wir wünschen uns, dass unser Antrag an den Ausschuss überwiesen wird, weil wir zu diesem Thema eine Anhörung machen wollen - klassisches parlamentarisches Handeln. Die gesellschaftspolitischen Gruppen sollen angehört werden, bevor man gesetzgeberisch handelt, und nicht umgekehrt.

Ich wüsste gern noch, welchen armen Mitarbeiter Sie mit Ihrem liberalen Antrag, den Sie als Änderungsantrag formuliert haben, gequält haben? - Er ist doch intellektuell in einer Weise dürftig,

(Zuruf des Abgeordneten Christopher Vogt [FDP])

dass ich Sie herzlich bitte, sich zu überlegen, diesen lieber zurückzuziehen und stattdessen mit uns - ich habe in meiner eigenen Partei durchaus auch kritische Punkte angesprochen - in dem Sinne und in der Verantwortung, die wir als Demokratinnen und Demokraten gemeinsam in diesem Haus haben, zu diskutieren und den Antrag nicht mit Formulierungen wegzureden, in denen nichts mehr steht. Ich wünsche mir eine solche Diskussion. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten laden Sie dazu ein, sie mit uns engagiert zu führen.

(Beifall bei der SPD - Zuruf des Abgeordne- ten Dr. Christian von Boetticher [CDU])

Für die CDU-Fraktion erteile ich Herrn Abgeordneten Niclas Herbst das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, es gibt ein Populismusproblem, es gibt auch ein dezidiertes Rechtspopulismusproblem in Europa. Ich sage gleich vorweg: Es ist kein Reflex, wenn ich heute darauf hinweise, dass man auch Linkspopulismus betrachten sollte. Ich bin sehr wohl der Meinung, dass man Rechtspopulismus auch getrennt betrachten darf und dass man das auch dezidiert untersuchen darf. Ihr Antrag macht das leider gar nicht. Wenn Sie schon das intellektuelle Niveau anderer Anträge ansprechen, dann werfe ich Ihnen vor, dass Ihr Antrag zwar viele Wörter

(Dr. Ralf Stegner)

enthält - viel mehr als unserer -, im Inhalt aber genauso allgemein ist, bloß mit mehr Fehlern. Auf die weise ich Sie hin.

(Beifall bei CDU und FDP)

Es ist völlig klar, dass derzeit in Europa das Problem Rechtspopulismus - bei allen Definitionsproblemen, die wir konkret haben - das stärkste Populismusproblem ist. Nichtsdestotrotz müssten Sie in Ihrem Antrag das Thema definieren. Richtig ist: Es gibt keine allgemeingültige Definition für Populismus. Gerade dann müssten Sie aber in Ihrem Antrag definieren, was Sie meinen. Darauf verzichten Sie völlig, beziehungsweise Sie machen einige Andeutungen, die gar nicht speziell für den Rechtspopulismus gelten. Das mache ich Ihrem Antrag zum Vorwurf. Er benutzt zwar viele Wörter, bleibt jedoch völlig allgemein.

Unter Populismus verstehen wir landläufig opportunistische Politik, Politik, die einfache Lösungen für komplizierte Probleme anbietet, was nicht immer verkehrt sein muss. Wir müssen feststellen, dass Populismus auch hier manchmal stattfindet, dass Populismus in der Gesellschaft bis zu einem gewissen Maß akzeptiert ist, wenn beispielsweise im Wahlkampf in Berlin - wie ich höre - die Finanzprobleme der Stadt Berlin dadurch gelöst werden sollen, dass Menschen, die wegen Schwarzfahrens im Gefängnis sitzen, freigelassen werden sollen.

(Beifall des Abgeordneten Christopher Vogt [FDP])

Wenn ich zum Beispiel den Wahlkampfslogan „Reichtum für alle!“ höre, ist das Populismus, den wir akzeptieren.

(Beifall bei CDU und FDP)

Mit dem können wir auch leben. Gerade deshalb ist die Definitionsfrage, wo wir gefährlichen Populismus und Rechtspopulismus sehen, so wichtig. Da verweigern Sie sich einfach. Sie benutzen einfach das Wort als politischen Kampfbegriff. Das wird der Sache nicht gerecht.

(Beifall bei CDU und FDP)

Rechtspopulismus hat zum Beispiel oftmals das Merkmal, dass die NS-Zeit beschönigt wird - das lese ich nicht in Ihrem Antrag -, er bezieht sich oft auf nationalistische Mechanismen - das lese ich auch nicht in Ihrem Antrag -, er betreibt oftmals Kulturprotektionismus - das lese ich auch nicht in Ihrem Antrag -,

(Zuruf der Abgeordneten Serpil Midyatli [SPD])

er ist integrationsfeindlich und islamophob. Das ist im Übrigen das größte Problem, das gerade auch in den nordischen Ländern derzeit existiert. Das lese ich in Ihrem Antrag auch nicht. Wenn wir uns dezidiert nicht nur mit Populismus allgemein auseinandersetzen wollen, sondern mit Rechtspopulismus, dann gehört das in den Antrag rein. Das haben Sie versäumt.

(Beifall bei CDU und FDP)

Sie schreiben lediglich, Rechtspopulisten hätten Feindbilder. Das stimmt. Das ist aber oftmals ein wesentliches Merkmal von Populismus insgesamt. Das ist zum Beispiel auch Wesen Ihres Antrags. Darin ist natürlich auch ein Feindbild formuliert. Das ist noch kein Wesensmerkmal von Rechtspopulismus.

(Beifall bei der FDP)

Ihre Zitate, dass Ängste und Vorurteile und so weiter genutzt werden, gilt auch allgemein für Populisten.

(Zuruf von der SPD)

- Ja, das sage ich. Ich kann auch genug Beispiele beispielsweise aus Frankreich oder aktuell aus Griechenland anführen. Da gibt es noch ganz andere Populisten, denen wir uns auch widmen müssen.

Etwas, was ich an Ihrem Antrag auch wirklich kritikwürdig finde, ist Folgendes: Sie schreiben, die zentralen Werte demokratischer Gesellschaften seien Toleranz und Verständigung. Das ist natürlich richtig. Aber ich finde, zu den zentralen Werten einer Demokratie gehört noch mehr. Gerade in der Auseinandersetzung mit Populismus gehört es dazu, dass wir über die Achtung der Menschenwürde sprechen, über freie Entfaltung der Persönlichkeit, über Gleichberechtigung von Mann und Frau, über Glaubens- und Gewissensfreiheit.

(Dr. Ralf Stegner [SPD]: Wo ist das alles in Ihrem Antrag? - Serpil Midyatli [SPD]: Das steht in diesen fünf Zeilen drin?)

- Ich sage ja, unser Antrag ist genauso allgemein wie Ihrer, nur mit weniger Worten und mit weniger Fehlern.

(Beifall bei CDU und FDP)

Das Interessante ist doch - wenn Sie sich mit dem Phänomen Populismus wirklich beschäftigen -, dass gerade die Populisten selber die Grenzen zwischen Links- und Rechtspopulismus fließend halten wol

(Niclas Herbst)

len und das gerade auch machen. Es ist keine Verharmlosung des Rechtspopulismus, wenn man das hier anmerkt.

(Rasmus Andresen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unfassbar!)

Sie gehen leider gar nicht darauf ein. Es nährt eben den Verdacht, dass Sie hier eines machen wollen: Sie wollen den Begriff Rechtspopulismus als politischen Kampfbegriff etablieren, wollen ihn nach dem Motto „Wir und Ihr“ einsetzen. Sie haben es eben sogar geschafft, die Opfer von Norwegen innerhalb von 60 Sekunden mit Ihrer Forderung nach Mindestlohn zu verbinden. Das ist genau der falsche Weg.

(Anhaltender Beifall bei CDU und FDP - Zu- rufe von der SPD)

Das ist streng genommen der populistische Weg, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Sie haben - das muss ich Ihnen zugutehalten - eine Reihe von Zitaten gebracht, die richtig sind. Ich hätte das Zitat von Lafontaine gebracht. Sie haben recht: Auch „Kinder statt Inder“ war kein kluges politisches Zitat und hätte nicht fallen sollen. Aber wenn ich das Zitat noch einmal bringen darf, um zu zeigen, wie fließend die Grenzen manchmal sind: Das Zitat von Lafontaine selber am 14. Juni 2005 in Chemnitz lautete:

„Der Staat ist verpflichtet, zu verhindern, dass Familienväter und -Frauen“

- Familienväter und -Frauen, das allein ist schon interessant

(Heiterkeit)

„arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen.“

Wer mir sagen will, dass es keine fließenden Grenzen zwischen Links- und Rechtspopulismus geben kann, der hat dieses Zitat nicht gelesen. Ich will Ihnen aber zugutehalten, dass Sie dieses Zitat selbst genannt und darauf hingewiesen haben, dass Populismus in allen Parteien keinen Boden finden darf.