Protocol of the Session on March 23, 2011

eingreifen könnten. Eine Kernschmelze wäre dann vermutlich nicht mehr zu verhindern.

Wir handeln im Angesicht der Trümmer von Fukushima nicht unüberlegt und kurzfristig. Allerdings muss ich zugeben, dass es mir schwerfällt, den Argumenten derjenigen zu folgen, die uns noch vor vier Wochen erklärten, eine Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke sei unverzichtbar, um die Brücke zu den erneuerbaren Energien begehen zu können.

(Beifall bei FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SSW)

Bildlich kann man sagen, nun rennen sie um die Wette - aber auch dabei muss man aufpassen, dass man nicht ins Stolpern gerät.

Wer glaubt, eine auf § 19 Abs. 3 Atomgesetz gegründete Stilllegungsverfügung würde in drei Monaten zu einer Wiederanfahrgenehmigung mutieren, ist nicht von dieser Welt.

(Beifall bei FDP, SSW und vereinzelt bei CDU und SPD)

Unser Beispiel findet in anderen Ländern Nachahmer. Die als besonders sachlich und emotionslos geltenden Schweizer haben ihre Pläne für den Bau von neuen Atommeilern auf Eis gelegt. Selbst die russische Zeitung „Kommersant“ aus Moskau schrieb am letzten Mittwoch: „Die Perspektiven der Atomenergiewirtschaft werden sich grundlegend verändern.“

Ich weiß, dass einige unter uns nun denken, andere Technologien haben auch ihre Risiken, und trotzdem nutzen wir sie. Selbstverständlich ist die Geschichte des Fortschritts eine Geschichte der Pannen und Katastrophen. Nur wer bereit ist, Risiken einzugehen, kann daraus auch Chancen und Erfolge generieren. Die „Titanic“ ist gesunken, die Raumfähre „Challenger“ ist explodiert, und jährlich verunglücken Tausende von Menschen tödlich mit dem Auto. Aber es gibt einen gravierenden Unterschied: Im Gegensatz zur Atomkraft sind die Risiken entweder beherrschbar oder die Folgen des eingetretenen Schadens nicht dauerhaft.

Lassen Sie mich das am Beispiel eines Feuers in einem Kohlekraftwerk erläutern. Das Feuer wäre im Moment des Schreckens groß, würde aber in einigen Monaten, spätestens in einigen Jahren, nicht mehr feststellbar oder sichtbar sein. Vorübergehend wären die Schäden für die Gesundheit der Menschen in der Umgebung, für die Tiere und die Umwelt erheblich, aber die Betroffenen könnten nach dem Löschen des Brandes wieder in ihre gewohnte

Umgebung zurückkehren und ihr bis dahin geführtes Leben fortsetzen.

Bei einem GAU in einem Atomkraftwerk wäre eine Fortsetzung nicht mehr möglich. Die Menschen und die Natur in der Umgebung würden sich auf absehbare Zeit nicht mehr erholen. Man müsste eine Evakuierung einer gesamten Region, möglicherweise von Millionen von Menschen, veranlassen. Alle Vermögensgegenstände, ob mobile oder immobile, könnten nicht mehr genutzt werden, selbst wenn sie von dem eigentlichen Reaktorbrand nichts abbekommen hätten. Die massive Wanderungsbewegung, wie sie derzeit von Nord- nach Südjapan einsetzt, zeigt dieses erschreckende Ausmaß, ebenso, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Existenzvernichtung für die Landwirtschaft, die ihre Produkte nun nicht mehr anbieten kann.

Wir müssen uns eingestehen, es gibt keine 100-prozentige Sicherheit. Wir müssen uns fragen: Sind die Auswirkungen im schlimmsten eintreffenden Fall tragbar? - Bei der Kernenergie müssen wir das verneinen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich spreche mich dafür aus, dass alle Siedewasserreaktoren, die in Deutschland noch laufen, nicht wieder an das Netz gehen. Das ist die Beschlusslage der schleswig-holsteinischen FDP nicht erst seit gestern, sondern seit 2002. In Schleswig-Holstein betrifft das unsere beiden störanfälligen Meiler Krümmel und Brunsbüttel. Siedewasserreaktoren sind besonders risikoreich, da sie im Gegensatz zu Druckwasserreaktoren nur über einen Kühlkreislauf statt zwei Kühlkreisläufe verfügen. Die beschlossene Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke sollte durch ein Gesetz zurückgenommen werden. Auch diese Position meiner Partei in Schleswig-Holstein ist nicht neu.

Ich appelliere an die Betreiber und die Anteilseigner, an den Staatskonzern Vattenfall und insbesondere an die schwedische Regierung, Kollege Stegner - es ist ein Staatskonzern, mit dem wir es zu tun haben -, dass sie von einem Antrag auf Wiederanfahren der Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel absehen.

Ich begrüße die Aussage des Vattenfall-Sprechers, dass nun alles neu überdacht werden muss. Wir hätten eine völlig neue Ausgangslage durch die Vorkommnisse in Japan - so hat er erklärt - und müssten neu diskutieren. Diese Diskussion wollen wir aufnehmen, und ich bin Ministerpräsident Peter Harry Carstensen dankbar, dass dies bereits in der nächsten Woche geschieht.

(Beifall bei FDP und CDU)

(Wolfgang Kubicki)

Ich darf das ja mal sagen: Es ist ja nicht das erste Mal, dass Peter Harry Carstensen oder auch ich Vattenfall gebeten haben, auf den Wiederanfahrbetrieb von Krümmel und Brunsbüttel zu verzichten.

Die FDP-Landtagsfraktion wird sich dafür einsetzen, dass die von Rot-Grün vereinbarte Reststrommenge nicht vollständig genutzt wird. Es muss uns gelingen, die Laufzeit der Kernkraftwerke weiter zu verkürzen. Ich stimme den verschiedenen Energieexperten zu. Eine Umstellung bis 2020 ist möglich. Wir müssen die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, die Initiative ergreifen und einen neuen Weg aufzeigen.

Ich bin kein Mensch, der sagt, wir müssen deswegen den Kopf in den Sand stecken. Jede Gefahr birgt auch eine neue Chance.

Für die zukünftige Energieversorgung bestehen derzeit vier Optionen: Erstens. Ein Weiter-so mit dem bewussten weiteren Eingehen des Risikos der Kernspaltung. Zweitens. Der Ausbau der Kohlekraftwerke mit CCS-Technologie. Drittens. Der Ausbau der Kohlekraftwerke ohne CCS-Technologie und mit einem Anstieg des Kohlenstoffdioxidausstoßes. Viertens. Die Umstellung der Energieversorgung von fossilen auf regenerative Energiequellen.

Ich stimme, so denke ich, nach den Diskussionen der vergangenen Tage mit allen Fraktionen dieses Hauses überein, wenn ich Ihnen sage, dass wir die vierte Variante anstreben bei einem massiven Ausbau der regenerativen Energiequellen, um uns von fossilen Energieträgern und der Kernenergie unabhängig zu machen.

(Beifall bei FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und SSW)

Das Unglück von Fukushima stellt einen Paradigmenwechsel dar und ermöglicht es, die Energieversorgung sehr schnell zu wenden. In diesem Fall heißt das, wir müssen bisher in kleinen Zirkeln gedachte Lösungen voranbringen.

Das bis vor Kurzem in Schleswig-Holstein bestehende massive Akzeptanzproblem bei Windkraftanlagen hat sich mit den schrecklichen Ereignissen in Fukushima relativiert. Seit dem 11. März 2011 ist dieses Akzeptanzproblem der Furcht vor der Atomkraft gewichen. Viele Projekte, die bisher blockiert wurden - REpower hat mir mitgeteilt: Allein 48 Projekte des Repowerings werden durch Initiativen vor Ort blockiert -, werden neu diskutiert. Dieses Denken in neuen Sphären ist ein dynamischer Prozess, der uns vor eine Vielzahl von Her

ausforderungen stellt, dadurch zugleich aber auch neue Chancen für uns alle eröffnet. Die Bevölkerung ist für Veränderungen nicht nur offen, sondern sie erwartet sie jetzt auch nachdrücklich.

Konkret bedeutet das auf Landesebene Folgendes: Wir müssen die planungsrechtlichen Voraussetzungen für erneuerbare Energien, insbesondere Windenergie nachhaltig verbessern. Wir müssen die weiten Mindestabstände verkleinern. Dabei reicht es nicht, dass wir dies nur auf Wohngebiete beziehen. Wir sollten auch den Abstand zu den Straßen auf die bundesgesetzlichen Regelungen zurückführen. Wir müssen die Windeignungsflächen mittelfristig von 1,5 % der Landesfläche nochmals deutlich anheben.

Wir sollten die restriktiven Maßnahmen des Repowerings im Landesentwicklungsplan zum Großteil zurücknehmen beziehungsweise deutlich eindämmen. Wir müssen das Kriterium des räumlich-funktional zusammenhängenden Landschaftsbildes abschaffen. Wir müssen den Flächenausgleich bei Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes hinterfragen. Der Ausbau der regenerativen Quellen hat eine solch immense Wichtigkeit, dass wir jedenfalls vorübergehend auf dieses Instrument verzichten sollten.

(Beifall bei FDP, CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wir müssen im Bund darauf drängen, dass der Ausbau der Netze von den Windkraftanlagen im Norden zu den Verbrauchern im Süden beschleunigt wird. Wir müssen gleichzeitig die Speicherkapazitäten für regenerative Energien verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht richtig sein, dass die Trassenführung in den Süden von 22.000 Einwendungen begleitet wird, die bei jetzigem Planungsverfahren im Ergebnis dazu führen, dass diese Trasse in den nächsten hundert Jahren nicht fertiggestellt werden kann.

(Beifall bei FDP, CDU und vereinzelt bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nur um die kurzfristige Speicherung im Bundesgebiet, weshalb wir natürlich auch die Flächen, die andere für CCS-Speicherung vorsehen, dringend brauchen, um die Windenergie grundlastfähig zu machen. In Schleswig-Holstein haben wir entsprechende Möglichkeiten.

Wir brauchen nicht nur die kurzfristige Speicherung im Bundesgebiet, sondern auch die große Speicherung der Energiemengen in den skandinavi

(Wolfgang Kubicki)

schen Fjorden. Die Idee des Supergrids sollte vorangebracht werden.

Ein gutes Beispiel, wie Planung, Umsetzung und Bau beschleunigt werden können, haben die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit gezeigt. Wir können nicht mehr einzelne Bedenken berücksichtigen, wenn wir unser großes Ziel des Umbaus der Energieversorgung im 21. Jahrhundert nicht gefährden wollen. Dies - das sage ich ausdrücklich als Vertreter einer Rechtsstaatspartei und als Anwalt - bedeutet auch ein Weniger an direktem Einfluss der Bürger und eine Konzentration der rechtsstaatlichen Abläufe. Wenn - ich habe es gesagt - die Trassenführung nach Bayern mit 22.000 Einsprüchen belegt ist, dann ist eine solche Konzentration nötig; denn der Netzausbau ist der Dreh- und Angelpunkt. Ohne Netzausbau sind alle unsere Überlegungen des Umswitchens obsolet.

(Beifall bei FDP, CDU und SSW)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies muss wirklich zu einem Umdenken in unseren Reihen führen. Ich möchte hierbei insbesondere an die Grünen appellieren, und das sollte nicht als Angriff missverstanden werden: Es kann nicht sein - ich beziehe mich hierbei auf Aussagen Ihres Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Jürgen Trittin -, dass wir heute den Ausbau der Windenergie beschleunigen und morgen den Widerstand vor Ort gegen neue Leitungen oder Pumpspeicherkraftwerke organisieren.

(Beifall bei FDP und CDU)

Wir werden, wenn wir den Atomausstieg beschleunigen wollen, kurzfristig nicht auf fossile Energiequellen verzichten können. Dabei müssen wir sowohl den Neubau von Kohlekraftwerken mit einem hohen Wirkungsgrad und ohne CCS diskutieren als auch über Gaskraftwerke reden. Gas kann schnell und flexibel eingesetzt werden, um fehlende Strommengen auszugleichen. Zudem ist es im Vergleich zu den anderen fossilen Energieträgern klimaschonend. Das Problem ist, dass wir bei diesem Rohstoff bisher von einem Importeur abhängig sind und dass wir nicht ausschließen können, dass dieses Gas als politische Waffe eingesetzt wird. Wir können - lieber Herr Kollege von Boetticher, das gilt auch für die Überlegungen zu SolarTec - wir können unsere Energieversorgung nicht einseitig von der Macht politischer Despoten in einzelnen Ländern abhängig machen. Auch im Hinblick hierauf ist die Zeit gekommen umzudenken.

(Beifall bei FDP, CDU, SSW und vereinzelt bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen auch daran denken, die Möglichkeiten von Flüssiggas wieder zu nutzen. Dies diversifiziert nicht nur unsere Bezugsquellen, sondern ist zugleich auch günstiger als langfristige Lieferverträge, die an den Ölpreis gekoppelt sind. Ich nehme zur Kenntnis, dass das Emirat Katar auch hinsichtlich der Frage der Investitionen in diesem Bereich Offenheit signalisiert hat und die Bereitschaft, sich hier zu engagieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns zudem davon verabschieden, dass wir große, zentrale und schwerfällige Anlagen als einzige sinnvolle Energiequelle betrachten.

(Beifall bei SPD und der LINKEN)

Wir sollten uns ein Beispiel an der Natur nehmen. Deshalb sollten wir vielleicht nicht einzelne verwundbare große Gaskraftwerke oder große Kohlekraftwerke bauen, sondern Zigtausende hoch effiziente Minikraftwerke.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Unternehmen LichtBlick hat hierzu ein geniales Konzept vorgestellt. Je nach Bedarf und Marktlage sollen sich zukünftig 1.000, 10.000 oder 100.000 der erdgasbetriebenen Blockheizkraftwerke blitzschnell zu einer Art virtuellem Großkraftwerk zusammenschalten können. Das System wurde bereits bei einem Feldversuch in Hamburg erfolgreich getestet. Auch wir sollten die Möglichkeit ergreifen, dies voranzutreiben;

(Beifall)

denn der Wirkungsgrad des Blockheizkraftwerks liegt bei unvorstellbaren 94 %.

Die Natur kennt übrigens keine zentralen Steuerungseinheiten. Sie ist getrieben von einer Vielzahl kleinteiliger, flexibler Anlagen, die unabhängig voneinander agieren, sodass es beim Ausfall einer Anlage nicht zum Zusammenbruch des ganzen Systems kommen kann.

Der Umstieg von fossilen auf regenerative Energieträger ermöglicht neue Perspektiven und Jobchancen. Er schafft für neue Produkte weltweit neue Absatzchancen und vermindert auch die Abhängigkeit von Importquellen in Ländern, die uns nicht nur positiv gesonnen sind. Die Chancen, die sich uns bieten, sind immens. Die Möglichkeiten sind da; wir müssen nur nach ihnen greifen. Ich sage: Wir müssen es jetzt tun, und wir müssen es schnell tun.