Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich Herrn Abgeordneten Bernd Voß das Wort.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Einsatz der letzten Wochen und für den Bericht, der heute vorgelegt wurde. Ich möchte an dieser Stelle nicht wieder alles aufführen, was wir in den letzten Wochen kritisiert und wo Defizite gelegen haben. Sie haben eingeschränkt „im Prinzip“ hat alles funktioniert. Von daher möchte ich Sie heute vom Vortragen der Liste entlasten. Zugleich möchte ich aber darauf hinweisen, dass wir erst am Tag 13 nach der Krise eine Internetplattform bekommen haben, bei der sich Verbraucherinnen und Verbraucher entsprechend informieren konnten, und dass es sehr, sehr lange gedauert hat, bis man überhaupt einen Überblick hatte, was nach Schleswig-Holstein gekommen ist. Es gibt eine ganz lange Liste, anhand der man gucken muss, was schiefgegangen ist. Die Berufsverbände, die stolz sagen: Unser QS hat funktioniert. Man wird noch intensiv darüber reden müssen, was hier alles schiefgegangen ist.
Lebensmittelskandale gehen in Mitteleuropa meist von Futtermitteln aus. Sehr oft ist Dioxin beteiligt. Lebensmittelskandale wiederholten sich in den letzten zehn Jahren mindestens einmal jährlich. Dann werden die Aktionspläne vorgestellt. Die Punkte des jetzigen Aktionsplans hatten wir zum großen Teil auch bereits zu Herrn Seehofers Zeiten, nur wurden sie ungenügend umgesetzt. In dieses Bild passen auch Äußerungen des ehemaligen Umweltministers und angehenden - ich glaube, es ist richtig tituliert - Ministerpräsidentenkandidaten, Herrn von Boetticher. Er redete beim Neujahrsempfang in Schenefeld vom Geschäft der Medien mit der Angst und machte deutlich, dass nie eine Lebensgefahr von dioxinbelasteten Lebensmitteln ausgegangen sei. Außerdem sei es ein Irrglaube, dass man so etwas in Zukunft verhindern könne.
(Zuruf des Abgeordneten Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Dr. Christi- an von Boetticher [CDU]: Das stimmt ja auch!)
An dieser Stelle möchte ich Frau Rumpf abgewandelt zitieren: Mit solchen Äußerungen verspielt er das gewachsene und zukünftige Vertrauen von Verbraucherinnen und Verbrauchern in die Produkte unseres Landes.
Der amtierende Ministerpräsident ist da schon etwas konsequenter. Ich zitiere aus der Presse, dass er härtere Strafen fordert.
Wenn es dann an eine tiefgehende systematische Ursachenbekämpfung geht, wird gern von einzelnen Kriminellen geredet.
Dass aber auch die Raiffeisen-Warengenossenschaft als Abnehmer belasteter Futterfette, durch Unterschlagung von Lieferlisten tief in diesen Fall verstrickt ist, macht eines ausgesprochen deutlich: Es gibt neben diesem einen schwarzen Schaf viele scheinbar ahnungslose weiße Schafe. Sie haben es erst durch den Handel mit diesen Hasardeuren möglich gemacht, dass eine lukrative kriminelle Geschäftemacherei, eine systematische Entsorgung von Giftmüll in die Futtermittelkette und die Lebensmittelkette stattfinden konnte. Daher gehören auch diejenigen öffentlich genannt, die unmittelbar mit diesen schwarzen Schafen Handel getrieben haben. Öffentlichkeit und die Gefahr, die Reputation zu verlieren, ist schließlich - um es in die klassische Sprache zu bringen - ein ganz entscheidender ökonomischer Faktor. An dieser Stelle kann man sie treffen und erziehen. Wir wissen bis heute nicht, wer die vergifteten Chargen aus Uetersen oder Bösel überhaupt bezogen hat. Transparenz und Öffentlichkeit sind erste und zentrale Forderungen.
Es gibt zugleich zentrale Forderungen für eine Reform des Futtermittelrechts, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, sind sie aber nicht. Die Futtermittelwirtschaft - europaweit, bundesweit, landesweit - hat es immer wieder geschafft, zu verhindern, dass wir ein Reinheitsgebot bekommen, mit einer rechtlich verbindlichen Positivliste, die aufführt, was in Futtermitteln enthalten sein darf.
Eine weitere Forderung ist die offene Deklaration, was darin enthalten ist, in welchen Mengen, von wem erzeugt - eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Ich betone noch einmal, dass wir eine Erklärung brauchen, dass kein Verschneiden von Zulieferkomponenten in die Futtermittelkette hinein stattgefunden hat.
Die Forderung nach einer verschuldensunabhängigen Haftung ist heute bereits mehrfach genannt worden. Sie muss endlich umgesetzt werden. Das schließt sich hier an. Wir können die Forderungen des 14-Punkte-Plans der Ministerin Aigner und der Landes- und Bundesminister für Verbraucher
schutz erst einmal zur Kenntnis nehmen. Wir müssen aber auch sehen, dass in diesen 14 Punkten genug Scheunentore sind, durch die sich wieder entsprechend neue Machenschaften auftun können. Es sind genug „Klöndeeldören“ - wenn ich das einmal so norddeutsch sagen darf - in diesem 14-PunkteProgramm, wo sich auch Politik und Länder wieder entsprechend zurückziehen können, wenn der Rauch verflogen ist, man nicht mehr darüber redete und der Umsetzungsdruck nicht mehr so groß ist. Entscheidend bleibt letztlich, was umgesetzt wird.
In den letzten Tagen scheint die Bereitschaft da zu sein, auch im nationalen Alleingang etwas umzusetzen. Aber erst gestern hat sich Bundesministerin Aigner bei den europäischen Kollegen mit zentralen Forderungen nicht durchsetzen können - Haftpflichtpositivliste.
Die Krise hat ihren Ursprung in Schleswig-Holstein. Auch wenn die Systeme der Eigenkontrolle an Haupt und Haaren reformiert werden, müssen wir im Grunde erst einmal abstecken, wo wir kontrollieren wollen und wo wir kontrollieren müssen. Wir müssen überblicken, wie die Unternehmen verflochten sind, mit wem die Unternehmen ihre Gewinne machen. Es ist besser, ein riskantes Unternehmen am Anfang der Futtermittelkette zu kontrollieren, als Millionen von Eiern und Hühnerbraten hinterherzulaufen.
Es wird zu einer Aufstockung der bisher 3,5 Stellen in der Futtermittelkontrolle in Schleswig-Holstein kommen müssen. Für die Finanzierung der öffentlichen Kontrollen brauchen wir eine rechtliche Möglichkeit, um branchenspezifisch risikobasierte Umlagen zu erheben. Dafür muss sich das Land einsetzen. Frau Ministerin, Sie haben es aufgegriffen. Sie haben angefangen. Die Kollegen sind noch nicht eingestiegen. Wir hätten bereits im Herbst damit anfangen müssen, als klar war, wie eng die Finanzbasis bei uns in diesem Bereich ist.
Die deutsche und die schleswig-holsteinische Agrar- und Ernährungspolitik ist auf billige, am Weltmarkt orientierte Massenerzeugung ausgerichtet. Die Exportstrategie ist den Bauern nicht unbedingt gut bekommen. So ist allein im Jahr 2008 jeder sechste Schweinehalter in Deutschland ausge
stiegen. Das sind über 14.000 Betriebe. Auf die zerstörerische Wirkung dieser offensiven Exportstrategie für die regionalen Märkte der Länder in der Dritten Welt will ich an dieser Stelle nicht eingehen; auch nicht darauf, dass 70 % der Eiweißfuttermittel importiert werden mussten, um diese intensive Tierhaltung bei uns überhaupt betreiben zu können.
Aber man hat Betriebe in ein hochriskantes System der Tierhaltung reinlaufen lassen. Jetzt sind diese Märkte infolge der europaweiten und weltweiten Folgen des Futtermittelskandals zusammengebrochen. Die Europäische Union wird mit öffentlichem Geld eine private Lagerhaltung der Schweinefleischberge finanzieren. Ich lasse an dieser Stelle eine Bewertung offen.
Der Besuch der europäischen Futtermittelkontrolleure gestern in Schleswig-Holstein ist vor dem Hintergrund der europaweiten Folgen und weltweiten Auswirkungen, die von Schleswig-Holstein ausgegangen sind, nicht als reiner Höflichkeitsbesuch zu verstehen.
Der Skandal zeigt aber auch: Wir haben die dringende Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik hin zu einer fairen bäuerlichen, tier- und umweltgerechten Landwirtschaft,
einer bodengebundenen Tier- und Lebensmittelproduktion. Das ist gut für Wasser, Artenvielfalt und ländliche Wirtschaftsentwicklung.
Das immer größer werdende Ausmaß der Belastung, die monatelang unbemerkte Vergiftung von Verbraucherinnen und Verbrauchern mit Produkten der Futtermittelkette und der Massentierhaltung zeigen, dass die Agrarindustrie ihre selbst produzierten Probleme nicht in den Griff bekommt.
Bei diesen Vorzeichen ist es falsch zu sagen, wir brauchen keine Agrarwende, wir brauchen keine Neuausrichtung der Agrarpolitik, wir machen weiter mit der Exportstrategie. Das ist falsch und schädlich für das Land. Wir müssen aus diesem Konflikt alle endlich einmal lernen, dass es vorangehen muss.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Michael von Abercron?
Herr Kollege Voss, Sie haben eben angedeutet, dass sich die Belastung der Nahrungsmittel mit Schadstoffen erhöht habe. Können Sie darstellen, oder wissen Sie, wie sich die Belastung der Dioxine gerade in den letzten zehn Jahren bei unseren Nahrungsmitteln entwickelt hat?
- Ich glaube, Sie haben den Ausführungen nicht genau gelauscht. Es ist richtig, dass durch die von uns eingeleitete Umweltpolitik die sogenannte Hintergrundbelastung im Bereich der Dioxine heruntergegangen ist.
Es geht an dieser Stelle aber darum, dass wir durch kriminelle Machenschaften eine systematische Entsorgung haben. Dadurch werden Dioxine unnötigerweise wieder in die Nahrungsmittelkette und in die Futtermittelkette eingebracht.
Ich denke, es wird an dieser Stelle ausgesprochen deutlich, dass dies über Monate geschehen ist. Ich weiß nicht, was Sie hier in Abrede stellen wollen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind einmal wieder in die Agrar- und in die Strukturpolitik abgewichen. Wir wollten über die Frage diskutieren: Dioxinskandal oder nicht. Daher werde ich zum Thema Dioxin sprechen und nicht nur zur Agrarpolitik. Herr Voß, ich denke, dazu kommen wir in zweieinhalb Stunden.
- Muss es nicht, dazu kommen wir. Waren die Auswirkungen des Dioxinskandals wirklich so gravierend, oder waren sie überzeichnet?