Protocol of the Session on November 18, 2010

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN - Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, versuchen Sie, noch Einfluss zu nehmen; für Transparenz und Nachvollziehbarkeit, für angemessene Regelsätze und ein angemessenes Existenzminimum, für Chancengleichheit und Bildungsteilhabe. Das wäre eine gute Nachricht für die Arbeitslosen in Schleswig-Holstein. Den Anträgen von SPD und der LINKEN werden wir gern zustimmen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, der LINKEN und SSW)

Für die SPD-Fraktion erteile ich dem Fraktionsvorsitzenden Dr. Ralf Stegner das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die konkrete Ausgestaltung der Sozialgesetzgebung ist bereits mehrfach hier im Plenum Diskussionsthema gewesen. Seit nunmehr fast sechs Jahren steht das Stichwort Hartz IV für einen politischen Dauerkonflikt. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war grundsätzlich richtig; das Prinzip Fördern und Fordern auch. Ich erinnere mich gut, dass dies damals im Vermittlungsausschuss unter der aktiven Beteiligung von Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Angela Merkel und Guido Westerwelle ausgehandelt wurde. Dennoch ist es so, dass die ganze Sache primär der Sozialdemokratie geschadet hat.

Aus dieser Entwicklung, nämlich der problematischen Anwendungspraxis und der Wahrnehmung

(Dr. Marret Bohn)

bei den Bürgerinnen und Bürgern, haben wir unsere Lehren gezogen. Als Politiker sollte man nicht weitreichende Gesetze beschließen und sich dann nach dem Motto „abgehakt“ einem neuen Thema widmen. Nein, wir müssen uns auch gefallen lassen, dass Gesetze hinterfragt und im Detail kritischen Prüfungen unterzogen werden.

Da sich die Gesellschaft einem permanenten Wandel unterzieht, müssen wir auch die Gesetze der Realität anpassen. Das gilt erst recht, wenn 7,7 Millionen Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind und wenn zwei Millionen Kinder statistisch als arm gelten.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In diesem Fall hat uns nicht Einsicht, sondern ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu schnellerem Handeln gezwungen und eine Neuberechnung der Regelsätze gefordert. Frau von der Leyen jubelte am Tag der Urteilsverkündung - ich zitiere:

„Heute ist die Bildung der Kinder der große Sieger.“

Was ist davon übrig geblieben? - Der vorgelegte Gesetzentwurf der schwarz-gelben Bundesregierung bleibt meilenweit hinter den Ankündigungen, vor allem aber hinter den Erwartungen der Menschen und den Anforderungen einer gerechten sozialpolitischen Weichenstellung zurück. Es geht eben nicht um Banker, Hoteliers, Energiekonzerne oder die Pharmaindustrie.

(Zurufe von der FDP)

Es geht um arme Kinder und deren Eltern, und die haben bei Konservativen und Liberalen leider keine Lobby.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Bei den Regelsätzen lassen Sie für die Erwachsenen doch tatsächlich 5 € springen. Leistungsberechtigte Kinder und Jugendliche bekommen nun ein eigenständiges Sozialgeld, gestaffelt nach Altersgruppen. Die Sätze sind aber unverändert. Warum? Weil Sie bei den statistischen Referenzgrößen getrickst haben. Dann hatte Frau Merkels PR-Abteilung die Idee, das Sozialgeld um ein sogenanntes Bildungspaket zu ergänzen. Das klingt gut. Es wäre sehr wünschenswert, wenn Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben für die Kinder von Geringverdienern und Transferempfängern tatsächlich verbessert würden; geben wir doch gerade einmal 4,7 % unseres Bruttosozialprodukts für Bil

dung aus; deutlich weniger als der OECD-Schnitt und übrigens die Hälfte dessen, was Island oder die USA ausgeben.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Was ist also richtig für Schülerinnen und Schüler und für Kinder in der Kita? - Für sie müssten Verbesserungen stattfinden und eben nicht nur das, was angekündigt wird. Alle Ankündigungen werden auch noch durch bürokratische Vorschläge wie die personalisierten Gutscheine oder durch Kostenübernahmeerklärungen erbracht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Agentur für Arbeit sind, wie wir alle wissen, anerkannte Nachhilfeexperten. Sie sind ja auch kaum anderweitig ausgelastet. Sie sollen gewährleisten, dass leistungsberechtigte Personen geeignete Leistungsangebote in Anspruch nehmen können. Die Ankündigungen von Frau von der Leyen haben mit der Wirklichkeit nahezu nichts zu tun. Der Berg kreißte und gebar eine Maus; und dann noch eine ziemlich missgebildete Maus aus der Bürokratenretorte. Herr Schäuble hat das Ergebnis vorab diktiert, und Frau von der Leyen hat lächelnd zu retuschieren versucht, was zu wenig, zu kompliziert und obendrein ungerecht und bürokratisch ist.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was politisch notwendig wäre, ist etwas ganz anderes: Echte gesellschaftliche Teilhabe für Kinder, Verbesserung der Chancen auf Bildung für jedes Kind; ob deutsch oder nicht deutsch, mit alleinerziehender Mutter oder alleinerziehendem Vater, ob arm oder reich, Ausbau der Infrastruktur, GanztagsKitas und Ganztangsschulen, Stärkung der Schulsozialarbeit an jeder Schule, auskömmliche Mindestlöhne als einzig taugliches Mittel zur Wahrung des Lohnabstandsgebots, echte Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose und nachhaltige Armutsbekämpfung bei Kindern. Das wäre erforderlich, denn die gesellschaftliche Teilhabe muss auch für Kinder von Geringverdienern möglich sein. Hier kann und darf sich der Sozialstaat nicht verabschieden.

(Beifall bei der SPD)

Dazu gehört auch eine gesunde Ernährung, idealerweise durch Schulspeisung. Sie machen aber gerade dem Programm „Kein Kind ohne Mahlzeit“ den Garaus in Schleswig-Holstein.

Frau Merkel lobt sich selbst mit bundesweiten millionenschweren Anzeigen. Leider bekommen der

(Dr. Ralf Stegner)

zeit aber 80 % aller Schülerinnen und Schüler überhaupt kein Angebot für ein gesundes und warmes Mittagessen.

(Zuruf von der CDU)

- Dass Ihnen das unangenehm ist, verstehe ich. Das ist aber einfach unsozial, und das ist das Problem, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Das seitens der Bundesregierung vorgestellte sogenannte Bildungspaket ist in Wirklichkeit ein Paket politischer Einbildung. Ein Betrag von gerade einmal 10 € für eine angemessene Teilhabe ist völlig unzureichend, wie jeder weiß, der am realen Leben teilnimmt.

Wer die Kritik des Bundesrechnungshofs an den Ein-Euro-Jobs nachvollzieht, der weiß, dass bedürftigen Kindern hiermit ein Bärendienst erwiesen wird.

(Unruhe)

- Frau Präsidentin, ich kann nachvollziehen, weshalb der rechte Teil des Hauses so lärmt, weil es ihm nämlich unangenehm ist, dass das angesprochen wird. Draußen demonstrieren aber ganz viele Menschen gegen die Politik, die Sie hier machen.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das angedachte Gutscheinsystem ist nicht effektiv. Es ist eher diskriminierend und führt zu einem höheren Bürokratieaufwand. Dies hat zur Folge, dass durch die Hemmschwellen die Teilnahmechancen eben nicht verbessert, sondern wahrscheinlich sogar verschlechtert werden. Eine moderne Kinder- und Bildungspolitik muss aber allen Kindern die gleichen Rechte bieten. Sie aber machen das, was wir aus Ihrer „aussortierenden Retrobildungspolitik“ in Schleswig-Holstein kennen und was zu Recht Eltern, Schüler, Lehrer und Kommunen auf die Barrikaden treibt. Das ist die Wirklichkeit.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verbesserung von Bildungsmöglichkeiten ist eine der Hauptforderungen der SPD. Wer in Kinder und deren Bildung investiert, investiert in die Zukunft und spart zudem an Jugendhilfe und Folgekosten. Das Geld, das es kostet, eine Schule durch Schulsozialarbeit und warmes Mittagessen zu verbessern, kann man natürlich auch in Haftplätze für Jugendliche stecken. Das ist nämlich genau das,

was dabei herauskommt, wenn man das nicht tut. Wir brauchen gut ausgebildete Jugendliche.

Der Kollege von Boetticher hat bei der ersten Lesung des Haushaltsentwurfs in seiner schon legendär gewordenen „I-have-a-Dream“-Rede - gibt es diese eigentlich schon bei YouTube, Herr Maltzan? - Folgendes gesagt:

„Wir brauchen ganz gezielt eine Politik, die auf die sozial Bedürftigen ausgerichtet ist, die diese Unterstützung brauchen.“

Gut gebrüllt, Löwe. Doch wo sind die Taten? Taten sind überhaupt nicht zu sehen.

Damit haben Sie Ihre „180-Grad-Nachwahlwende“ bei den kostenfreien Kita-Jahren begründet. Ich finde, Sie sollten dafür sorgen, dass die sozial bedürftigen Kinder diese Unterstützung auch erhalten, statt die Eltern in Schleswig-Holstein massiv mehr zu belasten, wie Sie das mit Ihrem Kürzungspaket tun; denn damit belasten Sie die Eltern.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Forderung nach Mindestlöhnen zur Wahrung des Lohnabstandsgebotes ist nicht neu. Sie wollen das nicht hören und stöhnen jedes Mal auf, wenn ein Sozialdemokrat das hier vorträgt. Es geht aber nicht nur darum, Bedürftigen eine verfassungsfeste und menschenwürdige Grundsicherung zu gewährleisten. Vielmehr geht es darum, zu verhindern, dass Menschen überhaupt auf Sozialleistungen angewiesen sind.

Es geht um gute und existenzsichernde Arbeit. Sie wollen christliche und marktwirtschaftliche Parteien sein. Es ist aber weder christlich noch marktwirtschaftlich, wenn Millionen Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können und die Steuerzahler Dumpinglöhne subventionieren.

(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem spielen Sie die eine Gruppe gegen die andere Gruppe aus. Menschen ohne Arbeit und Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, hetzen Sie gegeneinander auf. Herr Minister Garg, bei dieser Frage sollten Sie sich nun wirklich nicht am Möchtegern-Caligula aus dem Auswärtigen Amt orientieren. Dabei sollten Sie sich mehr Ihrer Aufgabe widmen, nämlich das Gemeinwohl zu mehren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen einen nationalen Bildungspakt, um eine bundesweit vergleichbare und einheitliche Grundsiche

(Dr. Ralf Stegner)

rung bezogen auf Bildung, Betreuung und soziokulturelle Teilhabe zu gewährleisten. Wir brauchen ferner die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Wir brauchen außerdem Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern, um weitere Maßnahmen umzusetzen wie einen flächendeckenden Ausbau von Ganztagsangeboten, mehr Schulsozialarbeit, inklusive Kindertageseinrichtungen und ein kostenloses Mittagessen in Kitas und Schulen.