Deswegen sollten wir bei aller Enttäuschung und Verärgerung das demokratische Votum in Irland uneingeschränkt respektieren. Erstaunlich ist nur die Hilflosigkeit, mit der in vielen Ländern Europas reagiert wird. Es gibt keinen Plan B. Ich glaube, das
Wie auch schon so häufig in den vergangenen Jahren - das kennen wir aus den 80er- und 90er-Jahren - wird wieder die große Krise der Europäischen Union an die Wand gemalt. Das Verschwinden in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit wird vorausgesagt. Das ist nach meiner Auffassung etwas viel Dramatisierung, Aufregung und Hysterie. Die EU steht nicht vor dem Ende, sie wird auch nicht zerfallen. Ich kann nur raten, dass wir den allgemeinen politischen Aufregungspegel etwas herunterfahren, nach den Ursachen forschen
und darüber nachdenken, weshalb die Wählerinnen und Wähler in Irland und anderswo den Fortgang der Europäischen Union abgelehnt haben. Denn eines stimmt schon: Das negative Votum ist auch Ausdruck großen Misstrauens und von Ängsten gegenüber der Europäischen Union. Ich schließe mich da den Äußerungen von Minister Döring an.
Deshalb muss es ein Weckruf für uns alle sein. Eine Meinungsumfrage unter 2.000 irischen Bürgern kurz nach dem Referendum deutete auf vielfältige, aber auch widersprüchliche Gründe für die Ablehnung des Vertrages hin. Sie reichen vom schlichten Nichtverstehen des Vertrages über die Sorge um die irische Identität, das Misstrauen gegenüber Politik und Politikern ganz allgemein, die Bewahrung der irischen Neutralität bis zur Sorge um einen irischen EU-Kommissar und den Schutz des irischen Steuersystems vor europäischen Begehrlichkeiten. Dabei sind es ausgerechnet die Iren, die mit drei Vierteln der Bürger begeisterte Anhänger von Europa sind.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen wir über die Ursachen offen miteinander reden. Es gibt eine Kluft zwischen Europa und den Bürgern. Das liegt nicht am Vertrag, das liegt auch nicht an der europäischen Idee, sondern das liegt daran, wie Europa derzeit praktiziert, zum Teil bürokratisch umgesetzt wird. Sie schreibt Feuerwehrleuten vor, dass Löschwagen nicht mehr ohne Sonderausbildung gefahren werden dürfen. Bauern müssen einen sogenannten Tierführerschein machen, obwohl sie jahrhundertelang ohne ihn auskamen, auch in der modernen Zeit ohne ihn ausgekommen sind. Eine Autobahnbrücke darf nicht mehr über eine Wiese gebaut werden, weil das angeblich Frösche beschattet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa macht an vielen Stellen in Klein-Klein, anstatt zum großen Wurf auszuholen. Das ist der Fehler, den wir in Europa feststellen.
Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas - schon bei den Konflikten auf dem Balkan und im Kosovo aufs Schwerste vermisst -: Fehlanzeige. Demokratische Legitimation der Gesetzgebung in Europa: auf dem Stand des 19. Jahrhunderts. Man muss sich nur einmal überlegen, dass annähernd 50 % der Gesetze, die der Deutsche Bundestag umsetzt - annähernd 50 %! -, von europäischen Richtlinien herkommen, die die Europäische Union verabschiedet hat, die nur mittelbar, Herr Kollege Fischer, demokratisch legitimiert ist. Teilweise werden Richtlinien umgesetzt, die von der vorletzten oder letzten Kommission, manchmal auch noch von weiter zurückliegenden Kommissionen stammen. Das ist doch keine demokratische Legitimierung mehr, wenn wir jetzt Sachen umsetzen, die Anfang der 90er-Jahre unter einer Kommission einmal auf den Weg gebracht worden sind. Wenn wir so etwas umsetzen müssen, meine Damen und Herren, dann hat das mit demokratischer Legitimation nichts mehr zu tun.
Überlegen Sie einmal, was wir hier diskutieren. Wir diskutieren, ob es zwei Sitze mehr in der Kieler Ratsversammlung geben sollte, ob das Wahlgesetz so oder so auszulegen ist. Wir diskutieren hier - die Grünen haben das auf die Tagesordnung gesetzt, und der Kollege Lehnert hat gesagt, die CDU-Fraktion müsse darüber diskutieren -, wie unser Landeswahlgesetz auszulegen ist. Wir diskutieren darüber, ob wir nach d’Hondt oder nach anderen Methoden auszählen. Wir machen also Feinheiten, aber bei den großen Weichenstellungen haben wir keine klare politische Legitimation auf europäischer Ebene. Darüber müssen wir diskutieren, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Deswegen ist Europa an vielen Stellen groß, fremd, unübersichtlich und unverständlich. Über diese Fragen müssen wir miteinander reden.
Ich bin offen dafür, dass wir auch über Fragen des Sozialabbaus miteinander sprechen. Mit der Antidiskriminierungsrichtlinie - wir haben in Deutschland das Allgemeine Gleichstellungsgesetz verabschiedet - gibt es große soziale Errungenschaften, Herr Döring, die man an der Stelle nicht verkennen darf und die manchem in Deutschland sozialpolitisch zu weit gegangen sind. Ich verhehle nicht,
dass es auch in meiner Partei kritische Diskussionen darüber gegeben hat. Europa bekommt man also nur insgesamt, das heißt mit sozialpolitischen Leistungen, aber natürlich auch mit all dem, was für freien Wettbewerb dort verabschiedet worden ist und was wir für notwendig halten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, tragisch bei dieser Diskussion ist - Minister Döring hat darauf aufmerksam gemacht -, dass gerade der Lissabon-Vertrag eine klarere Kompetenzabgrenzung bringt und die Rolle der nationalen Parlamente bei der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips, gegen das häufig genug verstoßen worden ist, stärken würde. Deswegen teile ich die Auffassung, die hier geäußert wurde und die auch die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung am 19. Juni zum Ausdruck gebracht hat.
Die Europäische Union braucht den Lissabon-Vertrag. Sie braucht ihn dringend für den weiteren Erweiterungsprozess. Er ist ohne des Lissabon-Vertrag nicht vorstellbar. Europa würde in eine große Krise geraten, wenn wir diesen Vertrag nicht umsetzen würden. Dafür müssen wir uns weiter einsetzen. Es hat überhaupt keinen Zweck, jetzt über Kerneuropa und ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zu reden. Wir müssen Europa so, wie es sich in der Europäischen Union zusammengefunden hat, zusammenhalten. Deswegen liegen große Hoffnungen und Erwartungen auf dem Oktober-Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Wir können nur hoffen, dass man zu einer Einigung auch mit Irland kommt. Erfreulich ist, dass Großbritannien - das ist in Europa nicht immer selbstverständlich -¸ Zypern, die Niederlande, Belgien grünes Licht für den Vertrag von Lissabon gegeben haben. Wir stehen also insgesamt nicht am Ende einer wichtigen Reform und Entwicklung, sondern am Anfang. Wir müssen nur die Menschen in Irland, auch in Deutschland, in Europa insgesamt auf dem Weg zur Europäischen Union mehr mitnehmen.
Ich danke dem Herrn Abgeordneten Johann Wadephul. - Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun deren Vorsitzender, Herr Abgeordneter Dr. Ralf Stegner.
Nach der Ablehnung des Reformvertrags von Lissabon durch die irische Volksabstimmung kann es kein einfaches Zurück zur europapolitischen Tagesordnung geben.
Es bleibt also zu fragen, was wir daraus lernen können und was wir tun wollen. Es geht um Grundsatzfragen, die uns auf allen politischen Ebenen betreffen. So lag die Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl noch unter der unserer Kommunalwahl. Wenn wir nicht glaubhaft zeigen, dass wir etwas ändern können und wollen und dass wir die aktuelle und zukünftige Lage der Bürgerinnen und Bürger in Europa verbessern können, dann frage ich mich, warum jemand wählen gehen und dem europäischen Projekt, der sozialen Marktwirtschaft oder der Demokratie im Allgemeinen zustimmen sollte. Klar ist: Nur wer Europa gestaltet, wird den deutschen Standard von sozialer Sicherung erhalten und für die Zukunft sichern können. Unser Ja zu Europa ist deshalb ein Ja zu einem sozialen Europa, zu einem Europa der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens und Wohlstands, der Vielfalt, der guten Minderheitenpolitik, der Humanität gegenüber Flüchtlingen und der ökonomischen wie ökologischen Vernunft.
Es geht um die notwendigen Veränderungen mit der Perspektive einer besseren Zukunft für die ganz normalen Europäerinnen und Europäer, die mit ihren Familien in Portugal oder Finnland, in Zypern oder Polen oder eben in Deutschland leben. Wir Sozialdemokraten sind in der Tradition der deutschen Sozialdemokratie seit dem Heidelberger Parteitag von 1925 überzeugte Europäer. Wir haben eine einzigartige Phase des Friedens. Wir haben eine einzigartige Chance, länderübergreifend Probleme gemeinsam zu lösen. Wir können eine starke Stimme in der Welt für ein solidarisches, friedliches und ökologisches Europa sein.
Angesichts der Globalisierung, in der sich viele Menschen durch einen, wie Helmut Schmidt sagen würde, aggressiven weltweiten Raubtierkapitalismus in ihren Zukunftschancen bedroht sehen, stößt der Gestaltungsspielraum nationaler Politik an seine Grenzen. Deshalb ist es gerade jetzt an der Zeit, für die europäische Idee der Solidarität und Freiheit sowie des Friedens neu zu werben.
Gerade weil ein Scheitern der europäischen Idee vor allem zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ginge, bekennen wir Sozialdemokraten uns zu einem demokratischen, sozialen, leistungsfähigen und ökonomisch starken Europa. Was müssen wir also tun?
Drittens. Wir meinen mit Europa das soziale Europa. Dieser Punkt ist mir am wichtigsten; auf diesen möchte ich ausführlich eingehen.
Bezüglich der Werbung für Europa dürfen wir nicht immer Verantwortung „an die in Brüssel“ abschieben. Wir sollten populistischen Versuchungen widerstehen wie derzeit in Österreich oder davor in Polen.
Wir sollten Verantwortung übernehmen. Denn ein Land mit 82 Millionen Einwohnern kann in Europa etwas bewegen. Wir tun das nicht immer glücklich, wenn wir über Automobilindustrie oder landwirtschaftliche Vereinbarungen mit Frankreich reden wollen. Die gestrige Debatte zur Tariftreue hat doch gezeigt: Wir wollen - das müssen wir dann auch durchsetzen -, dass Unternehmen, an die wir öffentliche Aufträge vergeben, Tariflöhne zahlen.
Wenn der von uns eingeschlagene Weg EU-rechtlich nicht möglich ist, dann muss die Politik die Änderungen schaffen, dass das Ergebnis nicht Hungerlöhne, Armutsrenten und Ausbeutung der Staatswirtschaft sind. Das Recht hat hier eine dienende, keine herrschende Funktion. Wir wollen die Gerechtigkeit nicht mit dem Recht betrügen.
Wer also über die negativen Folgen von Mindestlöhnen fabuliert, wie gestern geschehen, der verkennt, dass all das, was überall sonst in Europa funktioniert, auch in Deutschland funktionieren kann. Wir müssen darüber reden, was wir hier tun können und müssen. Demokratie und Transparenz heißt auch, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir trotz des irischen Neins damit umgehen.
Ich warne vor einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Ausgrenzung ist keine Lösung, und privilegierte Partnerschaften à la Merkel taugen nichts.
Es sind nicht immer nur Vermittlungsprobleme. Manchmal geht es auch um die falsche Politik und berechtigte Kritik. Die konkrete Frage, was die Iren tun sollten, sollten wir den Iren überlassen, ob nun eine zweite Abstimmung oder Ergänzungen zum Vertrag.
Das Wichtigste aber ist das soziale Europa. Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist Europa weit mehr als nur Markt und Wettbewerb. Europa muss vor allen Dingen sein soziales Gesicht zeigen. Nicht Lohn- und Sozialdumping, sondern gute Arbeit, fairer Lohn, ein hoher Arbeitnehmerschutz und Chancengleichheit zählen zu den Grundprinzipien des sozialen Europas.
Wir wollen keine freie Handelszone, und wir glauben immer noch, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt.
Was heißt das konkret? - Erstens. Wir brauchen verbindliche Mindestlöhne in Deutschland und Europa. Lohndumping ist keine zukunftsweisende Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Wir wollen angemessene Mindestlöhne und faire Arbeitsbedingungen überall in Europa. Zu behaupten, das vernichte Arbeitsplätze in Deutschland, anders als irgendwo sonst in Europa, ist interessengeleiteter Unfug und zeigt nur die bedauerliche Macht von Lobbyeinflüssen im liberal-konservativen Spektrum von Politik und Medienwelt.