Protocol of the Session on June 16, 2005

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 7. Sitzung des Landtages und begrüße Sie alle sehr herzlich. Erkrankt sind weiter die Herren Abgeordneten Konrad Nabel und Thomas Stritzl. - Wir senden beiden herzliche Genesungswünsche.

(Beifall)

Beurlaubt sind Frau Abgeordnete Anne Lütkes und ab heute Nachmittag Herr Innenminister Dr. Stegner. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, will ich aber ganz herzlich Frau Abgeordneter Ursula Sassen gratulieren, die heute Geburtstag hat. - Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

Die guten Wünsche des ganzen Hauses begleiten Sie in das kommende Lebensjahr, liebe Frau Sassen!

Ich darf an dieser Stelle auch unsere Besucher ganz herzlich begrüßen, das sind insbesondere die Schüler des Thor-Heyerdahl-Gymnasiums in Kiel. - Herzlich willkommen hier im Plenum!

(Beifall)

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Sozial gerechte Reformen: Deutliche Senkung der Lohnnebenkosten

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/114

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist offenbar nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort für die antragstellende Fraktion hat der Herr Abgeordnete Klaus Müller.

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Vor zehn Jahren plakatierte eine Bundesregierung landauf, landab: „Die Rente ist sicher“. Dieser Satz klang schon damals, aber spätestens heute so ähnlich wie: Die Erde ist eine Scheibe. Das Vertrauen quer durch die Generationen in die klassische gesetzliche Rentenversicherung sinkt von Jahr zu Jahr. Gleichzeitig beschreiben immer mehr Unternehmen die hohen Lohnnebenkosten in Deutschland als gravierendes Einstellungshindernis.

Der Kopf ist rund, damit das Denken auch einmal die Richtung ändern kann. Seit Jahren sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Unternehmen und Gewerkschafter, dass das Steuersystem in Deutschland zwar ein Problem darstellt, aber inzwi

schen ausreichend reformiert ist. Unsere Steuersätze sind auf einem historischen Tiefstand angekommen, genau wie die Steuereinnahmen. Letzte Woche haben wir im Finanzausschuss einvernehmlich festgestellt, dass weitere Steuerausfälle nicht vertretbar sind. Das entscheidende Hemmnis für mehr Arbeitsplätze in Deutschland und Schleswig-Holstein sind die Struktur und vor allem die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge.

In der Bundesrepublik wird das Sozialsystem im Prinzip über die abhängig Beschäftigten finanziert. Das heißt, viele Bevölkerungsgruppen tragen nichts dazu bei, obwohl sie natürlich indirekt auch von unserem sozialen Sicherungssystem profitieren. Nach wie vor gibt es einen sehr hohen Anteil versicherungsfremder Leistungen in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung. Das DIW hat diesen vor einigen Wochen mit 83,7 Milliarden € oder gut neun Beitragspunkten beziffert. Das heißt, selbst wenn man Anhänger einer Versicherungslösung bei den sozialen Sicherungssystemen ist, gibt es 83,7 Milliarden gute Gründe für eine gerechtere Finanzierung dieser Leistungen über Steuern. Damit würden wir auch einen Fehler bei der Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit korrigieren.

(Beifall des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Was wir brauchen, ist ein Systemwechsel bei der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Zweifelsohne kann das nicht reichen. Auch Strukturreformen sind nötig. Rot und Grün streiten für die Bürgerversicherung, Schwarz und Gelb für die Kopfpauschale. Herr Garg hat im Juni 2003 in der Debatte dazu eine Aussage vermisst. Diese Auseinandersetzung können wir zwar auch heute gern führen, darum geht es uns aber nicht. Heute geht es uns darum, ob es nicht ein gemeinsames Signal des Kieler Landtages geben kann, das den Fehler in der Frage der Systemfinanzierung zumindest an der Stelle korrigiert und richtig stellt.

Was sind die Nachteile der bisherigen Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge und was wären die Vorteile einer Finanzierung durch Steuern? Die Sozialversicherungsbeiträge zahlt man ab dem ersten verdienten Euro. Bei der Ein- kommensteuer kennen wir zu Recht ein steuerfreies Existenzminimum und einen progressiven Steuerverlauf. Aber gerade im unteren Lohnbereich, wo die Hemmnisse sind, brauchen wir eine Entlastung, die es über eine Reform der Lohnnebenkosten gäbe. Das wäre sinnvoll und richtig. Mit steigender Arbeitslosigkeit steigen auch die Kosten für die soziale Sicherung. Arbeit wird teurer, es gibt

(Klaus Müller)

mehr Arbeitslose und wir sind mitten in einer unheilvollen Spirale.

Lohnnebenkosten wirken eindeutig regressiv, das heißt Menschen mit niedrigem Einkommen werden stärker belastet als Menschen mit höherem Einkommen. Eine sozial gestaffelte Mehrwertsteuer hingegen mit vielleicht sogar noch einem abgesenkten, ermäßigten Satz zum Beispiel für Lebensmittel ist dagegen wesentlich gerechter. Zweifelsohne ist auch die Liste der Produkte, für die jetzt der ermäßigte Satz gilt, einmal gründlich zu überarbeiten.

Es ist anachronistisch, soziale Sicherheit an Erwerbsarbeit zu knüpfen. Der skandinavische Ansatz, die Finanzierung mit dem Konsum zu verbinden, ist gerade unter den Bedingungen der Globalisierung und Demographie wesentlich zukunftsfähiger. Mehrwertsteuer wird von uns allen gezahlt, inklusive Rentnern, Beamten, Selbstständigen und Politikern. Allein der demographische Wandel wird dazu führen, dass wir an der Finanzierung alle Generationen beteiligen müssen.

Ein Blick auf Europa zeigt, dass wir neben Malta, Zypern, Luxemburg und Spanien nach wie vor die niedrigsten Mehrwertsteuersätze haben. Auch zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges ist eine Angleichung der Steuersätze in Europa ein sinnvoller Beitrag.

Last, but not least: Die Umfinanzierung ist natürlich aufkommensneutral zu gestalten. Es geht nicht darum - ich betone das, damit wir nachher keine Scheindebatte führen -, die Belastung für die Menschen zu erhöhen. Profitieren würde durch eine solche Umfinanzierung neben Unternehmen mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und damit hohen Lohnkosten auch die Exportwirtschaft, die die Mehrwertsteuer exportneutral wieder absetzen kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt inzwischen viele konkrete Beispielrechnungen. Der „Spiegel“ hat sich die Mühe gemacht, ein solches Modell durch das DIW vor drei Jahren auf Deutschland übertragen zu lassen mit dem Ergebnis: Die Lohnnebenkosten könnten um 5,5 Prozentpunkte sinken. In diesem Jahr hat der DGB das DIW erneut rechnen lassen. Eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge durch eine höhere Mehrwertsteuer und eine höhere Einkommensteuer würde laut DIW zu 1,4 Prozentpunkten mehr Wirtschaftswachstum und 1,9 Prozentpunkten höherer Beschäftigung führen. Das DIW spricht von 700.000 neuen Jobs.

Die Handwerkskammer Flensburg, der DGB-Vorsitzende Sommer, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, und die Bankengruppe HVB

haben die Vorteile des Systemwechsels erkannt und sich dafür ausgesprochen. Und selbst unser Landtagspräsident hat im Mai 2003 eine europäische Harmonisierung der Mehrwertsteuer für prüfenswert erachtet. Mit der ökologischen Steuerreform sind wir schon einmal Schritte in die richtige Richtung gegangen, aber es waren zu zaghafte Schritte. Sie haben zu einer Stabilisierung geführt, aber nicht zu einer wirklich durchgreifenden Senkung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum führen wir heute die Debatte?

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Das frage ich mich auch! - Heiterkeit bei FDP, CDU und SPD)

- Einen Moment, Herr Kubicki, ich komme gleich zur FDP.

Zuerst zur CDU! Immer mehr Politiker äußern sich zurzeit zur Mehrwertsteuer. Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt hält eine Erhöhung für denkbar, genauso wie der Ministerpräsident des Saarlandes, Peter Müller, sein Kollege aus Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, der niedersächsische Finanzminister Hartmut Möllring genauso wie der badenwürttembergische Kollege Gerhard Stratthaus. - Alle übrigens Mitglieder der CDU.

Da will natürlich auch die FDP nicht abseits stehen. Jetzt erklärt zwar der Kollege Kubicki am Dienstag, große Koalition in Kiel für Steuererhöhungen, aber seine Bundespartei ist schon weiter. So erklärte Generalsekretär Dirk Niebel, er wolle eine Veränderung des Verhältnisses von direkten zu indirekten Steuern nicht ausschließen.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Was heißt das? - Nichts anderes als Erhöhung der Mehrwertsteuer. Übrigens genauso der Abgeordnete Hermann Otto Solms diese Woche im „Spiegel“. Unter der bezeichnenden Überschrift „Grausen vor Guido“ lässt sich Hermann Otto Solms damit zitieren: Man wolle zwar keine Mehrwertsteuererhöhung, aber sie auszuschließen sei unklug.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

Verehrte Damen und Herren, auch die FDP kann uns nicht mehr weismachen, dass sie in dieser Debatte nicht mehr stattfinden möchte.

Verehrte Damen und Herren, es besteht aber die große Gefahr, dass die Mehrwertsteuer nicht vernünftig verwendet wird, sondern entweder dazu dient, Haushaltslöcher zu stopfen, die Senkung des Spitzensteu

(Klaus Müller)

ersatzes zu finanzieren oder sogar die Kopfpauschale gegenzufinanzieren. Dazu sollten wir hier möglichst geschlossen klar und deutlich Nein sagen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in SchleswigHolstein gibt es fast täglich eine intensive Debatte. Wir haben zurzeit mindestens zwei Finanzminister in unserem Kabinett. Finanzminister Wiegard äußerte sich bisher sehr vorsichtig dazu, aber seit gestern danke ich ihm für sehr klare Aussagen dazu. Im Rahmen seiner Rede vor der Delegiertenkonferenz des Bundes der Steuerzahler in Kiel hat er sich dezidiert zum Thema Mehrwertsteuer und Lohnnebenkosten geäußert. Ich kann diese Aussagen nur begrüßen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Ein bisschen Applaus von der CDU für den eigenen Finanzminister wäre schon schön gewesen.

Eine deutliche und lautere Sprache spricht natürlich der ehemalige Finanzminister Ralf Stegner. In seiner bekannten und vor einem Jahr von Rot-Grün noch beschlossenen Linie stellt er fast im Zwei-TagesRhythmus deutlich fest, welche Reformen nötig sind. Ich sage nur: Recht hat er damit.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Wirtschaftsminister Austermann hält dagegen die Debatte für abwegig, bis nicht in allen Bereichen gespart worden ist. Ob er damit auch eine Kürzung der Renten oder des Arbeitslosengeldes meint, hat er natürlich lieber nicht ausgeführt. Ein solch vielstimmiger Chor in der Landesregierung ist natürlich beachtlich. Wie wäre die CDU über Rot-Grün hergefallen, hätten wir uns ein solches Durcheinander erlaubt!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten heute den Landtag als Chance nutzen, ein klares und deutliches Signal in der Sache zu senden. Ich hoffe, die SPD-Fraktion hat nach wie vor die Freiheit, das, was sie einmal als richtig erkannt hat, auch heute beschließen zu dürfen. Ich zitiere:

„Die Umfinanzierung eines Teils der sozialen Sicherungssysteme über eine Erhöhung der Umsatzsteuer ist für mich ein Projekt, das Wachstumshemmnisse beseitigen hilft, zugleich die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme auf eine effizientere, transparentere und auch gerechtere Basis stellt.“

Dieser Satz des Finanzministers Stegner aus dem Jahr 2003 galt damals, er gilt heute immer noch. Ich finde, wir sollten ihn heute gemeinsam beschließen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich erteile das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der Fraktion der CDU, dem Herrn Abgeordneten Dr. Johann Wadephul.