Protocol of the Session on January 26, 2006

Für die Landesregierung erteile ich Frau Ministerin Dr. Trauernicht das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema Kindesvernachlässigung ist ein Thema, das mich politisch, beruflich und auch privat seit vielen, vielen Jahren sehr berührt. Deswegen begrüße ich diese Debatte hier in diesem hohen Haus. Denn das Schicksal von vernachlässigten Kindern lässt einen nicht los, wenn man einmal mit ihnen in Berührung gekommen ist.

(Lars Harms)

Ich persönlich habe noch sehr gut den Besuch in einem Kinderheim für Säuglinge in Erinnerung. Wer diese kleinen Würmchen, die in den ersten Lebensmonaten vernachlässigt wurden, mit ihren greisenhaften Gesichtern erlebt hat, der weiß, welches Unrecht diesen Kindern widerfahren ist und wie wichtig es ist, dass der Staat sein Wächteramt wahrnimmt und die Gesellschaft wachsam ist, damit dies möglichst nicht passiert.

Meine Damen und Herren, es passiert aber auch in Schleswig-Holstein. Dabei tritt Vernachlässigung häufig hinter verschlossenen Türen auf. Wir bekommen sie nicht so mit wie Gewalt gegen Kinder, die augenscheinlich sein kann. Die sozialen Dienste wissen dies und sie handeln auch. Ich will dies mit einigen Zahlen verdeutlichen.

Es gibt allein in Schleswig-Holstein 100 Inobhutnahmen aufgrund akuter Gefährdung von unter 6-jährigen Kindern. Es gibt in Schleswig-Holstein jedes Jahr mehrere Hundert Entscheidungen zu unter 6-Jährigen, dass sie nicht mehr zu Hause leben können, sondern in Pflegefamilien oder in Heimen leben müssen, weil die Zustände zu Hause unerträglich sind. Es gibt Tag für Tag Kriseninterventionen der sozialen Dienste, der Kinderschutzeinrichtungen und vielfältiger anderer.

Es ist also nicht alles in unserem Land in Ordnung und deswegen muss uns die Frage umtreiben, was wir tun können, um das Problem der Vernachlässigung von Kindern zu vermeiden. Was können wir mehr tun? - Schließlich ist in den Debattenbeiträgen schon deutlich geworden, dass schon sehr viel in Schleswig-Holstein geschieht. Wir haben vielfältige Angebote und Systeme und das ist auch gut so.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Vor diesem Hintergrund begrüße ich die Ernsthaftigkeit, die Empathie und die Solidität, mit denen diese Debatte hier geführt wird. Insofern bin ich mir sicher, dass wir uns darin einig sind, dass es nicht darum gehen kann, hier einen Schnellschuss zu machen, dass es nicht darum gehen kann, sich irgendetwas politisch vordergründig ans Revers zu heften. Vielmehr müssen wir mit aller Sorgfalt prüfen, was zu tun ist, um das Problem der Vernachlässigung besser als bisher in den Griff zu bekommen.

Aktuell werden vier Bereiche diskutiert, obgleich das Thema der Pflichtuntersuchung sehr in den Mittelpunkt gerät. Ich möchte diese vier Bereiche ansprechen.

Zunächst einmal ist fast verborgen für die Öffentlichkeit - und auch noch weitgehend für die Fachöf

fentlichkeit - im Oktober letzten Jahres eine Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes beschlossen worden, die zu einer Verschärfung des staatlichen Wächteramtes in der Praxis führen muss. Denn erstmalig werden auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von freien Trägern aufgefordert, bei Wahrnehmung von Vernachlässigung tätig zu werden. Niemand darf untätig bleiben.

Um dies zu vermitteln, bietet mein Ministerium eine Reihe von Fortbildungsveranstaltungen an und habe ich eine Vorlage für die Kinder- und Jugendkonferenz in Hamburg im Mai dieses Jahres auf den Weg gebracht. Damit möchte ich allen deutlich machen, dass wir diesen Grundgedanken der größeren Verpflichtung zum Tätigwerden tatsächlich verankern, und wir müssen in diesem Sinne vielfältige Anstrengungen unternehmen; Fortbildung ist ein Element. Wir sind sogar gesetzlich verpflichtet, spezielle Fachkräfte auszubilden, um die Wahrnehmung zu schulen. Denn Kindeswohlgefährdung und -vernachlässigung sind Begriffe, die noch nicht eindeutig fixiert sind, sodass man noch nicht genau weiß, wann jemand verbindlich tätig werden muss.

Ein zweiter Bereich befasst sich damit, neue Angebote auf den Weg zu bringen. Ich glaube, dass es einen Typus von Angeboten gibt, den wir im Land noch nicht hinreichend verankert haben. Dieser ist mit dem Stichwort „Schutzengel e. V.“ in Flensburg umschrieben. Das ist ein ganz besonderes Projekt, welches eine Vernetzung von Kinder- und Jugendhilfe einerseits und Gesundheitshilfe, Hilfe zur Selbsthilfe, zivilgesellschaftlichem Engagement, stadtteilbezogener Arbeit andererseits in einer Weise vereint, wie es dies nur ganz selten gibt.

(Beifall des Abgeordneten Lars Harms [SSW])

Deswegen besteht meine Absicht darin, dieses „Schutzengel“-Projekt flächendeckend in Schleswig-Holstein zu etablieren, und wir haben bereits mit allen Jugendamtsleitern Gespräche aufgenommen. Das Interesse ist sehr groß. Das Land unterstützt die Aktivitäten. Das wird nicht von heute auf morgen auf den Weg gebracht werden können, aber ich bin mir sicher, dass Schritt für Schritt - von daher bitte ich Sie als Abgeordnete, sich vor Ort zu informieren und das Ihrige dazu beizutragen „Schutzengel“-Projekte in jedem Jugendamt dieses Landes entstehen.

(Beifall)

Das dritte Stichwort behandelt ein soziales Frühwarnsystem. Warum greife ich dieses soziale Frühwarnsystem auf, obwohl wir bereits viele Angebote haben? - Wir haben erkannt, dass es einen Mangel

(Ministerin Dr. Gitta Trauernicht)

zu beheben gilt, nämlich den Mangel einer fehlenden Handlungskette. Es geht darum, dass man eine verbindliche Handlungskette einführen muss: früher wahrnehmen, die richtigen Stellen schneller warnen, schneller handeln und besser kooperieren.

Das ist eine verbindliche Handlungskette, die unter dem Stichwort „soziales Frühwarnsystem“ in die Fachdebatte eingegangen ist. Dieses wollen wir verankern und deswegen haben wir im letzten Jahr in Neumünster mit dem Projekt „Optimierung der Kindergesundheit“ ein solches Konzept auf den Weg gebracht und wir wollen so etwas auch mit Blick auf das Thema Kindesvernachlässigung auf den Weg bringen, um es flächendeckend zu verankern, wenn es gut funktioniert.

Ein weiteres Thema, das wir zu diskutieren haben, betrifft die Stärkung des Pflegekinderwesens insgesamt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, häufig wissen die sozialen Dienste schon sehr früh, ob es mit der Entwicklung eines Kindes in einer Familie klappen kann oder nicht. Manchmal wird zu lange abgewartet, ob das Kind eine Zukunft in der eigenen Familie hat oder ob man dem Kind eine Zukunft in einer alternativen Familie, nämlich in einer Pflegefamilie geben soll.

Wir müssen das Thema Pflegekinderwesen erneut stärken, weil es eine wirkliche Alternative für Kinder ist, bei denen absehbar ist, dass sie in ihren eigenen Familien nicht gesund aufwachsen werden können. Dieses Thema und auch die Verbesserung des Einzelvormundschaftswesens habe ich mir in dieser Legislaturperiode auf die Fahne geschrieben.

Nun zum Thema Pflichtuntersuchung. Das Thema der verbindlichen Untersuchung ist wichtig. Wir alle wollen seit Jahren, dass möglichst alle Familien die U1- bis U9-Untersuchungen wahrnehmen. Wir alle haben unsere Anstrengungen erhöht, damit die Nachfrage tatsächlich verbessert wird. Da waren wir auf einem guten Weg.

Jetzt stellt sich die Frage, ob wir durch eine Pflichtuntersuchung erreichen können, dass Vernachlässigung in ihrer schlimmsten Ausprägung verhindert wird. Ich warne vor übertriebenen Erwartungen. Nichtsdestotrotz ist es ein erstrebenswertes Ziel, dass alle Kinder alle Pflichtuntersuchungen wahrnehmen. Vor diesem Hintergrund unterstütze ich diesen Weg als einen Baustein zur Verbesserung der Situation von Kindern in unserem Land.

Nun stellt sich die Frage, ob wir auf Berlin warten oder ob wir etwas Eigenes machen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auf Berlin warte ich aus verschiedenen Gründen nicht.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber Berlin nutze ich, wo es möglich und nötig ist. Deshalb sage ich ganz klar: Die Bundesfamilienministerin hat sich gegen eine Pflichtuntersuchung ausgesprochen. Deswegen wird die Frage zu klären sein, ob der Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung seine Möglichkeiten ausschöpfen wird. Das kann aber auch die Bundesgesundheitsministerin tun.

Deswegen habe ich in den nächsten zwei Wochen in jedem Ministerium mit jeder Hausspitze einen Termin, um abzuklären, ob die Bundesministerien tatsächlich tätig werden oder ob ich zu der gegenteiligen Einschätzung gelange.

Nichtsdestotrotz werde ich das tun, was Sie alle befürworten, nämlich dem Bundesratsantrag Hamburgs beitreten. Denn er ist in der Tendenz richtig. Er macht Druck und auch andere Länder werden diesem beitreten, sodass es ein ganz wichtiges Signal ist.

Parallel können die Länder überlegen, ob sie auch ohne den Bund Pflichtuntersuchungen einführen. Hier würde ich aber eine gemeinsame Vorgehensweise der Länder favorisieren und davon abraten, dass jedes Land seinen eigenen Weg geht. Da der hier vorliegende Antrag in dieser Form zum Beispiel auch in Nordrhein-Westfalen eingebracht worden ist, gibt es meiner Meinung nach Möglichkeiten, miteinander ins Gespräch zu kommen, um innerhalb der Länder eine Einigung dahin gehend zu erzielen, welcher der beste und geeignetste Weg hin zu diesen Pflichtuntersuchungen ist.

Dass dies nicht einfach ist, haben die Debattenbeiträge deutlich gemacht. Es sind verfassungsrechtliche Fragen zu klären. Es sind fachpolitische Fragen zu klären. Es sind finanzielle Fragen zu klären. Es sind datenschutzrechtliche Fragen zu klären. Die Behandlung dieser Fragen muss mit der gebotenen Solidität erfolgen. Von daher bin ich nicht der Ansicht, dass wir unser Vorhaben bereits zum 1. August dieses Jahres realisiert haben könnten.

Das scheint mir allerdings auch nicht das Entscheidende zu sein. Entscheidend ist für mich, dass wir uns ernsthaft mit der Frage auseinander setzen, ob dies ein Weg ist, den wir bei Abwägung aller Probleme miteinander gehen sollten, und dass wir uns vergegenwärtigen, dass dieser Weg nur ein Baustein in einem Gesamtkonzept sein kann. Denn wenn diese Pflichtuntersuchung nicht in ein Netz präventiver Hilfen eingebunden wird, dann läuft sie ins Leere.

(Ministerin Dr. Gitta Trauernicht)

Vor diesem Hintergrund begrüße ich beide Anträge und bin sehr einverstanden mit dem vorgeschlagenen Verfahren. Ich freue mich auf die intensive und engagierte Diskussion im Interesse unserer und insbesondere der vernachlässigten Kinder.

(Beifall)

Ich danke Frau Ministerin Dr. Trauernicht. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Beratung.

Es ist beantragt worden, den Gesetzentwurf Drucksache 16/519 sowie die Anträge Drucksache 16/518 und 16/542 dem Sozialausschuss zu überweisen. Wer so beschließen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Das ist einstimmig so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf:

Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete

Bericht der Landesregierung Drucksache 16/497

Für die Landesregierung erteile ich dem Innenminister, Herrn Dr. Ralf Stegner, das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht zu einer allgemeinen Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete gibt mir die Gelegenheit, Ihnen eine Übersicht über die gesetzlichen und politischen Entwicklungen in den vergangenen eineinhalb Jahren, die schleswig-holsteinischen Initiativen für eine allgemeine Bleiberechtsregelung und über die aktuelle Situation für den betroffenen Personenkreis zu geben. Dafür bin ich diesem Haus sehr dankbar.

Im Plenum möchte ich dies in die aktuellen innenpolitischen Debatten einordnen und die Grundsätze für eine unideologische und humane Integrationspolitik darlegen, auf denen auch die längst überfällige realitätsnahe allgemeine Bleiberechtsregelung aufbauen muss, eine Regelung, die dieser Landtag vor 19 Monaten gefordert hat, der wir aber trotz zahlreicher Versuche der Landesregierung und trotz der beeindruckenden Initiativen auch in schleswigholsteinischen Vereinen und Verbänden leider nur wenig näher gekommen sind. Vielmehr müssen wir aufpassen, dass nun auch im Zuge der anstehenden Landtagswahlen nicht wieder ein Klima entsteht, in dem mehr oder weniger offen rassistische Vorurteile bedient werden, und dadurch ein vernünftiger Umgang mit Migration und Integration, wie er

durch das Zuwanderungsgesetz eigentlich eingeläutet worden ist, wieder erschwert wird.

(Beifall bei der SPD)

Das Zuwanderungsgesetz enthält klare Regelungen zur Einreise und zum Aufenthalt, es ermöglicht Ermessensspielräume für Aufenthaltserlaubnisse, es regelt Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung, wenn kein Aufenthaltsrecht besteht, und es enthält wirksame Regelungen im Sinne der Gefahrenabwehr.

Wir brauchen darüber hinaus weder Gesinnungsprüfungen via törichter Fragebögen noch darf die Gesinnung Anlass genug sein, Menschen in ihrer Freiheit zu beschränken.

(Beifall)

Maßnahmen, wie sie der baden-württembergische Fragebogen darstellt, sind unnütz und zielen wie die elektronische Fußfessel nur darauf, Aktivitäten vorzutäuschen, die nur scheinbar die Sicherheit verbessern, dafür aber garantiert Vorurteile gegen Muslime schüren.

(Beifall bei SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)