Protocol of the Session on January 26, 2006

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 20. Sitzung und begrüße Sie alle sehr herzlich.

Beurlaubt ist weiterhin Frau Abgeordnete Susanne Herold. Herr Finanzminister Wiegard ist wegen dienstlicher Verpflichtung auf Bundesebene beurlaubt.

Auf der Tribüne begrüße ich herzlich Schülerinnen und Schüler der Käthe-Kollwitz-Schule mit ihren Lehrkräften. - Herzlich willkommen bei uns im Landtag!

(Beifall)

Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 und 23 auf:

Gemeinsame Beratung

a) Erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst (Gesundheitsdienst-Ge- setz)

Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/519

b) Vorfahrt für Kinder - Ausbau von Frühförderung und Einführung einer verbindlichen Vorsorgeuntersuchung für Zweijährige in Schleswig-Holstein

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/518

Antrag der Fraktionen von CDU und SPD Drucksache 16/542

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Grundsatzberatung. Das Wort hat Frau Abgeordnete Monika Heinold.

Frau Präsidentin! Guten Morgen, meine Damen und Herren! Kinder sind für eine Gesellschaft wichtig und wertvoll, Kinder sind die Zukunft. Leben mit Kindern ist Bereicherung, zumindest für viele Menschen. Aber es gibt auch die andere Seite: Kinder können stören, sie schränken den Alltag ein, sie behindern die Karriere und sie schaffen es, Eltern schier zur Verzweiflung zu bringen.

Immer mehr Eltern sind tief verunsichert, wollen alles 200-prozentig richtig machen. Immer häufiger sind Familien mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Sie fühlen sich allein gelassen und kommen mit dem Familieneinkommen nicht mehr aus. Eltern empfinden ihre Lebensumstände als bedrückend. Bestehende Hilfsangebote erreichen sie nicht oder reichen nicht aus. Die Schere zwischen Arm und Reich ist weiter aufgegangen; Kinder sind zum Armutsrisiko geworden.

Meine Damen und Herren, dies ist keine Schwarzmalerei, sondern es gehört zu der Auseinandersetzung mit der Frage, warum immer häufiger Fälle grausamster Kindesvernachlässigung aufgedeckt werden. Ziel muss es sein, alle Eltern in die Lage zu versetzen, ihren Erziehungsauftrag gewissenhaft wahrzunehmen. Ziel muss es auch sein, alle Kinder vor Gewalt zu schützen und ihnen ihr Recht auf Erziehung und Bildung und auf ein gesundes Lebensumfeld zu garantieren.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Circa 500.000 aufgedeckte Fälle von Kindesvernachlässigung in Deutschland zeigen, dass diese Grundrechte viel zu oft nicht gewährleistet sind. Krasse Einzelfälle haben dazu geführt, dass nun gefordert wird, alle zehn Vorsorgeuntersuchungen, die bisher im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig sind, verpflichtend zu machen. Hamburg und das Saarland haben dazu eine Bundesratsinitiative angekündigt. Das deutsche Kinderhilfswerk, der Kinderschutzbund, aber auch die schleswig-holsteinische Sozialministerin Frau Trauernicht haben diese Forderung öffentlich unterstützt.

Mit unserem Antrag bitten wir die Landesregierung, die angekündigte Bundesratsinitiative positiv zu begleiten und auf ihre Umsetzbarkeit zu prüfen. Außerdem bringen wir heute einen eigenen Gesetzentwurf ein, der sicherstellt, dass ab Sommer 2006 alle zweijährigen Kinder in Schleswig-Holstein verpflichtend an einer Vorsorgeuntersuchung teilnehmen müssen. Wir wollen, dass Schleswig-Holstein in eigener Verantwortung handelt und nicht auf ein Bundesratsverfahren wartet, von dem völlig unklar ist, wann es beginnt und wie es ausgeht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

Zwar ist die Forderung, zehn neue Pflichtuntersuchungen einzuführen, schnell gestellt und findet bei 75 % der Bevölkerung breite Unterstützung, aber eine Antwort darauf, wie dies umgesetzt werden kann, gibt es noch nicht. Im Gegenteil, der Berliner Senat hat bereits vor zwei Jahren festgestellt, dass

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es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich ist, Vorsorgeuntersuchungen generell zur Pflicht zu machen, weil dies ein unverhältnismäßiger Eingriff in die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte der Eltern wäre. Es scheint also, als müssten wir, um generelle Pflichtuntersuchungen durchzuführen, erst einmal das Grundgesetz ändern.

Hinzu kommt die Aussage unseres Wissenschaftlichen Dienstes, dass es zweifelhaft erscheint, ob eine Maßnahme staatlicher Fürsorge aus den Beitragszahlungen der Krankenversicherung gedeckt werden kann. So kann es passieren, dass die öffentliche Hand auf den Kosten sitzen bleibt, wenn wir die bisherige freiwillige Kassenleistung zu einer Pflicht für die Eltern machen. Bei zehn Untersuchungen pro Kind sind das nicht unerhebliche Kosten. Damit wären alle Haushaltmittel, die wir dringend für Frühförderung und Familienhilfe brauchen, wahrscheinlich aufgefressen.

Die grüne Landtagsfraktion setzt einen anderen Schwerpunkt. Wir wollen verpflichtend Vorsorgeuntersuchungen, aber wir wollen genauso, dass der Schwerpunkt neuer Ausgaben bei Prävention, Früherkennung und Familienhilfe liegt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen nicht auf Berlin warten, sondern unsere Landeskompetenz nutzen. Ich möchte mich ganz ausdrücklich beim Wissenschaftlichen Dienst des Landtages bedanken, der uns durch sein differenziertes Gutachten aufzeigt, welche Möglichkeiten wir als Landesgesetzgeber haben. In der Hoffnung auf eine konstruktive Debatte habe ich dieses Gutachten auch gleich an die anderen Fraktionen weitergereicht.

Unser Gesetzentwurf setzt auf vorhandene Strukturen, auf eine kostengünstige Lösung und auf die Möglichkeit einer zügigen Umsetzung. Vernachlässigte Kinder haben nicht die Zeit, auf langwierige parlamentarische Entscheidungsprozesse im Bundesrat zu warten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir schlagen vor, dass die Gesundheitsämter der Kreise die neue Pflichtuntersuchung durchführen und dass das Land im Rahmen des Konnexitätsprinzips die Kosten erstattet. Um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Elternrecht zu wahren, schlagen wir weiterhin vor, dass Eltern statt der Pflichtuntersuchung beim Gesundheitsamt mit ihren 21 bis 24 Monate alten Kindern alternativ die U7 beim der Haus- oder Kinderarzt wahrnehmen können. Hierbei orientieren wir uns am sächsischen Schulgesetz, welches Pflichtuntersuchungen für

Schülerinnen und Schüler festschreibt, die aber alternativ durch einen Arztbesuch ersetzt werden können.

Um den Anreiz zu verstärken, die kostenlose Vorsorgeuntersuchung beim zuständigen Kinderarzt wahrzunehmen, soll die Pflichtuntersuchung nach unserer Meinung beim Gesundheitsamt kostenpflichtig werden. Ziel ist es, dass sich die Eltern daran gewöhnen, mit ihren Kindern zur Vorsorge zum Kinderarzt zu gehen. Ziel ist es auch, die Kosten für die neue Untersuchung gering zu halten, um die Haushaltsmittel für den ermittelten Förderund Unterstützungsbedarf einzusetzen. Um das Kindeswohl sicherzustellen, muss eine nicht wahrgenommene Pflichtuntersuchung als Ultima Ratio dazu führen, dass notfalls das Jugendamt eingeschaltet wird. Nur so können wir alle Kinder erreichen.

Kinderärzte mahnen an, Vorsorgeuntersuchungen zu modernisieren. Zu einer ganzheitlichen Untersuchung gehört, dass alle Entwicklungsstörungen, die körperliche oder geistige Ursachen haben, tatsächlich festgestellt werden und dass auch Vernachlässigung und Misshandlung vom Arzt erkannt werden. Wir haben diesen Punkt in unseren Antrag mit aufgenommen und bitten die Landesregierung, auf die Krankenkassen einzuwirken, damit die Vorsorgeuntersuchungen erweitert werden und damit Versorgungslücken, die es jetzt beispielsweise bei den dreijährigen Kindern gibt, geschlossen werden.

Unser Gesetzentwurf bietet die Chance, im Sozialausschuss gemeinsam mit Experten sowie Praktikerinnen und Praktikern auszuloten, wie wir künftig Kinder besser fördern und vor häuslicher Gewalt und Verwahrlosung schützen können.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen alles tun, um den betroffenen Kindern aus ihrer hoffnungslosen Situation herauszuhelfen. Ich weiß, dass unser Gesetzentwurf Folgekosten mit sich bringt, und ich weiß, dass er Bürokratie auf- statt abbaut. Dennoch bin ich - gemeinsam mit meiner Fraktion - der festen Überzeugung, dass Handlungsbedarf besteht und dass wir unsere landesgesetzgeberische Kompetenz ausschöpfen müssen. Auf den Bundesgesetzgeber sollten wir nicht warten, zumal sich die Bundesfamilienministerin von der Leyen bereits im Dezember, aber auch heute Morgen wieder im Radio dagegen ausspricht, ärztliche Untersuchungen für Kinder zur Pflicht zu machen.

Das Thema Kindesvernachlässigung eignet sich nicht für parteipolitische Kontroversen. Deshalb ist es mir unverständlich, dass die große Koalition

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(Monika Heinold)

heute mit ihrer Initiative - wir haben den Berichtsantrag gelesen - unseren Gesetzentwurf erst einmal ein halbes Jahr in die Schublade legen will. Dieser Gesetzentwurf könnte, wenn wir ihn ordentlich beraten, bereits im Juli umgesetzt werden. Die große Koalition hingegen bittet die Landesregierung, erst einmal bis Juli zu prüfen, ob und wie gesetzliche Regelungen auf Landes- oder Bundesebene ein Lösungsansatz wären.

Meine Damen und Herren von CDU und SPD, eine Ministerin, die bereits im November 2005 öffentlich verbindliche Pflichtuntersuchungen gefordert hat, wird doch nicht sechs Monate brauchen, um zu prüfen, ob diese Aussage richtig war und ob sie umzusetzen ist.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Dr. Heiner Garg [FDP])

Ich verweise an dieser Stelle vorsorglich auf § 14 der Geschäftsordnung des Landtages, nach dem die Ausschüsse zu einer baldigen Erledigung der ihnen erteilten Aufträge verpflichtet sind. Ich erwarte, dass wir uns im Fachausschuss zügig mit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf beschäftigen. Die Lage der betroffenen Kinder ist zu ernst für großkoalitionäre Unentschlossenheit oder auch Taktierereien.

Es tut mir Leid, dass jetzt ein bisschen Schärfe in die Debatte gekommen ist. Vielleicht habe ich Ihren Antrag falsch verstanden. Aber so, wie ich Ihren Antrag lese, wollen Sie erst einmal warten, bis die Landesregierung im Juli etwas vorlegt, und dann in die Beratung einsteigen. Da sage ich ganz deutlich: So geht es nicht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich danke der Frau Abgeordneten Heinold und erteile für die CDU-Fraktion der Frau Abgeordneten Ursula Sassen das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unter dem Motto „Früher wahrnehmen schneller handeln - besser kooperieren“ wollen wir der zunehmenden Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern wirksame Maßnahmen entgegensetzen. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst hat auch die Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN dieses Problem aufgegriffen, wel

ches uns allen, allen Parteien bundesweit, unter den Nägeln brennt.

Fassungslos und mit dem schrecklichen Gefühl, dass auch in unserer Nachbarschaft ein Kind zu Tode gequält, sich selbst überlassen oder sexuell missbraucht werden könnte, ohne dass es jemand bemerkt hat oder bemerken will, werden wir mit der Brutalität des Lebens konfrontiert. Die Fragen an die Nachbarn, ob sie etwas bemerkt haben oder ob sie weggeschaut haben, mögen andere stellen. Wir, die Politik, müssen uns fragen, wo wir versagt haben. Ich sage Ihnen: Wir haben versagt.

Der Werteverfall unserer Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Macht, Geld, Egoismus und Lebensgier lassen oft keinen Raum für Kinder. Aber auch Verzweiflung, Überforderung, soziale Defizite, Empfindungslosigkeit, krankhafte Neigungen, finanzielle Not und Resignation führen zu Störungen der Sorgeberechtigten, die Kindern unsagbares Leid zufügen. Es ist eine unserer vordringlichsten Aufgaben, das Leid der Kinder zu lindern, Schaden abzuwenden und ihnen ein Leben zu ermöglichen, das ihnen die Chance gibt, ihre Zukunft angstfrei und eigenständig zu gestalten; denn Kinder sind unsere Zukunft.

Wir müssen aber auch darüber nachdenken, was die Politik tun kann, um Werte zu vermitteln und den Menschen wieder Zukunftsperspektiven zu geben. Toleranz ist eine wunderbare Eigenschaft, darf aber nicht als Ersatz für mangelnde Kritikbereitschaft, Sich-nicht-einmischen-Wollen und für Feigheit stehen. Zum Wohle der Kinder dürfen wir nicht wegschauen, wir müssen handeln.

Mit der Änderung des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst würden Eltern oder sonstige Sorgeberechtigte verpflichtet, ihre Kinder zwischen dem 21. und 24. Lebensmonat gesundheitlich untersuchen zu lassen. Diese Gesundheitsuntersuchungen - da sind wir uns einig - können ein Weg sein, um den Missständen zu begegnen.