Protocol of the Session on March 26, 2009

Zu unserem Gesetzentwurf: Hier möchte ich einer Fehlinterpretation entgegentreten, weil uns mehrfach vorgeworfen wurde, wir wollten, dass ab 2012, wenn das Gesetz in Kraft tritt, alle Kinder aus den Förderzentren mit einem Schwung in die Schulen geschickt werden. Das ist nicht so. Wir wollen keine Kinder neu in die Förderzentren aufnehmen. Das heißt, die Kinder, die neu in die Förderzentren kommen würden, sollen nach drei Jahren nicht mehr aufgenommen werden, sodass die Förderzentren auslaufen. Wir kommen dann natürlich auf einen Zeitraum, der bis 2018 oder 2020 reichen wird, wie es auch von der SPD gesehen worden ist. Ich sehe hier keine entscheidende Differenz. Wesentlich ist, dass wir jetzt die Rahmenbedingungen setzen, denn jetzt wird in den Schulen sehr viel investiert. Wenn jetzt Investitionen getätigt werden, dann ist es entscheidend, dass die Fragen der Inklusion auch bei den Umbauten, die an den Schulen stattfinden, berücksichtigt werden. Es darf nicht jetzt gebaut werden, und hinterher fängt man wieder von Neuem an.

(Anke Spoorendonk)

Das Gleiche gilt für die Lehrerbildung. Wenn wir Inklusion tatsächlich wollen, dann ist es ein kontinuierlicher Prozess, dass die Lehrer im Rahmen der Lehrerbildung darauf vorbereitet werden. Es ist selbstverständlich, dass dies in der Lehrerbildung und in der Lehrerausbildung geschieht. Das gilt auch für Flensburg. Das muss jetzt schon in die Curricula, denn wenn die Inklusion erst im Jahr 2018 kommt, dann muss es jetzt schon so sein, dass die Lehrer, die neu ausgebildet und in fünf Jahren in die Schulen kommen, als selbstverständlichen Teil der Lehrerbildung erfahren haben müssen, dass die Fragen der Integration und Inklusion jetzt schon behandelt werden.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Von daher geht es in unserem Gesetzentwurf nicht darum, in dem Gesetz einen beschleunigten Prozess vorzusehen. Ich habe in der Pressekonferenz ganz bewusst gesagt, dass es mir nicht um den Zeitplan geht. Ich glaube nicht, dass ich im Vergleich zu Frau Erdsiek-Rave eine Differenz in der Frage des Zeitplans habe. Es geht darum, jetzt verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen, auf die sich alle einstellen können, sodass die Weichen gestellt werden. Es geht darum, dass dieser Prozess heute schon begonnen wird, um sich darauf vorzubereiten, auf dass gerade nicht auftritt, dass Kinder zur Integration an gemeinbildenden Schulen geschickt werden, an denen die Lehrer völlig unvorbereitet sind. Dies passiert häufig noch, das muss man deutlich sagen.

Herr Kollege, Ihre Redezeit!

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Mir wird von Lehrern immer wieder gesagt: Jetzt kommen die Kinder, wir sollen Inklusion leisten. Wir sind nicht darauf vorbereitet, und wir sind nicht dafür ausgebildet. Das möchte ich in Zukunft nicht mehr haben, denn das ist auch nicht gut für die betroffenen Kinder.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Zu einem weiteren Kurzbeitrag nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter Andreas Beran das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es für notwendig erachtet, hier noch einmal nach vorn zu kommen, weil diese Kinder dann, wenn wir über sie und ihre Bildung reden, auch ein Anrecht darauf haben, dass auch über die Zeit vor der Schule geredet wird. Auch in dieser Zeit ist Bildung besonders wichtig. Das ist mir deshalb wichtig, weil ich im sozialpädagogischen Fachdienst arbeite und tagtäglich mit diesen Kindern zu tun habe. Vor der Schule sind die Integrationskindergärten zuständig. Vor der Schule findet die Frühförderung statt. Die Frühförderung greift oftmals viel zu spät ein. Gerade in diesem Bereich aber hätten wir eine sehr gute Chance, zu erreichen, dass diese Kinder künftig im normalen Schulsystem verbleiben können. Das heißt, je früher ich anfange, behinderte Kinder zu fördern, umso größer ist die Chance, nicht auf 45 % zu kommen, worauf einige stolz sind, sondern wirklich auf 85 %. Umso größer ist also die Chance, dass die Kinder in das normale Schulsystem kommen können, ohne dass sie - wie das früher hieß - zurück in den Sonderschulbereich müssen.

Das stigmatisiert Kinder. Das erleben wir auch, wenn wir mit den Kindern Gesamtpläne machen und feststellen müssen, dass sie - sowie die Kinder in solchen Einrichtungen sind - darunter leiden. Sie verlieren ihre Freunde. Wenn wir über Inklusion reden, dann sollten wir anfangen, auch darüber zu diskutieren, ob wir nicht noch mehr im Bereich der Frühförderung tun können. Das ist meine Bitte an die, die darüber im Ausschuss diskutieren werden. Können wir nicht noch mehr im Bereich der Integrationskindergärten tun? - Wenn wir das geschafft haben und den Kindern in diesem Bereich einiges mitgeben können, dann haben diese Kinder gute Chancen, sich nachher im normalen Schulsystem behaupten zu können.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Für die Landesregierung hat Frau Ministerin Ute Erdsiek-Rave das Wort.

(Karl-Martin Hentschel)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde heute nicht in die Einzelheiten des Gesetzentwurfs von den Grünen einsteigen. Ich finde, wir führen hier eine Grundsatzdebatte. Ich glaube, das ist zu diesem Thema auch angemessen. Wir reden im Grundsatz über die Situation und die Perspektiven von Kindern und jungen Menschen mit Behinderung und Benachteiligungen. Wir reden über die, die vor 20 Jahren noch „Hilfsschüler“ genannt wurden. Wir reden über die, die auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt in der Regel überhaupt keine Chance haben. Wir reden über die, die nach Verlassen der Schule in der Statistik als Schüler ohne Schulabschluss gezählt werden. Wir reden über Schüler an Sonderschulen für Lernbehinderte; bundesweit werden sie häufig noch so genannt. Dort sitzen zu zwei Dritteln Jungen. Wir reden über Kinder aus Migrantenfamilien und aus sozial benachteiligten Verhältnissen.

Gehen wir eigentlich davon aus, dass diese Kinder per se weniger intelligent und lernfähig sind? Weil sie Jungen sind? Weil sie Migranten sind? Was haben sie eigentlich auf einer Sonderschule für Lernbehinderte zu suchen? Das muss man sich doch fragen.

(Zurufe von der CDU und des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP])

- Lieber Wolfgang Kubicki, auf diesem Niveau setze ich mich mit dir nicht mehr auseinander.

(Beifall bei der SPD)

Wir reden darüber, wie die Gesellschaft mit diesen Kindern umgeht. Diese Kinder werden in Deutschland anders als in allen anderen europäischen Ländern - ich komme noch darauf zurück - mehrheitlich nicht integrativ beziehungsweise nicht inklusiv beschult. Warum ist das eigentlich in Deutschland so? Welche tief sitzenden Überzeugungen stecken eigentlich dahinter? Das fragt man sich. Ich glaube, es sind viele Vorurteile und auch viele falsche Annahmen, zum Beispiel, dass benachteiligte Kinder leiden und stärkere Kinder in einer gewissen Art und Weise heruntergezogen werden, wenn alle gemeinsam beschult werden. Das Prinzip der Inklusion ist in Deutschland einfach noch nicht das generelle Leitprinzip bildungspolitischen Handelns. So ist das.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Das ist der Grund dafür, dass wir dieses Jahr der inklusiven Bildung durchführen, übrigens infolge der UN-Konvention, die uns auffordert, genau über dieses Prinzip zu diskutieren, es in Deutschland bekannt zu machen. Das ist eine politische Verantwortung, die ich für mich sehe.

Inklusive Bildung meint doch etwas anderes als Integration. Sie meint einen anderen Blick, sie meint, dass sich die Schule an den Möglichkeiten und dem Bedarf jedes einzelnen Kindes orientieren und Fördermöglichkeiten schaffen muss. Eine inklusive Schule heißt alle Kinder willkommen, auch wenn sie Behinderungen körperlicher, geistiger oder seelischer Art oder wenn sie Lern- beziehungsweise Leistungsprobleme haben.

In Deutschland wird immer darüber gesprochen, was alles nicht geht oder nicht gehen kann. Ich sage Ihnen: Man muss die Voraussetzungen dafür schaffen, und dann ist es möglich. Das kann man weltweit betrachten.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Die UNESCO-Weltbildungskonferenz in Genf ist hier zitiert worden. Ich habe an ihr teilgenommen und die deutsche Delegation geleitet. Ich kann Ihnen sagen: Als deutsche Vertreterin musste ich mir einiges anhören, zum Beispiel die Frage: „Was sind eigentlich Sonderschulen für Lernbehinderte?“ Das gibt es im europäischen Ausland gar nicht. - „Ach, Sie meinen die Schüler, die langsamer lernen?“, wurde dann gesagt. „Und die stecken Sie in gesonderte Schulen?“ - Das rief ein absolut ungläubiges Staunen hervor, kann ich Ihnen sagen.

Ob es nun Schwellenländer sind oder Länder wie Kanada oder Schottland - ich könnte noch viele andere nennen -, überall ist die Inklusion Kern aller Reformen gewesen. Eine beliebte bildungspolitische Diskussionsfigur ist es, über Finnland zu reden, über die exklusiven Verhältnisse dort, über die Lernbedingungen, über die kleinen Klassen und die Personalbesetzung, nur mit dem Ziel, jeden Ansatz in dieser Richtung hier in Deutschland gleich kaputtzureden. Das ist meistens das Ziel solcher Beispiele.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Sie reden doch immer von Finnland!)

- Ich rede keineswegs immer über Finnland. Ich rede im Moment vom europäischen Ausland, wo es einen europäischen Benchmark gibt. Dieser lautet: 85 % integrative Beschulung. Ich rede über eine

Menschenrechtskonvention und nicht über Finnland!

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW - Zurufe von der FDP)

Natürlich gibt es in Finnland aus ganz bestimmten Gründen, über die wir uns gern einmal auseinandersetzen können, ganz besonders gute Bedingungen. Das ist allerdings wahr. Insoweit hinken wir auch hinterher. Ich bin die Letzte, die das nicht zugibt.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Welche Schwellen- länder gibt es eigentlich im europäischen Ausland?)

- Sie waren nicht da, lieber Herr Garg, aber ich hätte Ihnen gewünscht, dabei gewesen zu sein.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Wir uns auch!)

- Ich glaube nicht. - Gerade die Vertreter von Schwellenländern haben mit großer Überzeugungskraft gesagt: Wir haben einen ganz besonderen Bedarf für inklusive Bildung, in Bezug auf Mädchen, in Bezug auf Migrantenkinder, in Bezug auf Sinti und Roma, in Bezug auf geistig Behinderte.

Warum hat denn die schlimme Situation in Italien vor ungefähr 15 Jahren dazu geführt, dass man dort sämtliche Sonderschulen abgeschafft hat? Sie müssen sich schon ein wenig genauer mit diesen Dingen beschäftigen und sollten nicht aus irgendeiner Vorurteilsstruktur heraus dazwischenrufen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

Ich finde, wir können wirklich selbstbewusst sagen, dass wir auf dem Weg zu einer inklusiven Schule schon ein gutes Stück vorangekommen sein. Das ist übrigens ein sehr schwieriger Weg gewesen. Glaube niemand, dass das von heute auf morgen geschehen sei. Hierzu ist Überzeugungsarbeit notwendig gewesen, entsprechende Rahmenbedingungen sind gesetzt worden. Diese könnten besser sein. Ich bin die Letzte, die das nicht zugibt, Herr Dr. Klug. Selbstverständlich könnten sie besser sein. Darüber müssen wir reden, und dafür müssen wir immer wieder eintreten. Aber das Erreichte ist das Werk ganz vieler Menschen, die Überzeugungsarbeit geleistet haben. Eine von denen, die das getan haben, Christine Pluhar, sitzt dort hinten. Es ist wirklich eine Freude zu sehen, dass diese Arbeit auch Früchte trägt.

Wir haben - dies ist übrigens auch ein Beitrag zur Inklusion - die Zurückstellung der Kinder vom Schulbesuch in der Eingangsphase der Grundschule abgeschafft, wir haben das Sitzenbleiben erheblich

reduziert und mit der Gemeinschafts- und Regionalschule schon die Voraussetzungen für ein längeres gemeinsames Lernen und für eine Schule für alle geschaffen.

(Beifall bei SPD und SSW)

Wir haben die Bezeichnung „Sonderschule“ abgeschafft und durch die Bezeichnung „Förderzentrum“ ersetzt. Wenn man bösartig ist, kann man natürlich sagen: Ach, damit ist doch nur ein neues Schild an die Schule gehängt worden. Wir reden auch nicht mehr von Sonderschulbedürftigkeit, sondern von Förderbedarf. Dies bedeutet eine Umkehr der Blickrichtung. Das ist der Punkt. Damit vollzieht sich ein Wechsel im Denken. Förderzentren sind eben nicht mehr gleichbedeutend mit einer gesonderten Schulform, und es gibt auch jene, die hier schon zitiert wurden, die gar keine eigenen Schüler mehr haben.

Wir haben also schon große Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Aber selbstverständlich sind weitere Anstrengungen erforderlich. Inklusive Bildung ist ein Leitprinzip. Das ist kein Zustand, den man irgendwann erreicht hat und dann abhakt.

Ich werbe für einen Umgang mit diesem Thema, der auf die Fortsetzung der bisherigen Entwicklung setzt. Einen Zeitkorridor von zehn Jahren halte ich für realistisch, um den europäischen Standard zu erreichen und die Kinder aus dem Förderbereich lernen vollständig zu integrieren.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Henning Höppner [SPD])

Diese Zeit müssen wir den Lehrkräften und unseren Schulen geben; denn wir wollen ja, dass dieser Prozess eine gute Qualität hat und dass er auch von allen Beteiligten mitgetragen wird.

Drei Jahre sind in der Bildungspolitik eine sehr kurze Zeit.

(Zuruf der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir brauchen weitere Verbesserungen der Infrastruktur an den allgemeinbildenden Schulen. Was die Barrierefreiheit angeht, bietet vielleicht das aktuelle Konjunkturpaket eine Chance, diesbezüglich etwas zu tun. Das betrifft auch die Ausstattung der Gebäude oder die Ausstattung mit Hilfsmitteln. Außerdem müssen wir den Personaleinsatz dort, wo Kinder mit Behinderungen aufgenommen werden, so planen, dass kleinere Lerngruppen gebildet werden können. Im Zweifel ist das mit zusätzlichen Stellen und mit zusätzlichen Kosten verbunden.

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)