- Das wird ja immer besser. Wir schaffen die Hauptschulen ab. Wir lassen sie auslaufen, um die Schülerinnen und Schüler aus einem weitgehend isolierten Lernumfeld herauszuholen, das oft schon sehr früh von Perspektivlosigkeit gekennzeichnet ist.
Nun ist mit der Abschaffung einer Schulform natürlich nichts von vornherein gewonnen, aber die Abschaffung eines isolierten Milieus, in dem keine anregende Lernumgebung herrscht, in dem die besseren Schüler die anderen nicht mitziehen, ist mittlerweile in seiner Notwendigkeit ziemlich klar geworden. Das ist nicht nur den Bildungspolitikern klar geworden, das ist auch den Bildungsforschern und denen deutlich geworden, die sich in der Wirtschaft zu Bildung äußern.
Dabei muss uns der Erfolg dieser Schülerinnen und Schüler besonders wichtig sein. Das sind nicht von vornherein Problem- und Risikoschüler. Nein, das sind junge Menschen, die wir in unserer Gesellschaft brauchen und die ein Recht darauf haben, dass man ihnen Mut macht, dass man sie aufbaut und dass man sie nicht abschiebt und ihnen das Gefühl gibt, geborene Verlierer zu sein. Fragen Sie einmal junge Menschen nach dem vierten Schuljahr, die schon zu diesem Zeitpunkt wissen, sie kommen in die Hauptschule. Sie verstehen sich von vornherein als Verlierer dieser Gesellschaft, und zwar einfach nur durch dieses Stigma, das sie inzwischen glauben, durch den Hauptschulbesuch zu haben. Bei aller Vorsicht der Interpretation, auf die ich selbst hingewiesen habe; eines kann man auch aus den sehr guten Ergebnissen der östlichen Bundesländer lernen: In leistungsgemischten Gruppen profitieren alle Kinder.
Umgekehrt gilt: Eine Konzentration von Migranten, von benachteiligten und von lernschwachen Schülern in einer Schulform bewirkt das Gegenteil. Was ist das für ein elendlanger Lernprozess, der da in der Bildungspolitik abgelaufen ist!
Inzwischen kann aber niemand mehr die Augen davor verschließen. Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass wir mit der neuen Schulstruktur in Schleswig-Holstein auf dem richtigen Weg sind. Über die Schulgesetzänderung hinaus haben wir gerade für diese Schülerinnen und Schüler vieles auf den Weg gebracht, weil wir nicht warten können, bis die Schulstruktur wirklich umgesetzt ist. Ich nenne hier als Beispiele die vorschulische Sprachförderung, das Projekt „Niemanden zurücklassen“ oder auch
das Handlungskonzept Schule & Arbeitswelt. Insgesamt sind natürlich auch die zusätzlichen Bildungsinvestitionen ein starkes Signal an die jungen Menschen in unserem Land, das muss ich nicht weiter ausführen. Wir haben das hier ausführlich getan.
Meine Damen und Herren, nutzen wir mit PISA also weiterhin die Chance, für weitere Kraftanstrengungen zu werben, sie selbst zu unternehmen und uns auf diesem eingeschlagenen Weg weiter zu verbessern. In erster Linie heißt das, die Perspektive von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Hier sind letztlich alle gefragt, so viel wie möglich dazu beizusteuern; das Land selbst und auch der Bund. Ich erinnere noch einmal an die Debatte zum Bildungsgipfel. Wenn wir das schaffen wollen, was dort als Perspektive angelegt ist, dann muss der Bund dabei mit unterstützen. Das gilt auch für die Kommunen und für die Wirtschaft.
Der sogenannte PISA-Schock des Jahres 2000 hat uns allen vor Augen geführt, dass die Selbstwahrnehmung, die wir in Sachen Bildungsqualität immer hatten, trügerisch war. Er war im wahrsten Sinne des Wortes eine Enttäuschung. Das Gute an Enttäuschungen ist, dass sie den Blick frei machen für die Realitäten. Hören wir auch auf Professor Prenzel, der uns zu einem gelasseneren Umgang mit den Studien rät.
Lassen Sie mich ganz zum Schluss sagen: PISA ist nicht das Maß aller Dinge. Bildung ist mehr als die getestete Kompetenz. Bildung bedeutet Demokratiefähigkeit, Urteilsvermögen und die Aneignung von Werten. Es wäre fatal, wenn wir das aus den Augen verlieren würden, denn die Zukunft unseres Landes hängt mindestens in gleichem Maße auch davon ab.
Ich danke der Frau Ministerin für ihren Bericht. Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug für die antragstellende FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit der vorletzten PISA-Studie, die 2003 durchgeführt wurde, ist Schleswig-Holstein nicht vorangekom
men. Andere Bundesländer haben seither deutlich größere Fortschritte bei den Leistungen der 15-Jährigen Schüler aufzuweisen. Dies erklärt, weshalb Schleswig-Holstein in der Rangtabelle der Bundesländer im Testbereich Lesen von Platz 5 auf Platz 12 abgerutscht ist. In der Mathematik rutschten die Schüler in Schleswig-Holstein von Platz 7 auf Platz 11 ab.
Für diese Entwicklung dürfte es mehrere Ursachen geben. Eines aber ist klar: Die Schulpolitik der schleswig-holsteinischen Regierungen war vor und nach dem Wechseljahr 2005 - also genau in dem Zeitbereich zwischen der zweiten und der dritten PISA-Studie von 2003 bis 2006 - auf nichts so sehr fixiert wie auf das Thema Schulstrukturreform. Sie sollte der Heilsbringer sein.
Frau Erdsiek-Rave predigt diese Zukunftsverheißung auch heute noch, wir haben es eben gehört. Eine Bildungspolitik nach dem Motto: Wir machen eine Schulstrukturreform, und in einigen Jahren sind die Schüler dann gebildeter, wird aber sicher genauso scheitern wie entsprechende Rezepte in anderen Politikbereichen. Man denke etwa an eine Gesundheitsministerin, die unter dem Motto antreten würde, wir machen eine Gesundheitsstrukturreform, und in einigen Jahren sind die Leute dann gesünder. Keine Gesundheitsministerin käme wohl auf die Idee, den Bürgern eine solche Losung zu verkaufen.
- Ja, ich weiß, Sie sind da andere Meinung, aber das traue ich Frau Trauernicht dann doch nicht zu, Herr Garg. Für die schleswig-holsteinische Bildungsministerin ist aber genau das in ihrem Bereich angesichts kritischer Befunde wie beim aktuellen PISALändervergleich die Standardausrede. Ich nenne das eine technokratische Illusion. Die weit überwiegende Mehrheit der schleswig-holsteinischen Bürgerinnen und Bürger teilt diese Skepsis. Die Bildungspolitik dieser Landesregierung wird so negativ und so kritisch bewertet wie kein anderer Politikbereich der Landespolitik.
Zu den unerfreulichen Ergebnissen des neuen PISA-Ländervergleichs gehört auch folgender Umstand, mit dem ich ein bisschen mehr in die Details der Untersuchungsergebnisse einsteigen möchte. Die sogenannte Risikogruppe der Schüler, die Texte kaum sinnentnehmend lesen können, ist mit knapp 25 % noch fast genauso groß wie beim ersten PISA-Ländervergleich aus dem Jahr 2000. Damals waren es in Schleswig-Holstein 26,5 %. Viele Bun
desländer haben dagegen gerade in diesem Bereich den Anteil der Problemfälle in ihrer Schülerschaft deutlich verringern können. Das hebt in anderen Bundesländern auch den jeweiligen Landesschnitt.
Wir liegen mit unserem Anteil - wie gesagt: PISAStudie, Ländervergleich 2006 - mit knapp 25 % Anteil der Risikogruppe auf dem drittletzten Platz. Nur die Stadtstaaten Bremen und Hamburg haben noch schlechtere Werte, liegen nämlich im 27erBereich. Selbst das Bundesland Berlin, die Bundeshauptstadt, hat in diesem Bereich Risikogruppe einen prozentual geringeren Anteil als SchleswigHolstein. Das ist eine katastrophale Situation.
Das ist die Seite 113 in dem Buch des PISA-Konsortiums. Da sind die Prozentzahlen der Risikogruppen genau ausgewiesen.
Zweiter Punkt: Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz der Schüler. Das ist die Entwicklung des „sozialen Gradienten“, der erklärt, in welchem Maß das Leistungsergebnis durch die soziale Herkunft der Schüler geprägt und bestimmt wird - Seite 332 in der Buchveröffentlichung. Auch das können Sie nachlesen. Hier hat es in Schleswig-Holstein seit dem Jahr 2000 praktisch keine Verbesserung gegeben. Der Punktwert ist von 46 auf 44 kaum zurückgegangen, während er sich in Niedersachsen von 46 auf 35, in Sachsen von 35 auf 31 verbessert hat. Das heißt, der Rückgang der Auswirkung der sozialen Herkunft auf das Bildungsergebnis zeigt in anderen Bundesländern deutlich bessere Ergebnisse - in Schleswig-Holstein auch hier seit der ersten PISA-Studie Stillstand. Das ist wirklich das größte Debakel sozialdemokratischer Bildungspolitik in Schleswig-Holstein.
Die sozialdemokratische Bildungspolitik erhebt den Anspruch, den Schwächeren und Benachteiligten in besonderer Weise helfen zu wollen. Sie erreicht in der Schulwirklichkeit dieses Landes nichts als Stillstand. Die neue PISA-Studie bescheinigt gerade hier der Bildungspolitik von Ministerin Ute Erdsiek-Rave ein Totalversagen.
Ich erinnere daran: Die 2006 beim PISA-Ländervergleich getesteten 15-jährigen Schüler sind im Regelfall 1997, in einzelnen Fällen vielleicht auch erst 1998 eingeschult worden, also in das erste Schuljahr gekommen. Das ist also die „Generation Ute“, die ihre gesamte Schulzeit in Schleswig-Holstein unter der politischen Verantwortung der am
tierenden Bildungsministerin verbracht hat. Deshalb ist es auch kein Wunder, wenn Frau ErdsiekRave heute angesichts so miserabler Befunde in der PISA-Studie nichts anderes machen kann, als die Leute auf bessere Zeiten in der Zukunft zu verweisen.
Die Altersgruppe, die im Blickpunkt der PISALeistungsvergleiche steht, zählt im Übrigen in Schleswig-Holstein in besonderer Weise zu den Verlierern der Schulpolitik dieses Landes. Jeder, der sich mit dem Thema Schule beschäftigt, weiß, dass die Unterrichtsversorgung in den Jahrgängen, um die es hier geht, also den Jahrgängen in der Sekundarstufe I und insbesondere in den „auslaufenden“ Jahrgängen der alten Schularten, aber auch in den durch hohe Schülerzahlen überfüllten Gymnasien, besonders schlecht ist. Finanzminister Wiegard hat das am 3. Dezember 2008 in seinem Interview im „Flensburger Tageblatt“ ganz offen eingeräumt, als er festgestellt hat:
„Dass wir uns bei der Unterrichtsversorgung an der unteren Grenze dessen bewegen, was nötig wäre, ist nicht zu bestreiten …“
So Rainer Wiegard. Blickt man in die Analysen der Wissenschaftler, die die neue PISA-Studie durchgeführt haben, wird außerdem deutlich, dass es auch auf die Art des Unterrichts ankommt, nicht nur auf den Umfang des Unterrichtsangebots. Ich möchte dazu folgendes Zitat anführen. Da heißt es:
„In allen Ländern erreichen Schülerinnen und Schüler, deren Naturwissenschaftsunterricht traditionell ausgerichtet ist, höhere Testleistungen (zwischen 20 und 52 Punkte) als Schülerinnen und Schüler, die Unterricht des Musters globale Aktivitäten erhalten …“
Dieser Unterricht mit den globalen Aktivitäten macht den Schülern, wie dann gesagt wird, zwar mehr Spaß, aber sie lernen weniger. Oh Wunder!
Am Erfolgreichsten ist nach Aussage der PISAForscher übrigens Unterricht, bei dem das Schlussfolgern aus Experimenten, das Generieren eigener Ideen und das Übertragen von wissenschaftlichen Konzepten auf den Alltag häufiger vorkommt. Das ist auch nicht erstaunlich. Oder etwa doch?
Am Erstaunlichsten ist aber, dass den Schulen in Schleswig-Holstein vonseiten der hiesigen Bildungsobrigkeit immer wieder - etwa in einschlägigen Belehrungen, in EVIT-Berichten - das Fit-forFun-Rezept eines durch globalgalaktische Aktivitäten geprägten Unterrichts geradezu gepredigt wird.
Es wird kritisiert, wenn diese Unterrichtsmodelle an den Schulen fehlen. Sie können EVIT-Berichte quer durch das Land lesen, und Sie werden darauf stoßen.
Solange es diesen misslungenen „Schul-TÜV“, den wir als FDP abschaffen wollen, noch gibt, sollte man vielleicht erst einmal die EVIT-Gutachter zu einer Fortbildung schicken, damit sie den Schulen künftig keine Unterrichtskonzepte mehr empfehlen und nahelegen, die nach dem Befund der PISA-Forscher die schlechtesten Ergebnisse von allen Unterrichtskonzepten hervorbringen.
Gute Unterrichtsangebote und gezielte Förderung zum Ausgleich von Schwächen - mit diesen Instrumenten bestreiten die besten Länder bei Bildungsvergleichen ihren Erfolg. Sachsen hat die Leseförderung seit Jahren zum durchgängigen Prinzip gemacht, das Land unterstützt die Einrichtungen von Schulbibliotheken und Leseecken, es führt Ferienkurse und andere Fördermaßnahmen für schwächere Schüler durch, und siehe da: Der Rückgang der Risikogruppe von 19 auf unter 12 % ist in Sachsen ein toller Erfolg, hebt in wunderbarer Weise das Landesergebnis.
Ein Blick auf die Grundschulstudie IGLU. Der Testsieger Thüringen hat es erreicht, dass in den Grundschulen schon so viele Ganztagsangebote eingerichtet sind, dass 70 % der Grundschüler in Thüringen heute eine betreute Hausaufgabenhilfe bekommen.
Deshalb sage ich noch einmal: Das sind die Ansätze, die erkennbar wirken. Das bloße Versprechen auf die Heilwirkung einer anderen Schulstruktur bleibt das leere Versprechen, das Sie den Bürgerinnen und Bürger dieses Landes jetzt seit Jahren servieren.